Kindergrundsicherung

Careleaver*innen werden übergangen

Junge Menschen, die in Wohngruppen, Heimen oder Pflegefamilien aufgewachsen sind, werden im aktuellen Entwurf zur Einführung einer Kindergrundsicherung nicht berücksichtigt, obwohl sie nach dem Auszug häufig in existenzielle Notlagen geraten. Das kritisieren Wissenschaftler*innen des Instituts für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim gemeinsam mit weiteren Expert*innen.

28.09.2023

Careleaver*innen sind Personen, die in ihrer Kindheit und Jugend eine Zeitlang in stationären Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung oder in Pflegefamilien gelebt haben. Sie kommen ganz überwiegend aus sehr schwierigen Lebensverhältnissen. Nach der Zeit in der Pflegefamilie oder Einrichtung ist ihr junges Erwachsenenalter geprägt von besonders prekären, finanziellen Verhältnissen. Prof. Dr. Wolfgang Schröer von der Universität Hildesheim beschäftigt sich seit Jahren aus wissenschaftlicher Sicht mit den Übergängen nach den Hilfen zur Erziehung („Leaving Care“). Aus seiner Sicht wird zu selten gesehen, dass „nicht wenige Care Leaver*innen in der biographisch herausfordernden Zeit des Übergangs aus der Wohngruppe oder dem Auszug aus der Pflegefamilie in existenzielle Notlagen geraten“. Von den Eltern werden sie finanziell häufig kaum oder gar nicht unterstützt. Einige brauchen zu ihrem Schutz weiterhin den Abstand zu den Eltern oder haben zu ihnen keine dauerhaft belastbare Beziehung.

„Grundsätzlich begrüßen wir das Ziel der Bundesregierung, mit der Einführung einer Kindergrundsicherung bessere Chancen für Kinder und Jugendliche zu schaffen und Kinderarmut zu bekämpfen“, betont Dr. Melanie Overbeck. Sie ist Vorsitzende des Careleaver e.V., der ersten Selbstorganisation von jungen Menschen, die in sogenannten stationären Hilfen zur Erziehung aufgewachsen sind. Jedoch, führt sie weiter aus, lasse der vorliegende Referentenentwurf die Situation von Careleaver*innen gänzlich unberücksichtigt. „Nach der Jugendhilfe lässt die Kindergrundsicherung sie hängen.“

„Die ohnehin schon schlechten Startbedingungen von Careleaver*innen erfahren durch die Leistungszusammenführung in der Kindergrundsicherung weitere Benachteiligungen, da sowohl der Garantiebetrag als auch der Zusatzbetrag elternabhängig ausgestaltet sind“, ergänzt Dr. Thomas Meysen, von SOCLES aus Heidelberg, einer der Experten für Kinder- und Jugendhilferecht in Deutschland. „Careleaver*innen haben nicht ohne Grund in Einrichtungen oder Pflegefamilien gelebt. Der Gesetzentwurf wirft sie ausgerechnet auf ihre Eltern zurück.“

Die Rechtslage zur Kindergrundsicherung für Careleaver*innen

Hinsichtlich des Garantiebetrages sieht die aktuelle Rechtsprechung zwar die Möglichkeit vor, dass Kinder selbst Anspruchsberechtigte sind. Voraussetzung hierfür ist jedoch unter anderem, dass der junge Mensch entweder Vollwaise ist oder der Aufenthalt der leiblichen Eltern unbekannt ist. Diese Voraussetzungen gehen an der Lebenswirklichkeit von Careleaver*innen vorbei: Die wenigsten sind Vollwaisen; in einer Vielzahl der Fälle ist der Aufenthaltsort der Eltern bekannt, es besteht jedoch aus gutem Grund kein Kontakt.

Careleaver*innen werden damit wieder auf ihre Eltern verwiesen. Sie stehen weiterhin vor der Wahl, sich entweder dem hoch belastenden Kontakt bis hin zu einer Gefahr der Retraumatisierung auszusetzen oder auf die Kindergrundsicherung zu verzichten und in gesteigerter Armut zu verharren. Beim Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen sind Careleaver*innen weiterhin von ihren Eltern abhängig, von deren Mitwirkungswillen und Mitwirkungsfähigkeit. Ihnen wird die Verantwortung zugeschrieben, die Mitwirkung zu aktivieren und sich damit der sozialen Kontrolle durch die Eltern auszusetzen. Dies bedeutet für sie faktisch eine weitere, gravierende Schlechterstellung gegenüber gleichaltrigen Peers.

Mit Blick auf den Zusatzbetrag ist zudem als Voraussetzung das Zusammenleben in einer Familiengemeinschaft normiert – eine Voraussetzung, die Careleaver*innen vom Erhalt des Zusatzbetrages vollständig ausschließt.

Hinweis in Gesetzesbegründung überzeugt nicht

Auch der Hinweis in der Gesetzesbegründung, junge Menschen hätten stattdessen einen Anspruch auf SGB II-Leistungen, vermag die Expert*innen nicht zu überzeugen. Zwar werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung grundsätzlich nicht für unter 25-Jährige gewährt. Das Problem liegt darin, sagt Melanie Overbeck, dass „der Gesetzentwurf grundsätzlich davon ausgeht, dass junge Menschen bis zu ihrem 25. Lebensjahr durch die Eltern finanziert werden, soweit sie noch Unterstützung benötigen.“

Nur in vereinzelten Ausnahmefällen werden die Leistungen für Unterkunft und Heizung auch für unter 25-Jährige gewährt. In der Praxis bedeutet dies, dass Careleaver*innen nach dem Verlassen der stationären Jugendhilfe von den Jobcentern bis zur Klärung der Situation wieder nach Hause geschickt werden – also zurück zu dem Ort, aus dem sie zuvor zu ihrem eigenen Schutz und zu ihrer Sicherheit herausgenommen worden sind.

Mit der Unterbringung im Rahmen von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe übernimmt der Staat eine wesentliche Verantwortung für die Entwicklung des Kindes. Um auch diesen Kindern und Jugendlichen eine echte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, muss die Verantwortung über das 18. Lebensjahr hinausgehen.

Erfolgt die Unterbringung aufgrund einer Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII, wird anerkannt, dass es gute Gründe gibt, weshalb Kinder oder Jugendliche aus der Abhängigkeit der Eltern gelöst werden. Der Referentenentwurf zum Bundeskindergrundsicherungsgesetz nimmt dies faktisch wieder zurück, obwohl sich die Situation für die jungen Menschen nicht geändert hat. Careleaver*innen sind darauf angewiesen, dass ihre besondere Lebenssituation weiterhin anerkannt wird.

Ausnahmeregelung für Careleaver*innen gefordert

Zusammen mit allen Erziehungshilfeverbänden – also allen Fachorganisationen, die sich für die fachliche Entwicklung der Hilfen zur Erziehung einsetzen – fordern Expert*innen daher, dass bei der Einführung einer Kindergrundsicherung Ausnahmeregelungen für Careleaver*innen eingesetzt werden, die ihnen einen elternunabhängigen Zugang zu den Leistungen gewähren.

Quelle: Stiftung Universität Hildesheim vom 11.09.2023

Redaktion: Silja Indolfo

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