Leitartikel

Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe – ein Überblick

Im sozialstaatlichen Gefüge zählt die Kinder- und Jugendhilfe als eine zentrale Aufgabe. Um diese erfüllen zu können und weiterhin als Profession handlungsfähig zu bleiben, bedarf es dringend an ausreichend und qualifiziertem Fachpersonal sowie an zukunftsträchtigen Strategien gegen den Fachkräftemangel in den Sozialberufen. Für unsere Artikelreihe zum Thema „Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe“ widmet sich die Autorin Sophie Westerheide diesem Thema.

19.12.2023

Die gute Nachricht zuerst: zwischen 2006 und 2019 stiegen die Beschäftigungszahlen in der Kinder- und Jugendhilfe stark an. Somit war laut Statistischem Bundesamt in den unterschiedlichen Bereichen in diesem Zeitraum ein Zuwachs von 67% zu verzeichnen, was 950.000 Personen entspricht. Wie dem aktuellen „Fachkräftebarometer Frühe Bildung“ des WiFF zu entnehmen ist, gab es von 2007 bis 2022 alleine im KiTa Bereich einen Zuwachs an Beschäftigten von 7%. Jedoch deckt das Angebot den Bedarf in den 38.785 Jugenhilfeeinrichtungen (Stand 2020) nicht. Wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in seinem Kurzbericht von August 2022 bekannt gab, ist die Sozialarbeit trauriger Spitzenreiter der Fachkräftelücke mit 20.600 Stellen. Direkt gefolgt von Erzieher*innen mit einer Lücke von 20.500 vakanter, nicht zu besetzender Stellen. Das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA) berichtete im Juni 2023 in seinem Fachkräftereport davon, dass im Bereich „Gesundheit, Soziales, Lehre und Erziehung“ sechs von zehn offenen Stellen, sprich 56,4%, nicht besetzt werden konnten. Als Fachkräftelücke wird dabei die Differenz der offenen Arbeitsstellen bezeichnet, die nicht durch passende Arbeitssuchende besetzt werden können. Zur Berechnung werden zum einen gemeldete offene Stellen der Bundesagentur für Arbeit, zum anderen Meldequoten der IAB – Stellenerhebung hinzugezogen. Zusätzlich zu den sozialversicherungspflichtig tätigen Personen sind es Ehrenamtler*innen, die in der Kinder- und Jugendhilfe zusätzlich wertvolle Arbeit leisten. Auch hier gab es gravierende Rückgänge und eine Minderung um 44%. Während der Coronapandemie waren es laut KomDat Heft 1/23 im Jahr 2019 noch eine Anzahl von 563.466 ehrenamtlichen Engagierten, im Vergleich dazu im Jahr 2021 nur noch 317.364.

Wo liegen die Ursachen der Krise?

Die Gründe für den Mangel an passendem Personal in der Jugendhilfe sind gleichermaßen auch die Herausforderungen und andersherum. Wenn gestiegene Fallzahlen auf einen ohnehin vorhandenen Fachkraftmangel stoßen, geraten Arbeitnehmer*innen immer weiter an ihre Grenzen. Dort wo geholfen, getröstet, unterstützt, beraten und geschlichtet wird, besteht ein besonders hohes Erschöpfungs- und Burn-Out-Risiko. Zu diesem Ergebnis kam die Studie „Professionelle Krise nach Corona? Steuerungsbedarf in der Sozialen Arbeit nach der Pandemie“, welche im November 2022 von der Hochschule Fulda gemeinsam mit ver.di durchgeführt wurde. Im Ergebnis der Befragung gaben 77,2% der 8.210 Teilnehmer*innen an, nicht bis zur Rente im Bereich der Sozialen Arbeit tätig bleiben zu wollen. Im ASD, sowie in der ambulanten und stationären Jugendhilfe herrscht eine hohe Fluktuation, da aufgrund von hoher Verantwortung schnell die eigene Belastungsgrenze erreicht wird. Zwischen Helfen und Kontrollieren, Abwägen und Entscheiden verzichten 42,4% der Befragten regelmäßig auf ihre gesetzlich zustehenden Ruhepausen. Zudem gibt es unter Zeit- und Dokumentationsdruck weder Raum zur Reflexion des eigenen professionellen Handels, noch finanzielle Möglichkeiten für Supervision oder Luft, um das Erlebte zu verarbeiten. Ein ständiges Spannungsverhältnis zwischen der fachlichen Notwendigkeit und den vorhandenen finanziellen Möglichkeiten erhöht ebenfalls den Druck auf das Personal. Doch zu den Arbeitsbelastungen in diesem Arbeitsfeld tragen keinesfalls nur die Fälle vor Ort bei, sondern auch externe Faktoren wie zum Beispiel politische Entscheidungen erhöhen den Druck auf die Mitarbeiter*innen. Budgeteinsparungen – wie zum Beispiel mögliche Kürzungen am Kinder- und Jugendplan des Bundes (KJP) – aber auch Neuerungen wie das 2021 eingeführte Kinder- und Jugendstärkungsgesetz oder die geplante Einführung des Anspruchs auf Ganztagsbetreuung gezwungenermaßen tragen zu einer höheren Beanspruchung des Personals bei.

Folgen von demografischem Wandel und geringer Entlohnung

Die hohe Arbeitsbelastung im Sektor der Sozialen Arbeit ist nicht die einzige Ursache für den Fachkräftemangel, auch der demografische Wandel ist es, der dieser Sparte zu schaffen macht. Die Generation der Babyboomer erreicht zunehmend das Rentenalter, gleichzeitig zeichnet sich bereits seit Jahren ein Geburtenrückgang ab und sorgt somit für eine älter werdende Gesellschaft mit weniger Erwerbstätigen. Zur Veränderung der Alterspyramide gibt es einen prozentualen Anstieg der jungen Menschen, die keiner Arbeit nachgehen. Laut einer OECD Studie aus dem Herbst 2022 beträgt diese Zahl 10%, dies entspricht 590.000 der 18-24 Jährigen. Eine geringe Entlohnung bei hoher Arbeitsbelastung lassen die unterschiedlichen Felder der Kinder- und Jugendhilfe unattraktiv wirken und tragen dazu bei, dass es weniger Einsteiger*innen und mehr Abwanderung in der Sozialen Arbeit gibt. Trotz der hochgelobten Systemrelevanz liegen die Gehälter in den Sparten der Kinder- und Jugendhilfe nach wie vor, gerade bei den freien Trägern, immer noch unter den Tarifverträgen der öffentlichen Träger.

Fachkräftemangel variiert je nach Region

Um zukünftig zu verhindern, dass Kitagruppen geschlossen bleiben müssen, Wohngruppen aufgrund von fehlendem Personal nicht mehr belegt werden können oder Inobhutnahmestellen keine Anschlussversorgung finden, müssen dringend weiteren Anstrengungen unternommen werden, um zusätzliches Fachpersonal auszubilden oder zu(rück zu)gewinnen. Scheitern diese Bemühungen, entsteht alleine in Westdeutschland in der Kindestagesbetreuung bis zum Jahr 2025 eine Fachkraftlücke von von 72.500 Personen, so das Deutsche Jugendinstitut (DJI). Für Ostdeutschland hingegen sehen die Zahlen wiederum anders aus. Für diese Region wird davon ausgegangen, dass bis zum Jahr 2030 sogar weniger Personal benötigt wird, als derzeit tätig ist. Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ legte 2018 in ihrem Positionspapier zum Thema Personalentwicklung dar, dass bis Mitte der 2020 Jahre in der Kinder- und Jugendarbeit 21.500 Fachkräfte notwendig wären, im ASD 2.800 Mitarbeiter*innen, sowie in den Hilfen zur Erziehung 16.000.

„Damit kann bis 2025 eine Lücke von etwa 105.000 pädagogischen Fachkräften vorausgesagt werden. Würde man für die Handlungsfelder außerhalb der Kindertagesbetreuung noch die dort bereits berücksichtigten Ersatzbedarfe für dauerhaftes Ausscheiden aus dem Feld aus anderen Gründen als das Erreichen des Rentenalters hinzuzählen, dann würde die Fachkraftlücke um weitere 20.000 auf 125.000 bis 2025 anwachsen.“

(Arbeitsgemeinschaft der Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) (2018): Dem wachsenden Fachkräftebedarf richtig begegnen! Entwicklung einer Gesamtstrategie zur Personalentwicklung mit verantwortungsvollem Weitblick. Positionspapier).

Neue Instrumente zur Personalgewinnung

Um diese Entwicklung aufzuhalten und ihr ein Stück weit entgegenzuwirken, werden unter anderem Ausbildungsgänge neu strukturiert oder Maßnahmen geschaffen, um Fachkräfte zu aquirieren und/oder zu binden. Unter anderem hat der Bundestag im Juni 2023 das „Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung“ beschlossen. Dieses Gesetz beinhaltet Instrumente zur Gewinnung von Personal und soll ausländischen Fachkräften den Einsteig ins Erwerbsleben erleichtern. Im oben genannten Gesetz wurde in die Liste der „Engpassberufe“ für die „Blaue Karte EU“ neben anderen Berufen „Lehr- und Erziehungskräfte im schulischen und außerschulischen Bereich“ aufgenommen. Des Weiteren besteht seit 2020 die Möglichkeit für die schulische Ausbildung zum*zur Erzieher*in das „Aufstiegs – BaFög“ zu beantragen um somit Interessierten den Einstieg in die Ausbildung zu erleichtern und diese attraktiver zu gestalten.

Langfristige Sicherung der Bedarfe

Mittlerweile gibt es freie Träger oder private Anbieter, die ihre vakanten Stellen mit mehr Benefits als einem „Obstkorb“ bewerben und bieten unter anderem eine Einstiegsprämie, eine Prämie für das Einspringen, Gesundheitsangebote während der Arbeitszeit sowie Supervision und finanzierte Fortbildungsmöglichkeiten. Arbeitserleichterungen wie Gleitzeitmodelle oder die Möglichkeit zum Home Office gehören mittlerweile bei einigen Arbeitgebern zur Normalität. Generell sind die 2023 erfolgreich abgeschlossenen Tarifverhandlungen für die Soziale Arbeit ein Schritt in die richtige Richtung der angemessenen Entlohnung, für eine Branche die als systemrelevant anzusehen ist. Damit die Jugendhilfe weiterhin handlungsfähig bleibt und einer De-Professionalisierung vorgebeugt wird, sind jedoch weitere Kraftanstrengungen von Nöten. Somit müssen von politischer Seite dringend Strategien entwickelt werden, wie der qualitative als auch quantitative Bedarf an Hilfe und Betreuung langfristig durch ausreichend Fachpersonal sichergestellt werden kann, so dass eine funktionierende Kinder- und Jugendhilfe weiterhin als zentrale Aufgabe gewährleistet bleibt!

Autorin: Sophie Westerheide, Diplom Pädagogin und freie Autorin

Artikelreihe vom Portal der Kinder- und Jugendhilfe

In unserer Artikelreihe befassen wir uns mit dem Thema „Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe“. Dabei betrachten wir die gegenwärtige Situation, die Auswirkungen des Personalmangels und fragen nach Möglichkeiten, dieser Herausforderung zu begegnen. 

Weitere Artikel der Reihe:

Redaktion: Sofia Sandmann

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