Jugendforschung

Signifikante Zunahme antidemokratischer und rassistischer Einstellungen in 2010

Eine bundesweite Repräsentativbefragung im Auftrag des Projekts „Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus“ des Forum Berlin der Friedrich-Ebert-Stiftung, unter der wissenschaftlichen Leitung von Dr. Oliver Decker und Prof. Dr. Elmar Brähler liefert aktuelle Zahlen zur Verbreitung rechtsextremer Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft.

13.10.2010

Die Mitte in der Krise

DIE MITTE IN DER KRISE
Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010


Oliver Decker, Marliese Weißmann, Johannes Kiess, Elmar Brähler

ISBN: 978-3-86872-469-1

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Die aktuelle Befragung schließt an die bisherigen Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung „Vom Rand zur Mitte“ (2006) und „Bewegung in der Mitte“ (2008) an, die anhand von Fragebögen rechtsextreme Einstellungen in Deutschland ermittelten. Zudem finden sich darin Analysen zu Deprivation, Lebenszufriedenheit, zu Einstellungen gegenüber der Demokratie sowie zu ausgewählten politischen Einstellungen, darunter auch Islamfeindlichkeit. Die aktuelle Studie untersucht die Entwicklung rechtsextremer Einstellungen im Zeitverlauf der Jahre 2002-2010 und bettet die Analyse in den gesellschaftspolitischen Kontext der Finanz- und Wirtschaftskrise ein. Die Studie steht online auf: www.fes-gegen-rechtsextremismus.de.

Zentrale Ergebnisse:

  • "Im Jahre 2010 ist eine signifikante Zunahme antidemokratischer und rassistischer Einstellungen zu verzeichnen. Wir erleben eine dramatische Trendwende", fassen die Leipziger Wissenschaftler Professor Elmar Brähler und Dr. Oliver Decker die Ergebnisse der Studie zusammen. Der Vergleich der Erhebungen seit 2002 zeigt, dass die bisher leicht rückläufigen Entwicklungen sich umkehren: Insbesondere chauvinistische und fremdenfeindliche Einstellungen nehmen zu und dokumentieren krisenbedingte Mechanismen der Abwertung gegenüber „Fremden“.
  • "Damit bestätigt sich die zentrale These der bisherigen "Mitte-Studien" der Friedrich-Ebert-Stiftung auch im Jahre 2010", sagte Nora Langenbacher, die das Projekt „Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus“ der Friedrich-Ebert-Stiftung leitet: Rechtsextremismus ist kein Phänomen am „Rand“ der Gesellschaft, ganz im Gegenteil finden sich rechtsextreme Einstellungen in besorgniserregendem Maße in der Mitte der Gesellschaft: In Ost- und Westdeutschland, in allen Altersklassen, bei Befürworter/innen von demokratischen Parteien, Gewerkschaftsmitgliedern, Kirchenangehörigen sowie bei Frauen und Männern. 
  • Parallel dazu ist politische, soziale und ökonomische Deprivation weit verbreitet und die Zustimmungswerte zur Demokratie sind bedenklich gering. Über 90 % der Bevölkerung geben laut Decker und Brähler an, weder einen Sinn darin erkennen zu können, sich politisch zu engagieren, noch das Gefühl zu haben, Einfluss auf die Regierung nehmen zu können. "Das ist ein Alarmsignal für Politik und Gesellschaft", so Langenbacher.
  • Der Anstieg rechtsextremer Einstellungen, verbunden mit einer weit verbreiteten Demokratieverdrossenheit und dem Gefühl politischer Einflusslosigkeit, stellt eine Gefahr für die Demokratie in Deutschland dar. Eine hohe Zustimmung zu islamfeindlichen Aussagen unterstreicht den gesellschaftspolitischen Handlungsbedarf. "Wir sehen hier das "Potential" gerade rechtspopulistischer Bestrebungen, die versuchen ähnlich wie in anderen europäischen Ländern mit Ausgrenzungsrethorik politisches Kapital zu schlagen, so Decker. Langenbacher verwies in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit, sich mit der internationalen Dimension des Rechtsextremismus zu beschäftigen: „Wir kennen ähnliche besorgniserregende Befragungen aus dem europäischen Ausland. Das zeigt, dass wir vor einer internationalen Herausforderung stehen, der auch international begegnet werden muss." Das Projekt „Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus“ der Friedrich-Ebert-Stiftung arbeitet mit einer extra Arbeitslinie zu Rechtsextremismus in Europa.
  • Die mit der Wirtschafts- und Finanzkrise einhergehenden gestiegenen Zustimmungswerte zu rechtsextremen Aussagen deuten darauf hin, dass die Unterstützung der Demokratie im Falle einer (wahrgenommenen) Bedrohung des wirtschaftlichen Wohlstands gefährdet ist. Der wohlstandsbringende Kapitalismus scheint als Garant für das demokratische System zu fungieren, - der Stolz auf den „Wirtschaftsstandort Deutschland“ ersetzt als „narzisstische Plombe“ das Bedürfnis der Deutschen nach Zu- bzw. Unterordnung unter eine Autorität. "Wird das Wohlstandsversprechen der Ökonomie nicht eingelöst, droht das demokratische Fundament zu wackeln", - so das Autorenteam um Decker und Brähler.
  • "Dabei ist die Ausländerfeindlichkeit der Sonderfall, die Stigmatisierung kann viele in der Gesellschaft treffen. Der Umgang mit Schwächeren und "Fremden" ist der Lackmustest der Demokratie" so Decker.

Die Studie im Detail: Die Mitte in der Krise – Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010

Zum Vorgehen

Die Repräsentativbefragung, durchgeführt von USUMA (Berlin), basiert auf einer Stichprobe von 2411 Befragten im Alter von 14 – 90 Jahren. Auf der Grundlage eines auch bei den bisherigen Studien zugrundegelegten Rechtsextremismus-Fragebogens wurden die Zustimmungswerte zu den sogenannten „6 Dimensionen“ des Rechtsextremismus gemessen: Befürwortung einer Diktatur, Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus, Verharmlosung des Nationalsozialismus. Neben soziodemographischen Daten wurden weitere Aspekte wie Deprivation, Lebenszufriedenheit, und Einstellungen gegenüber der Demokratie und ausgewählten politischen Einstellungen, darunter Islamfeindlichkeit, im Bezug auf rechtsextreme Einstellungen untersucht.

Inhaltlicher Fokus / Neuheiten der Studie

Die aktuelle Studie untersucht die Entwicklung rechtsextremer Einstellungen im Zeitverlauf der Jahre 2002 bis 2010 und bettet die Analyse in den aktuellen gesellschaftspolitischen Kontext der Finanz- und Wirtschaftskrise und die damit einhergehenden Entwicklungen (Prekarisierung) ein. Mit einem Fokus auf die ökonomische „Mitte“ der Gesellschaft, wird der Frage nachgegangen, ob es einen Zusammenhang zischen Ökonomie und rechtsextremen Einstellungen gibt bzw. ob und wie sich die ökonomische Krise auch in einer politischen Krise auswirkt. Eine ausführliche theoretische Verortung der verwendeten Begriffe der „Mitte“ und des Konzepts der „narzisstischen Plombe“ liefert zudem der erste Studienteil.

Zustimmungswerte im Detail

Über den Zeitverlauf 2002-2010 sind rechtsextreme Einstellungen entlang aller Dimensionen des Rechtsextremismus in einem besorgniserregendem Ausmaß in der deutschen Bevölkerung vorfindbar. Nach einem leichten Rückgang der Zustimmungswerte bis 2008 verzeichnet die Studie 2010 erstmals wieder einen deutlichen Anstieg in mehreren Dimensionen:

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Rechtsextreme Einstellung in Deutschland 2010, Dimensionen (in Prozent)

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  2002 2004 2006 2008 2010
Befürwortung Diktatur 7,7 6,4 4,8 3,7 5,1
Chauvinismus 18,3 19,0 19,3 14,9 19,3
Ausländerfeindlichkeit 26,9 25,5 26,7 21,2 24,7
Antisemitismus 9,3 10 8,4 9 8,7
Sozialdarwinismus 5,2 6,4 4,5 3,1 3,9
Verharmlosung Nationalsozialismus 4,1 4,1 4,1 3,2 3,3

Auszug einzelner Dimensionen:

Während im Jahr 2006 ein Rückgang zu verzeichnen war, ist 2010 in den meisten Dimensionen ein Anstieg zu beobachten. Insbesondere die Dimensionen Befürwortung einer Diktatur, Chauvinismus und Ausländerfeindlichkeit verzeichnet gegenüber den Vorkrisenjahren einen hohen Anstieg.
Diktatur: Der Trend seit 2002, dass immer weniger Deutsche eine Diktatur befürworten, hat sich umgedreht: 2010 wünscht sich in Deutschland gut jede/r Vierte eine „starke Partei“, die die „Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“, mehr als jede/r Zehnte einen „Führer“, der „Deutschland zum Wohle aller mit harter Hand regiert“. Und etwa jede/r Zehnte hält eine „Diktatur“ für „die bessere Staatsform“.

Chauvinismus: Die Forderung, man müsse Deutschland die „Macht und Geltung verschaffen, die ihm zusteht“, findet die Zustimmung von mehr als jede/r vierten Deutschen, ein „hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland“ wünscht sich jede/r Dritte und „Mut zu einem starken Nationalgefühl“ wünschen sich fast 40% der Bevölkerung. Mit gut 20% stimmt jede/r fünfte Deutsche diesen Aussagen insgesamt zu, 2008 taten dies noch knapp 15%.
Ausländerfeindlichkeit: Die Zustimmung zu Aussagen ausländerfeindlichen Inhalts steigt von einem Fünftel der Deutschen im Jahr 2008 auf ein Viertel in 2010 an. Mehr als 30% der Deutschen stimmen demnach folgenden Aussagen zu: „Ausländer kommen, um den Sozialstaat auszunutzen“, bei knappen Arbeitsplätzen „sollte man Ausländer wieder in ihre Heimat schicken“ und durch „die vielen Ausländer“ werde Deutschland „in einem gefährlichen Maß überfremdet“.

Sozialdarwinismus: Der Sozialdarwinismus wird eher von einer kleinen Gruppe geteilt. 2010 stimmen knapp 11% der Befragten der Aussage zu, es gäbe „wertvolles und unwertes Leben“, deutlich mehr als jede/r Zehnte sieht die Deutschen „anderen Völkern von Natur aus überlegen“ und wünscht sich, dass sich „wie in der Natur in der Gesellschaft der Stärkere“ durchsetze.
Dass auf den Dimensionen „Antisemitismus“ und Verharmlosung des Nationalsozialismus“ im Jahr 2010 keine Zunahme im Vergleich zu 2008 festzustellen war, kann nur bedingt beruhigen. Der Anteil der Bevölkerung, der antisemitisch eingestellt ist und dies offen bei allen drei Aussagen dieser Dimension zu erkennen gibt, liegt weiterhin bei knapp 10%. Vorstellungen, dass der „Einfluss der Juden zu groß“ ist, dass „Juden mehr als andere mit üblen Tricks arbeiten“ und dass „sie etwas Besonderes und Eigentümliches an sich haben und nicht so recht zu uns passen“ sind keineswegs Ansichten am Rand der Gesellschaft. Wiederum gut jede/r Zehnte in der Bevölkerung sieht im „Nationalsozialismus auch die guten Seiten, 7% der Deutschen halten die „Verbrechen des Nationalsozialismus“ für „weit übertrieben“ und 10% sehen in „Hitler einen großen Staatsmann“, wenn es die Shoah nicht gegeben hätte.

Islamfeindlichkeit: Die stark ausgeprägte Abwertungsbereitschaft der Deutschen gegenüber „Fremden“ zeigt sich auch in den Zustimmungswerten zu islamfeindlichen Positionen. Der Aussage „Ich kann es gut verstehen, dass manchen Leuten Araber unangenehm sind“ stimmen 55,4% der Deutschen zu. Der Aussage „Für Muslime in Deutschland sollte die Religionsausübung erheblich eingeschränkt werden“ stimmen 58,4% (in Ostdeutschland sogar 75,7%) zu. Der moderne Rechtsextremismus zeigt sich hier mit einer kulturalistischen Begründung, die sich an die traditionellen biologistisch-rassistischen Begründungen anschließt.

Analyse: Zunahme der Einstellung in Zeiten der Krise

Diese Entwicklungen stehen im Bezug zu den gesellschaftspolitischen Folgeerscheinungen der Finanz- und Wirtschaftskrise: Chauvinismus und Ausländerfeindlichkeit sind im Kern als Mechanismen der Selbstaufwertung und Fremdabwertung zu verstehen. Die eigene „Volksgemeinschaft“ wird als Schicksalsgemeinschaft wahrgenommen, welche von den „Ausländer/innen“ abzugrenzen ist, denn diese werden als Belastung für das „Gemeinwohl“ angesehen. Ein wichtiger Faktor für die Zunahme an rechtsextremen Einstellungen stellt die Abstiegsbedrohung dar. Besonders wenn Teile der Mittelschicht befürchten, in die prekarisierte Unterschicht abzurutschen, nehmen rechtsextreme Einstellungen zu und verfestigen sich. Dies heißt aber nicht, dass solche Einstellungen nur in der Mittel- und Unterschicht zu finden sind.

Erstaunlich ist, dass die meisten Deutschen - trotz Krise - ihre wirtschaftlichen Erwartungen durchaus positiv einschätzen. Ob diese Einschätzung in der Realität dann tatsächlich zutreffen wird, bleibt abzuwarten. Zu befürchten ist allerdings, dass im Falle einer in der individuellen Wahrnehmung verschlechternden wirtschaftlichen Situation die Zustimmungswerte zu rechtsextremen Aussagen noch weiter steigen werden.

Betrachtet man die Aussagen differenziert nach gesellschaftlichen Gruppen (Geschlecht, Alter, Bildung) so erkennt man einen Alterseffekt und einen Bildungseffekt. Ältere Menschen stimmen wesentlich häufiger rechtsextremen Aussagen zu als junge. Ähnlich verhält es sich bei der Bildung. Je niedriger das Bildungsniveau, desto höher die rechtsextreme Einstellung. Frauen ußern tendenziell weniger Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen als Männer. Doch der Unterschied ist in den meisten Dimensionen nicht mehr statistisch bedeutsam.

Die weit verbreiteten rechtsextremen Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft sind auch Ausdruck dafür, wie es mit der Demokratie in Deutschland generell bestellt ist. Während 93,2% der Befragten die Demokratie theoretisch als geeignete politische Staatsform ansehen, unterstützen sie in ihrer heutigen Umsetzung nur 46,1%. Hier zeigt sich eine enorm hohe politische Deprivation, die verbunden mit den übrigen Ergebnissen den Schluss zulassen, dass die Demokratie derzeit von vielen Bürger/innen nicht mit Leben gefüllt werden kann.

Handlungsempfehlungen

Die Ergebnisse dieser Studie unterstreichen einmal mehr die Notwendigkeit eines engagierten Eintretens aller gesellschaftlicher Akteure für Demokratie und gegen Rechtsextremismus: Die Studie schließt daher mit Handlungsempfehlungen an Politik und Gesellschaft (siehe S.149ff.):

  • Noch mehr Demokratie wagen
  • Bildung als Voraussetzung zur Teilhabe am demokratischen Prozess und Schutzfaktor
  • Gesellschaft neu denken – die Arbeitsgesellschaft reformieren
  • Selbstverpflichtung der Medien auf nichtdiskriminierende Berichterstattung
  • Mehr Politik wagen
  • Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen, Förderung zivilgesellschaftlicher Projekte

Mehr Informationen unter: http://www.fes-gegen-rechtsextremismus.de/

Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung

 

ch

 

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