Psychische Gesundheit

Schattenkinder – Kinder psychisch erkrankter Eltern in den Fokus stellen

In einer Gesellschaft, in der die Anzahl psychisch Erkrankter stetig zunimmt, bilden Kinder mit psychisch erkrankten Eltern längst keine Randgruppe mehr. Gleichwohl werden sie zu wenig gesehen oder in Therapiekonzepten mitgedacht und bleiben so im Schatten. Die Klinik Lengerich des LWL hat sich in den vergangenen Jahren mit dieser Thematik beschäftigt und ein Projekt dafür ins Leben gerufen.

16.10.2023

Rund 500.000 Kinder in Deutschland wachsen bei einem Elternteil mit einer psychischen Erkrankung auf. Insgesamt haben rund zwei bis drei Millionen Kinder in Deutschland mindestens ein Elternteil, das psychisch erkrankt ist.

„Kinder bekommen mit, wenn Zuhause etwas nicht stimmt“, weiß Regine Groß, Pflegeentwicklerin an der LWL-Klinik Lengerich. „Oftmals können sie es nicht artikulieren, aber sie spüren genau, wenn Mama oder Papa sich anders verhalten als früher.“ Und genau hier liegt die Gefahr. Unbewusst bürden sie sich Lasten auf, um den Elternteil wiederum zu entlasten. Sie kümmern sich um den Haushalt oder sorgen für ihr jüngeres Geschwisterkind. Die Gefühle des oder der Erkrankten stehen im Vordergrund, die Belange des Kindes rücken unbemerkt in den Hintergrund. „Kinder können sehr viel kompensieren, machen viel mit sich aus. Dass es Probleme gibt, merkt man erst an anderer Stelle - zum Beispiel, wenn die Schulnoten schlechter werden“, so Groß. Dann sei das Kind sprichwörtlich aber oftmals schon in den Brunnen gefallen.

Neben genetischen Faktoren spielen auch psychosoziale Faktoren große Rolle

Groß plädiert dafür, die Kinder von Anfang an mitzudenken. „Bei der Aufnahme einer Patientin oder eines Patienten fragen wir zwar immer, ob das Kind während des Klinikaufenthalts versorgt ist. Es wird aber selten gefragt, wie es dem Kind eigentlich geht. Dabei ist das so immens wichtig.“ Kinder depressiver Eltern hätten ein fast doppelt so hohes Risiko, ebenfalls eine affektive Störung zu entwickeln, wie Kinder gesunder Eltern. Bei Eltern mit einer ausgeprägten Angststörung sei das Risiko sogar um das Siebenfache erhöht. Neben den genetischen Faktoren spielten die psychosozialen Faktoren dabei eine große Rolle. „Es ist enorm wichtig, dafür zu sorgen, dass die Kinder auch während der Erkrankung der Eltern physisch und emotional gut versorgt sind“, so Groß.

Klinik bietet mit der Diakonie zusammen Sprechstunden für Eltern und ihre Kinder an

Wahrnehmen können diese kostenlose Sprechstunde sowohl tagesklinische, ambulante als auch stationäre Patient:innen der LWL-Klinik Lengerich. Einmal monatlich werden die Sprechstunden in einem Büro in der Klinik angeboten, es sind aber auch Gespräche während eines Spaziergangs möglich.

Groß war es wichtig, dass das Angebot möglichst niedrigschwellig ist. Deswegen kann die Anonymität der Eltern in den Gesprächen auch gewahrt werden. Mit Konsequenzen, wie einer Kontaktierung des Jugendamts nach den Gesprächen, sei in der Regel nicht zu rechnen: „Nur weil ein Elternteil eine psychische Erkrankung hat, ist er nicht unfähig. Vielleicht bedarf es hier und da etwas Unterstützung und einen kleinen Tipp, aber das ist normal und macht ihn nicht zu einem schlechten Vater oder einer schlechten Mutter“ sagt Groß. Diese Sorge müsse man auch den Eltern selbst nehmen.

Nachbereitung in Therapie

Die von der Diakonie WesT durchgeführten Beratungsgespräche können in der Therapie vor- und nachbereitet werden. „Unsere Therapeut:innen schauen sich gemeinsam mit den Patient*innen die Resultate an und entscheiden dann zusammen, welche Schritte noch gegangen werden müssen.“ Das könne beispielsweise eine Mutter-Kind-Kur sein oder die Beantragung einer Haushaltshilfe. Manchmal bräuchte ein Elternteil auch einfach ein paar Tipps, wie er mit der Pubertät des heranwachsenden Kindes umgehen solle. Die Fragen und Probleme seien sehr vielfältig. Dass Therapie und Beratungsgespräche so eng miteinander verwoben sind, sieht Groß als großen Vorteil.

„Basale Dinge wie der Arbeitsplatz und das Wohlergehen der Kinder müssen oftmals erst gesichert sein, bevor sich die Patientinnen und Patienten auf eine tiefergehende Therapie einlassen können.“ Nach dem Klinikaufenthalt können Folgetermine für Beratungen vereinbart werden. Da die Diakonie WesT lediglich für Lengerich und die angrenzenden Kommunen Lienen, Ladbergen und Tecklenburg zuständig ist, helfen sie den Patient*innen dann dabei, im Kreis Steinfurt wohnortnah die passenden Ansprechpartner*innen zu finden.

Zu dem zweiten Gespräch können auch die Kinder selbst mitgebracht werden. Für sie können aber auch separate Einzeltermine vereinbart werden. Hier hat sich herausgestellt, dass gerade Jugendliche große Angst haben, selbst zu erkranken und entsprechende Hinweise darauf bei sich suchen. Es sei wichtig, die Ängste ernst zu nehmen und gemeinsam mit ihnen zu differenzieren, was ein normales pubertäres Verhalten ist und ab wann Sorgen berechtigt seien. Seit Beginn des Beratungsangebots haben insgesamt 28 Beratungen in Lengerich stattgefunden. Groß möchte noch mehr für die Kinder tun, um sie aus dem Schatten zu holen.

„Wir haben schon Kinderbücher auf den Stationen liegen, in denen auf kindliche Art und Weise diverse psychische Erkrankungen erklärt werden. So können die Eltern einfacher begründen, warum sie sich derzeit vielleicht etwas anders verhalten, als vom Kind gewohnt." Grundsätzlich sollen aber auch die Besuchsbedingungen verbessert werden. Dafür soll ein kindgerechter Raum mit Spielsachen geschaffen werden. Die Mitarbeitenden selbst sollen in Zukunft die Handlungsabläufe zum Thema Kinderschutz sowie externe Ansprechpartner*innen kennen, an die sie sich bei Bedarf wenden können. Zusammen mit dem neu gegründeten Qualitätszirkel, der aus der LWL-Klinik Lengerich sowie vielen Kooperationspartnern aus der Kinder- und Jugendhilfe besteht, möchte Groß auf die Kinder psychisch erkrankter Eltern weiterhin aufmerksam machen.

Ein gesellschaftlicher Meilenstein sei dabei auch die Enttabuisierung von psychischen Erkrankungen. Über diese zu reden, müsse genauso normal werden, wie über einen gebrochenen Arm. Merken die Kinder, dass es bei dem Thema Hemmungen und Heimlichtuereien gibt, färbe dies direkt auf sie ab und sie würden selbst auch nicht mehr offen reden. „Dass Kinder sich öffnen, über ihre Gefühle und Ängste reden und verstehen, was mit Mama oder Papa gerade los ist, ist so wichtig für ihre eigene Gesundheit und ihren weiteren Lebensweg“, erklärt Groß.

Quelle: Landschaftsverband Westfalen-Lippe vom 19. September 2023

Redaktion: Celine Richter

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