Flucht und Migration

Hilfeplan zur Bewältigung von Traumafolgen und Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen

Das Transferprojekt „Memo TV“ mit Hauptsitz an der Universität Konstanz, entwickelt einen gestuften Hilfenplan für die psychotherapeutische Gesundheitsfürsorge, zugeschnitten auf die Herausforderungen und Bedürfnisse geflüchteter Jugendlicher, die massive Gewalt erfahren mussten und oftmals auch selbst eine erhöhte Gewaltbereitschaft aufweisen.

09.05.2019

Wie determinieren, gestalten und organisieren Stress- und Gewalterfahrungen die Erinnerung beim jungen Menschen? Können bestimmte psycho-physiologische Mechanismen in Bezug auf Gewalt und Trauma die funktionale Organisation von Gehirn und Geist nachhaltig in einer Weise verändern, die problematisch für das Individuum und die Gesellschaft werden kann? Gefördert durch einen „ERC Advanced Grant“ des Europäischen Wissenschaftsrats (ERC) geht das Kooperationsprojekt „Memo TV“ (Memories of Traumatic Stress and Violence) mit Hauptsitz an der Universität Konstanz diesen Fragen mit einem besonders innovativen Ansatz nach: Im Zentrum des Forschungsinteresses stehen die spezifischen Erinnerungsstrukturen, die sich unter Einwirkung von Gewalterfahrung aber auch Gewaltausübung in die Organisation des Gehirns einschreiben.

Wissenschafts-Praxis-Transfer

Das Projektteam aus Konstanz, Burundi (Université Lumiere, Bujumbura), Südafrika (University of Stellenbosch) und Brasilien (National School of Public Health of Rio de Janeiro, Oswaldo Cruz Foundation) untersucht diese Merkprozesse auf epigenetischer, neuronaler und kognitiver Ebene. Mit dem „ERC Proof of Concept Grant“ des Europäischen Wissenschaftsrats können nun weitere Schritte für den Transfer der wissenschaftlichen Erkenntnisse in die therapeutische Praxis erfolgen.

Unter Leitung der Konstanzer Wissenschaftler Prof. Dr. Thomas Elbert, PD Dr. Maggie Schauer, und Dr. Danie Meyer-Parlapanis wird ein gestufter Hilfenplan für die psychotherapeutische Gesundheitsfürsorge entwickelt, der speziell auf die Herausforderungen und Bedürfnisse von Jugendlichen in der EU zugeschnitten ist: für junge Geflüchtete, die massive Gewalt erfahren mussten und oftmals auch selbst eine erhöhte Gewaltbereitschaft aufweisen.

Junge Geflüchtete leiden oftmals an emotionalen und anderen Verhaltensproblemen

Im Rahmen von „Memo TV“ wurden die Erinnerungen Betroffener an traumatischen Stress und Gewalt in vier unterschiedlichen kulturellen Kontexten untersucht: an der deutschen Flüchtlings- und Traumaambulanz, in den Favelas von Rio de Janeiro, den Townships von Südafrika und einem burundischen Friedenskorps. Die vom Team über Jahrzehnte weiterentwickelte „Narrative Expositionstherapie“ (Narrative Exposure Therapy) wurde im Projektverlauf an die Bedürfnisse junger Überlebender von Traumata und Gewalt angepasst. Besonders Kinder und Jugendliche, die beispielsweise als ehemalige Kindersoldatinnen und -soldaten in Kriegs- oder Krisengebieten einem terroristischen und gewaltbereiten Umfeld ausgesetzt sind, leiden oftmals unter schweren emotionalen und anderen Verhaltensproblemen.

Trauma-bedingte Störungen aus der alten Heimat oder durch die Flucht

„Trauma-bezogene psychische Erkrankungen sind keine typischen Angststörungen oder Angstkonditionierungen, sondern vielmehr eine Folge dessen, wie das menschliche Gedächtnis organisiert ist“, erläutert Thomas Elbert den besonderen Ansatz seiner Arbeit. Viele junge Migrantinnen und Migranten bringen solche Trauma-bedingte Störungen aus der alten Heimat oder von einer belastenden Flucht mit in die neue Lebenswelt: Impulsivität, Misstrauen, Konzentrationsschwäche, mangelndes Selbstwertgefühl, Traumafolgesymptome und andere Probleme. Sie erschweren es den Betroffenen, sich erfolgreich in die aufnehmenden europäischen Gesellschaften zu integrieren, welche hohe Anforderungen an Leistung, Kognition und Sozialverhalten stellen. Die Folgen für Individuum und Gemeinschaft sind in mehrerer Hinsicht weitreichend und hochbedeutsam: humanitär, gesellschaftspolitisch für den sozialen Frieden, aber auch wirtschaftlich. Zur Prävention dieser negativen Auswirkungen oder zumindest deren Minderung kann die mögliche Anwendung der Forschung zu Stress und Gewalt aus dem Konstanzer Projekt „Memo TV“ einen Beitrag leisten.

Ziel: Hilfeplan als europaweites Modell

Als Ergebnis seines Transfervorhabens wünscht sich Thomas Elbert, dass der neue Hilfenplan die psychische Gesundheit und Genesung von durch Konflikte und Krieg vertriebenen und traumatisierten Jugendlichen größtmöglich unterstützt: „Wir möchten erreichen, dass sie ihre Berufsfähigkeit, ihren sozialen Status sowie ihre Autonomie bei Entscheidungen und Zukunftsmöglichkeiten wiedererlangen“. Im ersten Jahr wird das Projektverfahren über das Bodensee-Institut für Psychotherapie (bip) an der Universität Konstanz durchgeführt. Ziel ist jedoch, ein erfolgreiches Modell zu implementieren, das europaweit etabliert werden kann.

Im Jahr 2019 hat der Europäische Wissenschaftsrat seine „Proof of Concept Grants“ an 54 Projekte vergeben. Die renommierte Auszeichnung ist mit 150.000 Euro dotiert und unterstützt den Transfer bereits geförderter ERC-Forschungsprojekte in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Die Zuschüsse sind Teil von „Horizon 2020“, dem Forschungs- und Innovationsprogramm der EU. Die ausgezeichneten Projekte decken alle Bereiche der Wissenschaft ab.

Quelle: Universität Konstanz vom 03.05.2019

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