Kinder- und Jugendarbeit

Sexualisierte Gewalt: Absolute Sicherheit kann man nicht einkaufen

Nach den Missbrauchsfällen in Institutionen wird nun auch übergriffiges Verhalten von Jugendlichen in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Während einer Ferienfreizeit des Stadtsportbundes Osnabrück auf der Insel Ameland sollen acht Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren sechs 13-jährige Jungen missbraucht und unter anderem mit Colaflaschen penetriert haben. Eltern haben nach der Rückkehr ihrer Kinder Anzeige erstattet. Durch die Betreuer ist der Vorfall scheinbar nicht bemerkt worden.

27.07.2010

Daniel Grein
Daniel Grein ist Geschäftsführer des Deutschen Bundesjugendrings (DBJR). Der DBJR ist der Dachverband der Jugendverbände in Deutschland. In seinen 25 Mitgliedsverbänden, vier Anschlussverbänden und den 16 Landesjugendringen sind rund 5,5 Millionen Jugendliche organisiert.
>> www.dbjr.de

Lange bevor die Öffentlichkeit das Thema Missbrauch entdeckte, haben sich Jugendverbände, die vielfach Jugendreisen und Ferienfreizeiten anbieten, über Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt Gedanken gemacht und Präventionsprogramme auf den Weg gebracht. Ein Interview mit Daniel Grein, Geschäftsführer des DBJR, über notwendige Prävention und ihre Grenzen. 


Herr Grein, die Übergriffe von Jugendlichen gegenüber anderen Kindern und Jugendliche während eines Ferienfreizeit des Osnabrücker Stadtsportbundes auf Ameland haben bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Ist das nun wirklich nur ein Einzelfall oder muss auch über Qualität und Umfang der Betreuung und über Schlafsäle für 40 Jugendliche gesprochen werden?

Gesprochen werden muss darüber, ob und wie Organisationen es schaffen ein umfassendes Präventionskonzept zu entwickeln. Ziel eines umfassenden Präventionskonzeptes ist eine Organisation, die sensibel ist für die Möglichkeit sexualisierter Gewalt in den eigenen Reihen ist, die aktiv hinschaut und in der im Fall oder im Verdachtsfall eines Übergriffs richtig und professional gehandelt wird. Der DBJR hat in seiner Stellungnahme dazu notwendige Bausteine beschrieben.
Ein Debatte um weitere Zertifikate, Betreuungsschlüssel, Anforderungen von Unterbringungen etc. tut so, als könnte man per Verordnung Sicherheit herstellen. Eine Kultur des Hinschauens kann aber nicht verordnet werden. Sie muss sich entwickeln und gelebt werden.

Viele Vereine, Verbände und Kirchengemeinden können Ferienfreizeiten nur ermöglichen, wenn sie auf die Unterstützung von Ehrenamtlern zurückgreifen. Im Gegensatz zu hauptamlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Kinder- und Jugendhilfe müssen diese Freiwilligen aber bisher kein erweitertes Führungszeugnis beibringen, aus dem hervorginge, ob jemand schon einmal wegen eines Sexualdelikts in Erscheinung getreten ist. Der DBJR hat sich gegen die Ausweitung der Praxis des erweiterten Führungszeugnisses auf Ehrenamtler ausgesprochen. Warum?

Jugendverbände sind Selbstorganisationen junger Menschen. Sie greifen also nicht auf Ehrenamt zurück. Es ist ihre Wesensart ehrenamtlich miteinander etwas zu unternehmen. Ehrenamtlichkeit ist bei den Jugendverbänden - aber auch bei anderen Trägern - also keine Frage 2. Wahl, weil Hauptberufliche nicht ermöglichbar waren, sondern Grundlage und Mehrwert.

Dass beim Fall Ameland das Thema Führungszeugnisse für Ehrenamtliche überhaupt diskutiert wird, irritiert mich. Der DBJR spricht sich seit längerem gegen eine pauschale Führungszeugnispflicht für Ehrenamtliche aus, und begründet dies in seinen Papieren umfassend. Aber gerade der Fall Ameland zeigt doch, dass die vermeintliche Sicherheit (die der DBJR ohnehin deutlich in Frage stellt) eines Führungszeugnisses, das Ehrenamtliche hätten vorlegen müssen, die Situation nicht verändert hätte. Das erweiterte Führungszeugnis hätte dem Träger darüber Auskunft gegeben, ob einer seiner Betreuer bereits im Bereich des Sexualstrafrechts vorbestraft ist. Kein Betreuer hat sich aber meines Wissens im Fall Ameland eines Übergriffs schuldig gemacht. Ob Betreuer in entsprechenden Situation richtig reagieren, darüber gibt ein Führungszeugnis keinerlei Auskunft. Wer also eine Führungszeugnispflicht in die Debatte einbringt, muss zunächst beantworten, was dies im Fall für einen Mehrwert gebracht hätte.

Kommerzielle Jugendreiseanbieter werben mit Gütesiegeln für ihre Angebote. Diese Anbieter verfügen über andere Ressourcen, können sich Dank höherer Einnahmen auch höhere Standards leisten. Erleben wir da eine Zwei-Klassen-Gesellschaft? Eltern, die es sich leisten können, wählen den kommerziellen Anbieter. Der Rest verreist mit Sportverein und Kirchengemeinde?

Zunächst ist zu sagen, dass absolute Sicherheit gar nicht zu kaufen ist. Kommerzielle Anbieter, die behaupten, dank ihrer hohen Standards wären Fälle von sexualisierter Gewalt unmöglich, wollen nur mit der Unsicherheit von Eltern Geld verdienen. Hohe Standards, die Prävention verbessern, können Jugendverbände auch umsetzen und tun es in weiten Teilen bereits. Gruppenleiterinnen und Gruppenleiter im Bereich der Jugendverbandsarbeit sind außerdem in der Regel gut qualifiziert. Das Thema sexualisierte Gewalt spielt in der JugendleiterInnencard-Ausbildung (dem Qualifkationsnachweis des gemeinnützigen Bereichs) eine wichtige Rolle. Durch die Kontinuität und Eingebundenheit in Strukturen stellen die GruppenleiterInnen ggf. sogar einen qualitativen Vorteil gegenüber den wechselnden Honorarkräften anderer Anbieter dar, denn die meisten kommerziellen Anbieter arbeiten ja auch nicht ausschließlich mit einem hauptberuflichen Pädagogenteam.

Eine Zwei-Klassen-Gesellschaft bekommen wir, wenn Eltern, die es sich leisten können, glauben kommerzielle Anbieter würden von vorn herein höhere Qualität als andere bieten. Wir bekommen sie auch, wenn die öffentliche Förderung für Jugendfreizeitmaßnahmen weiter zurückgeht und Maßnahmen nicht mehr stattfinden. Und wir bekommen sie dann, wenn durch populistische Maßnahmen und sinnfreie Regulierungen des Ehrenamtlichen Engagements die Hürden zu freiwilligen Mitarbeit so hoch sind, bzw. die Haftungsrisiken so hoch sind, dass kaum jemand mehr bereit sein wird, dafür seine Freizeit zu investieren.

Hinzufügen möchte ich, dass kommerzielle Anbieter und z.B. Jugendverbände aber auch nicht mit dem selben Angebot konkurrieren. Maßnahmen, Ferienlager, Fahrten von Jugendverbänden setzten ihre Schwerpunkte an anderen Stellen wie bei Partizipation, beim Gemeinschaftsgefühl, bei eigeneständiger Verantwortungsübernahme u.v.m.. Dies sollte Kindern und Jugendlichen nicht verwehrt werden, auch denen nicht, die sich auch Reisen mit anderen Anbietern leisten könnten.

Einige Politikerinnen und Politiker haben sich bereits der Schuldfrage angenommen. Die bayerische Justizministerin Beate Merk hat Pornographie im Internet als Ursache ausgemacht. Was halten Sie davon?

Einige Politiker, aber auch mediale Berichterstattung, sucht bei vielen Fällen und Vorkommnissen nach dem einen Schuldfaktor. Das ist zwar in der Fassungslosigkeit, der man solchen Ereignissen gegenübersteht menschlich und verständlich. Es hilft nur nicht weiter und schafft es nicht angemessene Antworten zu geben. Es wird den Opfern von sexualisierter Gewalt nicht gerecht, wenn "die üblichen Verdächtigen" Internet und Killerspiele aus der Schublade geholt werden. Es ist sinnvoll, dass Träger umfassende Präventionsstrategien umsetzen, wie der DBJR dies fordert. Politik sollte, statt gegen die scheinbaren und umstrittenen Gefahren aus dem Internet, Jugendorganisationen darin aktiv unterstützen. Gerade Bayern ist hierbei sehr vorbildlich, weshalb die Einwürfe von Frau Merk umso mehr verwundern.

ch

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