Interview

Einblick in die Arbeit der interfraktionellen Arbeitsgruppe zum Thema Behinderung

Katrin Langensiepen, MdEP, gibt im schriftlichen Interview mit der Redaktion der BBE Europa-Nachrichten einen Einblick in die Arbeit der interfraktionellen Arbeitsgruppe »Disability Intergroup« zum Thema Behinderung beim Europäischen Parlament. Sie beleuchtet die aktuellen Bemühungen der Intergroup zur Förderung von Inklusion und Barrierefreiheit in der gesamten EU.

04.12.2023

BBE Europa-Nachrichten: Als Mitglied der interfraktionellen Arbeitsgruppe zum Thema Behinderung, wie können Sie/die Arbeitsgruppe zur Förderung von besserer Inklusion und Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung in der gesamten EU beitragen?

Ich gehöre zu den weniger als 1% der Abgeordneten im Europäischen Parlament, die eine sichtbare Behinderung haben und das obwohl knapp jeder fünfte Mensch in der EU mit einer Behinderung lebt. Das ist nicht nur empörend für unsere Demokratie, sondern auch sinnbildlich dafür, wie Menschen mit Behinderungen in der EU weiterhin diskriminiert werden – beim Wohnen, Arbeiten, Reisen oder eben auch in der Politik. Ende 2010 hat die Europäische Union die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und sich damit zur Gleichberechtigung und Nicht-Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen verpflichtet. Es ist der allererste Menschenrechtsvertrag, der von der Europäischen Union als Staatenbund und Institution angenommen worden ist. Doch auch nach über 10 Jahren sind wir von echter Inklusion in den Mitgliedstaaten weit entfernt. Aufgabe der EU ist es, die Mitgliedstaaten zur Umsetzung echter Inklusion und Barrierefreiheit zu animieren. Das kann sie durch die Vergabe von Fonds, finanziellen Mitteln und durch regulierende Gesetze, wie beispielsweise die Europäische Rechtsakte zur Barrierefreiheit. Als interfraktionelle Arbeitsgruppe versuchen wir, europäische Inklusionspolitik zu stärken und auszubauen.

BBE Europa-Nachrichten: Wie und wozu genau arbeitet die interfraktionelle Arbeitsgruppe »Behinderung«?

Die Arbeitsgruppe »Behinderung« ist eine der ältesten interfraktionellen Gruppen im Europaparlament. »Behindertenpolitik« betrifft nämlich nicht nur ein Politikfeld, sondern ist in allen Bereichen relevant, sowohl im Sozial, Mobilitäts- oder Frauenrechtsausschuss. Gerade verhandeln wir beispielsweise eine neue EU-Richtlinie gegen Gewalt an Frauen. Dort haben wir den Punkt eingebracht, dass Zwangssterilisation verboten werden muss. Denn, kaum zu glauben, aber in 13 EU-Mitgliedsländern ist die Zwangssterilisation von Frauen und Mädchen mit Behinderung immer noch erlaubt. 2021 wurde die EU-Verordnung zu Fahrgastrechten in der Bahn überarbeitet. Hier haben wir versucht, die Vorankündigungszeit für Assistenz-Hilfen zu reduzieren.

Wir müssen Inklusionspolitik in allen Bereichen einbeziehen. Als Abgeordnete unterschiedlicher Parteien und Ausschüsse ist es umso wichtiger, dass wir uns in der Arbeitsgruppe dazu austauschen. Das »European Disability Forum«, die europäische Dachorganisation der Behindertenverbände, gehört ebenfalls dazu. Gemeinsam mit ihr versuchen wir die Forderungen der Menschen mit Behinderungen aus den Mitgliedstaaten so gut und so oft es geht in europäische Gesetzgebung miteinfließen zu lassen. Ein anderes wichtiges Ziel der Arbeitsgruppe ist, dem Thema Behindertenpolitik mehr Sichtbarkeit zu geben. Dieses Jahr organisieren wir zum ersten Mal eine »Disability Rights Week« im Europaparlament um den Internationalen Tag herum, um andere Abgeordnete und Stakeholder zu sensibilisieren.

BBE Europa-Nachrichten: Welche konkreten Initiativen oder politischen Maßnahmen gibt es, um die aktive Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Europa zu stärken?

Eines der größten Projekte dieser Legislatur ist die Einführung eines EU-Behindertenausweis, den wir schon lange von Aktivist*innen und Grüner Seite fordern. Er ist Teil der »EU-Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen 2021-30«. Der neue Ausweis, der zusätzlich zum nationalen gelten soll, hat zum Ziel, Menschen mit Behinderungen das Reisen innerhalb der EU zu erleichtern. Bis jetzt ist es nämlich so, dass die Anerkennung des Behindertenstatus und damit verbunden Leistungen, Hilfen oder Vergünstigungen an der Grenze aufhören. Der aktuelle Vorschlag sieht vor, dass Menschen mit Behinderungen mit dem neuen Ausweis alle öffentlichen Vorteile in Anspruch nehmen können, die jeweils national gelten. Das betrifft nicht nur den Bereich Kultur, sondern beispielsweise auch Vergünstigungen im Nahverkehr, Assistenzleistungen im Zug oder Vergünstigung auf der Autobahn. Der neue Ausweis bedeutet noch keine volle Freizügigkeit für Menschen mit Behinderungen, wäre aber ein echter Meilenstein dorthin.

Ein zweites wichtiges EU-Projekt, an dem ich auch mitgearbeitet haben, ist das neue EU-Zentrum zur Barrierefreiheit. Dieses muss sich gemeinsam mit Expert*innen mit Behinderungen von einem Projekt zu einer echten europäischen Agentur entwickeln, europäische Standards zur Barrierefreiheit erarbeiten und Vorschläge für Gesetzesvorhaben machen dürfen.

BBE Europa-Nachrichten: Welche sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen und Chancen zur Verbesserung der aktiven Teilhabe von Menschen mit Behinderung in der Europäischen Union, und welche Strategien verfolgen Sie, um diese anzugehen?

In den letzten Jahrzehnten stand der Versorgungsgedanke im Mittelpunkt der Behindertenpolitik in Europa. Wir haben Sonderstrukturen geschaffen, in denen Menschen mit Behinderungen leben und arbeiten können, fernab des gesellschaftlichen Lebens. Das ist nicht mehr 21. Jahrhundert konform. Menschen mit Behinderungen müssen endlich als gleichwertige Bürger*innen, Arbeitnehmer*innen und Konsument*innen behandelt und sichtbar werden. Statt an unseren alten Strukturen festzuhalten, die zu ihrer Zeit ihre Berechtigung hatten, ist jetzt der Moment, dass wir neue Wege gehen, die dem echten Gedanken der Inklusion und der UN-Behindertenkonvention entsprechen. Die EU kann und muss hier Antriebsrad sein.

In Deutschland arbeiten derzeit um die 320.000 Menschen in Behindertenwerkstätten, nur 1% davon schaffen den Weg in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Der Rest arbeitet dort sein Leben lang weiter abgeschottet ohne Arbeitnehmer*innenstatus für einen Taschengeldbetrag. Mit Inklusion hat das nichts zu tun. Das sagt auch die UN, die Deutschland seit Jahren für ihr System kritisiert. Die Behindertenwerkstatt oder Einrichtung darf nicht der vorgeschriebene Weg sein. Hätte ich damals unter Protest der Berufsberatung nicht »nein« gesagt, würde ich nun auch dort arbeiten und wäre nie Europaabgeordnete geworden. Wir brauchen eine individualisierte Art der Berufsberatung. Wir müssen den europäischen Aktionsplan zur Sozialökonomie stärken und bewusst in Inklusionsunternehmen investieren, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen mit geregelten Arbeitsverträgen zusammenarbeiten.

Werkstätten, die dem Artikel 27 der Behindertenrechtskonvention entgegenstehen, müssen abgeschafft oder reformiert werden. Genau das fordert auch mein EU-Bericht zur »Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in den Bereichen Beruf und Beschäftigung«. Außerdem müssen wir die Bedingungen für Inklusion auf dem ersten Arbeitsmarkt schaffen und das heißt Barrierefreiheit: barrierefreies Wohnen, Reisen, selbstbestimmtes Leben in der Gemeinschaft, garantierte Assistenzleistungen.

Auf meiner »The Future is Accessible Tour« reise ich durch alle EU-Mitgliedsländer, um mit Menschen mit Behinderungen und ihren Vertretungen ins Gespräch zu kommen und ihre Forderungen ins Europäische Parlament zu bringen. Ihre Forderung ist immer dieselbe: selbstbestimmtes Leben. In Polen zum Beispiel unterstützt der Staat maximal mit 70 Stunden Assistenz im Monat. Ein Witz für eine Person, die 24/7 auf Hilfe angewiesen ist. Für das tägliche Leben heißt das praktisch, entweder man ist bis ins hohe Alter auf die Hilfe der Familie, oft der Mutter angewiesen und man muss in eine Einrichtung. Die EU muss hier an der Seite der Menschen mit Behinderungen stehen und aktiv die Mitgliedstaaten fördern und fordern. Um den nötigen Druck auf die Mitgliedstaaten zu erhöhen brauchen wir dringend Kontrollmechanismen wie Studien mit vergleichbaren Zahlen, an denen wir Fort- oder Rückschritte von Inklusion messen können. Außerdem brauchen wir, gerade mit Blick auf die Europawahlen, mehr Menschen mit Behinderungen in der Politik. Weil: Nichts ohne uns über uns! Ich bin davon überzeugt und kämpfe weiter dafür, dass »The Future is Accessible!«.

Quelle: Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement vom 16.11.2023

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