Entwicklungen & Maßnahmen

Personalbedarf in der Kinder- und Jugendhilfe

Dass in der Kinder- und Jugendhilfe in vielen Bereichen ein Fachkräftemangel herrscht, ist ein offenes Geheimnis. Die Ausmaße sind dabei sowohl regional innerhalb von Deutschland als auch je nach Bereich der Kinder- und Jugendhilfe unterschiedlich. Der Beitrag von Christine Bertschi in unserer Artikelreihe „Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe“ gibt einen Überblick über Entwicklungen, Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel und Prognosen für die nächsten Jahre.

19.12.2023

Die Kinder- und Jugendhilfe ist im Sozialgesetzbuch (SGB VIII) gesetzlich verankert. Doch um handlungsfähig zu sein und zu bleiben fehlt es vielerorts an Personal für Angebote der Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit und des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes, aber auch für die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und für Hilfen zur Erziehung.

Die Kinder- und Jugendhilfe ist in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten stetig gewachsen. Das Deutsche Institut für Urbanistik sprach im März 2023 von einer Verdoppelung der Fachkräfte im sozialen Bereich. Doch dies reicht nicht, um den gleichzeitig noch stärker wachsenden Bedarf abzudecken: Vor zehn Jahren wurde ein Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für unter Dreijährige eingeführt, der zunehmend eingefordert wird. Die Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter wird laufend ausgebaut und ab 2026 wird auch darauf ein Rechtsanspruch bestehen. Die Jugendhilfe wurde zuletzt durch Corona und viele Geflüchtete zusätzlich stark beansprucht.

Das Institut der deutschen Wirtschaft schrieb in seinem Kurzbericht mit dem Titel „Die Berufe mit den größten Fachkräftelücken“ im Sommer 2022:

„Einige Berufe stechen beim Fachkräftemangel deutschlandweit am deutlichsten hervor. Unter den zehn Berufen mit den größten Fachkräftelücken sind fünf dem sozialen beziehungsweise dem Gesundheitssektor zuzuordnen. Dazu zählt die Berufsgruppe der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, in der es im Jahresdurchschnitt 2021/2022 die größte Fachkräftelücke gab (Abbildung). Der Fachkräftemangel an sozialpädagogischen Expertinnen und Experten erreicht inzwischen einen traurigen Rekord: Von den bundesweit knapp 26.500 offenen Stellen gab es für knapp 20.600 keine passend qualifizierten Arbeitslosen – so groß war der Mangel nie zuvor. Diese Fachkräfte fehlen beispielsweise bei der Berufseinstiegsbegleitung, in der Schulsozialarbeit, in Jugend-, Kinder- und Altenheimen oder in der Suchtberatung, also überall dort, wo Menschen persönliche Begleitung für die Lösung sozialer Probleme benötigen. Tätigkeitsfelder, die in der Corona-Pandemie noch wichtiger geworden sind. Fast genauso groß war die Fachkräftelücke mit knapp 20.500 Stellen, die rein rechnerisch nicht besetzt werden konnten, bei den Erzieherinnen und Erziehern. Auch hier erreichte der Fachkräftemangel einen Rekordwert.“

Mittlerweile liegen die Zahlen für 2022 vor und zeigen: Die Fachkräftelücke ist sowohl bei Sozialpädagogik/Sozialarbeit weiter gewachsen (23.117 offene Stellen, die aus Mangel an qualifiziertem Personal rechnerisch nicht besetzt werden konnten) als auch bei den Erzieher*innen (22.467 fehlende Fachkräfte). Die beiden Berufsfelder liegen weiterhin auf den beiden ersten Plätzen.

Differenzierte Prognosen für Kindertagesbetreuung

Das Deutsche Jugendinstitut e.V. (DJI) konstatiert, dass die momentanen Bemühungen nicht ausreichen, um den Personalbedarf in der Kindertagesbetreuung in den nächsten Jahren zu decken, „da bereits in den vergangenen etwa 15 Jahren vielfältige Maßnahmen zur Fachkräftegewinnung erfolgt sind, die mittlerweile nahezu ausgeschöpft sein dürften.“ Der Ausbau der Ganztagsbetreuung in der Grundschule könne darüber hinaus dazu führen, dass Fachkräfte künftig in diesen Bereich abwandern.

Es zeigen sich dabei eklatante Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. In den neuen Bundesländern sei aufgrund der traditionell hohen Inanspruchnahmequote der Kindertagesbetreuung in Kombination mit rückläufigen Kinderzahlen nur noch ein geringes Personalwachstum erforderlich. Dies rechnet das DJI vor, merkt aber an: „Für Ostdeutschland bietet sich dadurch die Chance, nachhaltig in Qualitätsverbesserungen zu investieren – beispielsweise um die immer noch schlechteren Personalschlüssel im Vergleich zu den westdeutschen Ländern anzugleichen.“

Rechtsanspruch auf Hort fordert neue Stellen

Mit dem bereits erwähnten Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter ab 2026 müssen neue Stellen geschaffen werden. In einer im Herbst 2021 veröffentlichten Studie geht das Deutsche Jugendinstitut davon aus, dass bundesweit dafür noch rund 35.000 Vollzeitstellen zusätzlich benötigt werden. „Da in diesem Bereich jedoch von einem hohen Teilzeitanteil auszugehen ist, müssten dafür bis zum Schuljahr 2029/30 rund 57.000 Personen gewonnen werden“, so das DJI.

Inobhutnahme-System vor dem Kollaps

Die Fachgruppe Inobhutnahme der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen, Sektion Deutschland der Fédération Internationale des Communautés Educatives FICE e.V. (IGFH) etwa erklärt in ihrem Positionspapier vom 05.12.2022:

„Das Inobhutnahme-System steht vor dem Kollaps. Die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe kann dringende Hilfebedarfe kaum bis gar nicht mehr bedienen.“

Aus vielen Kommunen werde berichtet, dass der Kinderschutz durch die Personalsituation gefährdet sei. Manche Kinder und Jugendliche können, so die Fachgruppe Inobhutnahme, nur unter enormem Aufwand und nicht zu idealen Bedingungen in Obhut genommen werden. Weil zum Beispiel Wohngruppen aufgrund von Fachkräftemangel geschlossen wurden – und so die Kinder- und Jugendhilfe an diesem Punkt ihren Auftrag nicht erfüllen könne. Daraus resultiere, dass das Jugendhilfesystem in einen Teufelskreis gerate: Wenn bedarfsgerechte Anschlusshilfen fehlen und die Kinder und Jugendlichen nicht ausreichend begleitet werden können, kann sich deren Situation verschlechtern – und der Betreuungsaufwand steigt zusätzlich.

Die IGFH fordert ein Maßnahmenpaket gegen den Fachkräftemangel, angefangen mit Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, um die vorhandenen Mitarbeitenden zu halten. Gleichzeitig müsste das Fachkräftegebot erweitert werden und die Aufnahme angrenzender Berufsgruppen sei zu prüfen. Auch eine beschleunigte Zulassung ausländischer Fachkräfte sei angezeigt und geeignete Personen mit Auflagen zur Nachqualifikation seien gezielt zuzulassen. Die Herausforderung bestehe darin, gleichzeitig die Standards aufrechtzuerhalten und die Rechtsansprüche auf Inobhutnahme und Hilfen zur Erziehung zu sichern.

Fachkräftegebot als Auslegungssache

Das von der IGFH erwähnte Fachkräftegebot ist die Regelung im Sozialgesetzbuch (§ 72 SGB VIII), die bestimmt, wer als „Fachkraft“ in der Kinder- und Jugendhilfe gilt und welche Voraussetzungen dafür zu erfüllen sind. Einerseits wird dafür eine persönliche Eignung gefordert, andererseits eine der „Aufgabe entsprechenden Ausbildung“ oder „besondere Erfahrungen in der sozialen Arbeit“. In Anbetracht des Fachkräftemangels plädieren viele Stimmen dafür, den Interpretationsspielraum, den das Fachkräftegebot bietet, zu nutzen. Das Deutsche Institut für Urbanistik schreibt etwa: 

„Eine hohe Fachlichkeit ist wichtig. Es sollte bei der aktuellen Notlage aber vorrangig darum gehen, zu definieren, welche Kompetenzen in welchen Einrichtungen gebraucht werden, ohne Standards abzusenken und gleichzeitig ohne auf „Fachlichkeit“ aus Prinzip zu beharren. Es geht um stärker inhaltlich statt formal definierte Aufgabenprofile und das Arbeiten in multiprofessionellen Teams.“

Qualifizierung und Quereinstieg

Ein Quereinstieg kann – je nachdem, wie weit der ursprüngliche Beruf bzw. die Ausbildung von der Kinder- und Jugendhilfe entfernt ist – recht unkompliziert erfolgen. Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ betont in ihrer Publikation zum Fachkräftegebot und Fachkräftegewinnung, dass die Quereinsteigenden mit ihrer bewussten Entscheidung eine sehr hohe Motivation mitbringen. Auch Un- oder Angelernte können eingebunden werden: Das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA), das beim Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V. angesiedelt ist, hat 2019 eine Studie zum Thema Fachkräftemangel herausgegeben und empfiehlt, ihnen arbeitsnahe Qualifizierungsmaßnahmen und zum Beispiel Teilqualifikationen (TQs) anzubieten, um sie schrittweise zu Fachkräften zu entwickeln.

Geschlechtertypische Berufswahl befördert Fachkräftemangel

Das Institut der Deutschen Wirtschaft bemerkt im Zusammenhang mit seinem Bericht über die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken: „Auffällig ist, dass die Berufe mit dem größten Fachkräftemangel ein sehr ungleiches Geschlechterverhältnis unter den Beschäftigten aufweisen.“ Wenn ein Beruf klassischerweise nur für die Hälfte der Gesellschaft in Frage kommt, können die Bedarfe schlechter gedeckt werden. Für die fernere Zukunft können deshalb auch alle, die in der Kinder- und Jugendhilfe tätig sind, ihren Beitrag leisten: „Eltern, aber auch Fachkräfte in Kitas und Horten sind Vorbilder. Menschen in Schulen, Hochschulen, Unternehmen und Einrichtungen bis zur Berufsberatung können Einfluss nehmen und klischeefreies Denken und Handeln vorleben“, betont die Initiative Klischeefrei. Sie wendet sich mit ihren Angeboten an alle, die Kinder und Jugendliche begleiten und bietet ihnen dafür zum Beispiel Methodensets, eine Infothek und Fachtagungen. Wenn wir heute den Kindern und Jugendlichen zeigen, dass soziale Berufe für alle da sind, könnte das den Fachkräftemangel in den nächsten Jahren und Jahrzehnten lindern.

Autorin: Christine Bertschi, freie Journalistin

Artikelreihe vom Portal der Kinder- und Jugendhilfe

In unserer Artikelreihe befassen wir uns mit dem Thema „Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe“. Dabei betrachten wir die gegenwärtige Situation, die Auswirkungen des Personalmangels und fragen nach Möglichkeiten, dieser Herausforderung zu begegnen. 

Weitere Artikel der Reihe:

Redaktion: Sofia Sandmann

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