SOS-Wohnungslosenstudie
Kein junger Mensch in Deutschland sollte auf der Straße leben müssen
Schätzungen zufolge leben rund 37.000 Menschen in Deutschland unter 27 Jahren auf der Straße oder gelten als wohnungslos. Die nun veröffentlichte Wohnungslosenstudie des SOS-Kinderdorf e.V. zeigt: Diese jungen Menschen müssten nicht auf der Straße leben – denn Wohnungslosigkeit ist nicht nur ein individuelles, sondern auch ein strukturelles Problem.
20.07.2022
Für Prof. Dr. Sabina Schutter, Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf e.V., sind die Ergebnisse der SOS-Wohnungslosenstudie ein Weckruf an Politik und Gesellschaft:
„Dass es in einem reichen Land wie Deutschland so viele wohnungslose junge Menschen gibt, zeigt eindeutig: In diesen Fällen hat das Sozialsystem auf ganzer Linie versagt. In Deutschland sollte kein junger Mensch auf der Straße leben müssen.“
Junge Wohnungslose landen im Alter von durchschnittlich 16 Jahren auf der Straße und verbringen dort Studien zufolge im Mittel rund 14 Monate. Die Gründe für Wohnungslosigkeit bei jungen Menschen sind so divers wie die Betroffenen selbst, aber in vielen Fällen spielen Gewalt, Vernachlässigung oder andere negative Erfahrungen im Elternhaus eine entscheidende Rolle. Viele haben schlechte Erfahrungen mit der Kinder- und Jugendhilfe, z.B. in Pflegefamilien oder Heimen, gemacht oder scheitern an den immensen Herausforderungen beim Übergang ins Erwachsenenleben. Letzteres gilt vor allem für so genannte Care-Leaver, junge Menschen, die in stationären Jugendhilfeeinrichtungen aufgewachsen sind und zumeist mit dem Erreichen der Volljährigkeit auf sich allein gestellt sind.
Wohnungslose junge Menschen eint ein tiefes Misstrauen gegenüber Erwachsenen, eine meist negative Sicht auf sich selbst, geringe Zukunftserwartungen und auch psychische Probleme. Dazu kommen oft Schulden, Probleme mit Drogen oder offene Gerichtsverfahren wegen diversen Vergehen – mehr als genug Gründe für viele junge Menschen in Deutschland, um gesellschaftlichen Konventionen zu entsagen und auf der Straße zu leben. Zu Beginn ihrer Wohnungslosigkeit schätzen die jungen Menschen noch die so gewonnene Freiheit, dieses Gefühl geht aber schnell verloren und das harte Überleben auf der Straße dominiert den Alltag.
Laut den befragten Fachkräften sind aber nicht nur die individuellen Hintergründe der Betroffenen ausschlaggebend für die Wohnungslosigkeit, sondern auch strukturelle Gründe. Darum sprechen sich die Fachkräfte für mehr politische Anstrengungen aus, z.B. für Mietpreisbeschränkungen und mehr sozialen Wohnungsbau, für eine bessere Finanzierung der Hilfen und mehr Notschlafstellen für junge Menschen.
Der Kern der pädagogischen Arbeit ist Beziehungsarbeit
Die Beziehung zwischen Betroffenen und Fachkräften ist entscheidend für den Erfolg der Hilfe. Die jungen Menschen müssen dabei vor allem Akzeptanz erfahren – so wie sie sind, müssen sie angenommen werden. „Fachkräfte können die Betroffenen nur erreichen, wenn sie direkt und authentisch mit ihnen in Kontakt treten und sie als Akteure der eigenen Entwicklung ernst nehmen“, ergänzte die Leiterin des Sozialpädagogischen Instituts des SOS-Kinderdorfs, Dr. Kristin Teuber.
Weitere Ergebnisse der SOS-Wohnungslosenstudie sind:
- Die Wohnungslosigkeit ist eher Symptom als Ursache der Probleme der jungen Menschen.
- Psychische Erkrankungen sind unter den Betroffenen weit verbreitet und nehmen laut den Fachkräften stetig zu.
- Weder dass Jugendamt noch das Jobcenter gehen ausreichend auf individuelle Bedarfe der jungen Menschen ein.
- Die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und anderen Hilfesystemen wie der Psychiatrie oder Therapie muss dringend ausgebaut werden.
- Das Jugendamt gewährt meist keine Hilfen über das 21. Lebensjahr der Betroffenen hinaus, auch wenn junge Menschen zu diesem Zeitpunkt noch nicht selbstständig sind. Aufgrund der langjährigen Erfahrung in der Begleitung von Care-Leavern plädiert SOS-Kinderdorf schon lange dafür, die Regel-Altersgrenze für die Hilfe für junge Volljährige von 21 auf 23 Jahre anzuheben. Für junge Menschen, die unter schwierigen Bedingungen im Erwachsenenleben Fuß fassen müssen, ist dies besonders wichtig – zumal das Durchschnittsalter, in dem junge Menschen üblicherweise bei ihrer Familie ausziehen, etwa bei 24 Jahren liegt.
- Altershöchstgrenzen für Jugendhilfemaßnahmen belasten die Beziehungsarbeit mit jungen Menschen, da sie so erneut Ausgrenzung und Zurückweisung erleben.
Zur Studie
Seit über zwanzig Jahren unterstützen Sozialarbeiter:innen in SOS-Jugendhilfeeinrichtungen in Freiburg und Saarbrücken junge Erwachsene, die wohnungslos oder von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Zu den Angeboten gehören unter anderem Streetwork, Anlaufstellen, ein Wohnprojekt und Hilfe bei der Ausbildung. Im Rahmen der SOS-Wohnungslosenstudie wurden diese Fachkräfte zu ihrer pädagogischen Arbeit wie auch zu den Lebenslagen, biografischen Belastungen und Ressourcen der jungen Menschen, befragt: Wie leben junge Menschen, die wohnungslos oder von Wohnungslosigkeit bedroht sind? Vor welchen Herausforderungen stehen Sozialarbeiter:innen, die diese jungen Menschen im Rahmen der Jugendhilfe unterstützen? Welche Grundsätze, Haltungen und Erfahrungen prägen das fachliche Handeln? Und welche Rolle spielt dabei die Beziehungsarbeit?
Die SOS-Wohnungslosenstudie ist online einsehbar.
Quelle: SOS-Kinderdorf vom 12.07.2022
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