Studie

Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen gehören zum Alltag queerer Jugendlicher in Bayern

Wie geht es LSBTIQA* Jugendlichen in Bayern? Welche Strukturen sind nötig, um sie in ihrer Lebensrealität zu nachhaltig stärken und ihre individuelle Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen? Der Ergebnisbericht „How are you?“ veröffentlicht eine fundierte Datenbasis über die Lebensrealität von LSBTIQA* Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Bayern und liefert konkrete Handlungsempfehlungen.

20.03.2024

Wie geht es LSBTIQA* Jugendlichen in Bayern? Welche Strukturen sind nötig, um sie in ihrer Lebensrealität zu nachhaltig stärken und ihre individuelle Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen? Diese Fragen standen im Zentrum des Forschungsprojekts „How are you?“.

Im Frühjahr 2023 wurden 2.043 junge Menschen zwischen 14 und 27 Jahren in Bayern durch das Institut für Diversity- & Antidiskriminierungsforschung (IDA) und die Hochschule Fresenius zu ihrer Lebenssituation befragt. Jetzt hat der Bayerische Jugendring (BJR) die Ergebnisse der ersten bayerischen queeren Jugendstudie veröffentlicht. Diese zeichnen ein umfassendes Bild von den Erfahrungen, Herausforderungen und Bedürfnissen einer oft übersehenen Gemeinschaft. Die zentrale Erkenntnis: LSBTIQA* Personen sind in nahezu allen Lebensbereichen in hohem Maß von Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen betroffen. Diese Erlebnisse stellen gerade junge Menschen vor besondere Herausforderungen in ihrer Identitätsentwicklung, da Ablehnung, (antizipierte) Diskriminierung sowie verinnerlichte Queernegativität gesundheitsschädlichen Minderheitenstress erzeugen können. Ein offenes und unterstützendes Umfeld sowie spezifische queere Angebote können sich dagegen positiv auf das Wohlbefinden von LSBTIQA* Jugendlichen auswirken.

Die Studienverantwortlichen kommentieren die Veröffentlichung wie folgt:

  • Philipp Seitz, BJR-Präsident (er/ihm): „Die HAY-Studie ist ein wichtiger Meilenstein in unserem Bestreben, eine inklusive und unterstützende Umgebung für alle Jugendlichen zu schaffen. Die Ergebnisse unterstreichen, dass es notwendig ist, auf gezielte Maßnahmen und Angebote zu setzen, die auf die besonderen Bedürfnisse von LSBTIQA* jungen Menschen zugeschnitten sind. Hierfür gilt es, queere Selbstorganisationen zu stärken, die jungen Menschen einen Safer Space bieten, wo sie sich sicher und verstanden fühlen.“
  • Patrick Wolf, BJR-Queerbeauftragter (er/ihm): „Mit der HAY-Studie verfügen wir erstmals über eine solide Datenbasis. Sie liefert wichtige Einblicke in vielfältige Lebensrealitäten von queeren jungen Menschen in Bayern. Die Ergebnisse und praktischen Implikationen rufen alle zum Handeln auf – für eine Gesellschaft, in der alle Jugendlichen die Möglichkeit haben, sich frei zu entfalten und aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.“
  • Prof. Dr. Dominic Frohn, Wissenschaftlicher Leiter am IDA (er/ihm): „Unsere Studie offenbart, wie wichtig ein akzeptierendes und unterstützendes soziales Umfeld für das Wohlbefinden von LSBTIQA* Jugendlichen ist. Sie zeigt auch, dass es noch viel zu tun gibt, um Diskriminierung und Exklusion in unserer Gesellschaft zu reduzieren bzw. umgekehrt Akzeptanz und Inklusion zu stärken.“
  • Nain Heiligers, Wissenschaftliche:r Projektkoordinator:in am IDA (kein Pronomen): „Ein gesellschaftliches Klima, in dem queere Menschen so akzeptiert werden, wie sie sind, und vor allem auch Unterstützung durch für sie relevante Bezugspersonen sind wichtige Grundvoraussetzungen für die Entwicklung von Wohlbefinden und Resilienz, was unter anderem die Bewältigung von Diskriminierungserfahrungen positiv beeinflussen kann. Damit werden sowohl individuelles Wachstum als auch die aktive Mitgestaltung an gesellschaftlichen Entwicklungen gefördert.“

BJR ruft zum Handeln für eine diversitätssensible Gesellschaft auf

In Anbetracht der Studienerkenntnisse ruft der BJR zu verstärkten Bemühungen auf, um das gesellschaftliche Klima zu verbessern und LSBTIQA* Jugendlichen in Bayern eine Stimme zu geben. Die Studie liefert konkrete und praktikable Handlungsempfehlungen, die es jetzt im Sinne einer einer diversitätssensiblen Gesellschaft umzusetzen gilt:

  1. Spezifische Jugendarbeit verstärken: Die Studie verdeutlicht die Bedeutung spezifischer Angebote der Jugendarbeit: Hier finden junge LSBTIQA* Menschen Verständnis, Unterstützung und Schutz vor Diskriminierung. Daher lautet die dringende Empfehlung, diese Angebote zu verstärken und landesweit zugänglich zu machen.
  2. Sensibilisierung und Bildung vorantreiben: Um ein inklusives Klima zu fördern, sind Sensibilisierungs- und Bildungsprogramme für die breite Öffentlichkeit sowie für Fachkräfte in den Bereichen Schule, Arbeit und Gesundheitswesen essentiell. Die Studie betont die Notwendigkeit, das Bewusstsein für LSBTIQA* Themen zu schärfen und Diskriminierung aktiv entgegenzuwirken.
  3. Vernetzung und Selbstorganisation stärken: Die Ergebnisse unterstreichen die Wichtigkeit von Begegnungs- und Vernetzungsmöglichkeiten für LSBTIQA* Jugendliche. Die Förderung von queeren Selbstorganisationen und Online-Communities kann dazu beitragen, Isolation zu vermindern und das psychosoziale Wohlbefinden zu steigern.

Ergebnisse im Detail

Die HAY-Studie zeigt, dass LSBTIQA* Jugendliche und junge Erwachsene in Bayern in vielen Lebensbereichen Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen ausgesetzt sind, die ihr Wohlbefinden und ihre Resilienz beeinträchtigen. Bedeutsam ist, dass sowohl das Wohlbefinden als auch die Resilienz von jungen LSBTIQA* Personen deutlich niedriger sind als die Werte Gleichaltriger in der Allgemeinbevölkerung. Die Zusammenhänge manifestieren sich auch in den Antworten zu Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen: dabei gaben 9 von 10 Befragten (93,9 %) an, mindestens einmal Diskriminierung erlebt zu haben. Insbesondere im Zusammenwirken mit weiteren Diskriminierungsdimensionen (Intersektionalität) sind die Werte für Wohlbefinden und Resilienz nochmal niedriger. Mehr als die Hälfte der Befragten (55,9 %) wählten mehr als eine weitere Dimension, davon fast drei Viertel (70,7 %) Sexismus und knapp zwei Drittel Lookismus (63,1 %).

Die höchsten Zustimmungswerte bei den Diskriminierungsarten verzeichneten der institutionelle Ausschluss durch Verwehrung von Zugängen oder fehlender Sichtbarkeit in Lehrmaterialien, ignorierende Segregation durch die Verwendung falscher Begriffe oder Namen, Infragestellen oder Kontaktabbruch und Ausgrenzung sowie ein voyeuristisch gesteigertes Auseinandersetzen wie Gerüchte, Lügen oder Imitieren und Lächerlich machen. „In der Schule“ (55,7 %), „in der Öffentlichkeit“ (52,5 %) und „im Internet/in sozialen Netzwerken“ (46,7 %) sowie „in meiner Herkunftsfamilie“ (44,4 %) sind die Orte, an denen junge Menschen die meisten Diskriminierungserfahrungen machen. 1 von 10 Befragten gab an, in weiteren Bildungseinrichtungen wie Jugendgruppen, Jugendzentren oder Universitäten und Hochschulen Diskriminierung zu erfahren.

Die größte Offenheit im Umgang mit ihrer LSBTIQA* Identität zeigen junge queere Menschen gegenüber Freund:innen (88,0 %), die geringste am Arbeitsplatz (29,5 %). Im Internet geben sie sich offener als gegenüber der Herkunftsfamilie, wo vermutlich Erfahrungen von Diskriminierung und fehlender Akzeptanz ein ambivalentes Verhältnis begründen. Insgesamt gaben TNQ (= trans* und/oder nicht-binär und/oder questioning) Befragte an, gegenüber ihrer Familie, Freund:innen und im Internet etwas offener mit ihrer Identität umzugehen, als queere cis* (= wahrgenommenes Geschlecht stimmt mit dem bei der Geburt zugewiesenen überein) Personen. Freund*innen haben sowohl für queere cis* als auch für TNQ* Befragte eine herausragende Bedeutung als Unterstützer:innen. Während cis* Jugendliche häufiger die Herkunftsfamilie nannten, suchen TNQ* Befragte eher im Internet/sozialen Medien sowie bei Therapeut*innen, Psycholog*innen und Beratungsstellen entsprechende Hilfe. Insgesamt gab knapp die Hälfte der Befragten an, zwischen 3 und 5 Personen zu kennen, die sie unterstützen können. Allerdings haben nicht alle Befragten (viele) Bekannte, die ihnen in schwierigen Lebenslagen zur Seite stehen können. Vor allem auf dem Land scheint der Zugang zu queeren Jugendangeboten bzw. die Möglichkeit, sich neue Bezugspersonen erschließen zu können, erschwert zu sein.

Die Studie unterstreicht die positive Rolle, die spezifische Angebote der Jugendarbeit und queere Communities spielen, indem sie Räume für Verständnis, Unterstützung und Vernetzung schaffen. Die Befragten gaben hinsichtlich ihrer Freizeit an, häufiger an queeren als an allgemeinen Jugendangeboten teilzunehmen: 62,0 % besuchen mindestens eine Jugendgruppe, am häufigsten Theater-/Musik-/Tanzgruppen bzw. Chor, Online-Communities/-Gruppen sowie LSBTIQA* Jugendgruppen. Allerdings lassen sich große Unterschiede zwischen den Jugendlichen beobachten, die in Metropolen und in ländlichen Regionen leben. Vor allem in kleineren Städten und ländlichen Regionen finden die Gruppen der Freiwilligen Feuerwehr/THW/DLRG sowie kirchliche/religiöse Gruppen und des Schützen-/Heimatvereins stärkeren Zulauf. Hürden zur Teilnahme liegen vor allem in der großen Entfernung (27,1 %), sowie in der Uhrzeit bzw. Dauer des Angebots (27,0 % und der schlechten Anbindung (25,0 %). Die große Mehrheit der Befragten wünscht sich Beratungsangebote mit einer maximalen Anfahrtdauer von ca. einer halben Stunde (Mittelwert: 34 Minuten). Außerdem formulieren sie die Sensibilisierung zu LSBTIQA* Themen u. a. im Kontext von (Hoch-)Schule, Arbeit und Behörden sowie bei medizinischem und psychologischem Fachpersonal als zentralen Bedarf.

Weitere Informationen zur Studie

Quelle: Bayrischer Jugendring vom 19.03.2024

Redaktion: David Bienias

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