Interviewreihe Fachkräftemangel

Im Gespräch – Leiterin eines Pflegekinderdienstes

R. leitet einen Pflegekinderdienst in NRW. Im Gespräch berichtet sie von den Herausforderungen ihrer täglichen Arbeit. Akut ist ihre Fachstelle davon zwar nicht betroffen, aber sie erlebt immer wieder Situationen, in denen sie keine weitere, dringend benötigte Hilfe für Pflegekinder- und Familien finden kann. Ein Interview darüber, wie wichtig der Zusammenhalt im Team ist.

17.01.2024

Interview 1/5 – Pflegekinderdienstleitung R. (41 Jahre) aus NRW

Im Gespräch

Erzählen Sie doch mal…

„Ich bin weiblich, 41 Jahre alt und tätig in der Fachstelle des Pflegekinderdienstes. Mein Arbeitgeber ist ein Landkreis, und wir sind an den öffentlichen Dienst angegliedert. Ich bin im Pflegekinderdienst als Sozialpädagogin, Teamleitung und in Vollzeit tätig. Ich sitze zusätzlich zu den alltäglichen Aufgaben im Pflegekinderdienst in verschiedenen Arbeitsgruppen, auch über die kommunalen Grenzen hinaus. Wir sind mit anderen Ämtern und Kommunen eng vernetzt und in ständiger konzeptioneller Weiterentwicklung. Wir pflegen laufend neue Rechtsnormen in unsere Fachstandards mit ein“

Wie viele Mitarbeiter gehören aktuell zu Ihrem Team? Wie viele Stellen sind vakant?

„Im Team gibt es 7,5 Stellen, die aktuell von 10 Personen besetzt werden. Es gibt derzeit keine Vakanzen und somit keinen Fachkräftemangel in unserer Fachstelle“

Wie viele Fälle verwalten Sie? Wie viele Fälle kommen auf eine Stelle?

„Das Team ist für ungefähr 310 Pflegeverhältnisse zuständig, allerdings betreuen wir nur Vollzeitpflegeverhältnisse nach § 33 SGB VIII. Somit kommen ca. 40 Pflegeverhältnisse auf eine Vollzeitstelle. Bei uns gibt es unterschiedliche Fallkategorien, wie zum Beispiel Fälle in eigener Betreuung, in denen wir Pflegeeltern akquirieren, vorbereiten, schulen, belegen und begleiten. Es gibt aber auch Fälle, in denen wir selber keine Pflegefamilien vermitteln können, da die Bedarfe der Kinder zu groß sind. In diesen Fällen treten wir an unsere Träger heran, die professionelle Pflegeeltern bereitstellen und intensiver beraten und begleiten“

Thema Fachkräftemangel … Wie macht sich der Fachkräftemangel in Ihrer täglichen Arbeit bemerkbar?

„In unserer Fachstelle ist ein Einstellungskriterium, dass langjährige Erfahrung in den erzieherischen Hilfen vorhanden sein muss. Also in öffentlicher Hilfe, Fallsteuerung, Hilfeplanung etc., das heißt, dass unsere Stellen zu 99 % von Personal besetzt werden, welches aus dem ASD kommt. Wenn man sich aus dem ASD in unserer Fachstelle spezialisiert, wechselt man quasi vom „Feuerlöscher“ zu den „Langstreckenläufern“, hiermit ist den Mitarbeiter*innen die Intensität der täglichen Arbeit bekannt und somit kommt es eher seltener zu erneuten Wechseln. So erkläre ich mir, dass wir aktuell und auch schon länger keinen Mangel an Personal haben. Allerdings spüren wir den Fachkräftemangel außerhalb unserer Fachstelle nahezu täglich!“

Als Pflegekinderdienstleitung haben Sie Kontakt zu anderen Fachgebieten der Kinder und Jugendhilfe wie z.B. ASD, SPFHs, Kitas, Wohngruppen …? Was können Sie aus anderen Bereichen berichten?

„Wir haben als federführende Fachstelle große Schwierigkeiten mit dem Fachkräftemangel. Wenn auch nicht aktuell akut in den eigenen Reihen, ist es dennoch sehr schwierig zum Beispiel überhaupt eine sozialpädagogische Familienhilfe zu finden. Oder bei einem gescheiterten Pflegeverhältnis eine geeignete Anschlussversorgung in Form einer Einrichtung nach §34 zu finden. Stichwort Einrichtungssuche: es ist eine richtige Katastrophe! Bestimmte Clearinggruppen können wir momentan gar nicht mehr belegen, da es kein Personal mehr gibt. Hilfen, die wir in besonders schwierigen Pflegeverhältnissen installieren, können zum Teil ihre Angebote gar nicht mehr aufrechterhalten. Wenn Pflegeverhältnisse scheitern, müssen wir Wege ebnen, um das Kind auch weiterhin gut versorgt zu wissen. Nur leider ist es derzeit vielerorts so, dass egal, ob in städtischen Einrichtungen oder bei freien Trägern, die Mitarbeiter*innen auf dem Zahnfleisch gehen. Aktuell suche ich für ein 8-jähriges Mädchen einen Erziehungsbeistand und ich finde niemanden, der Bedarf ist aber sehr akut und hoch. Aus dem ASD hören wir oft, dass Stellen nicht besetzt werden können, ebenfalls erleben wir, dass Personal eingestellt wird und aufgrund der hohen Belastung vor Ort nach ca. sechs Monaten wieder kündigt.“

Wie sieht es auf der Seite der Pflegefamilien aus? Deckt das Angebot die Nachfrage?

„Zusätzlich zum Fachkräftemangel auf der Seite der Mitarbeitenden kommt der Bedarf an Pflegefamilien, den wir fast nicht mehr decken können. Durch die gestiegenen Anforderungen und die Schwere der Beeinträchtigungen der Kinder sind immer weniger Menschen bereit, den Weg als Pflegefamilie gemeinsam mit dem Jugendamt zu gehen“

Haben Sie ein sehr prägnantes Beispiel aus dem Alltag?

„Ja, ich habe ein gescheitertes Pflegeverhältnis im Kopf, wo es uns nicht möglich war, in kürzester Zeit eine institutionelle Hilfe, sprich eine Einrichtung zu finden, um dem hohen Bedarf des Kindes gerecht zu werden. Dies hatte mehrere Wechsel der Einrichtungen inklusive Aufenthalten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Diagnostikgruppen zur Folge. Die Umstände führten zu großem Unmut und Unverständnis bei allen Beteiligten. Würde es genügend Fachkräfte in genügend Einrichtungen geben, könnte man ohnehin belasteten Kindern einen solchen Weg ersparen!“

Wie ist Ihre Arbeitsbelastung? Wie geht Ihr Team mit der Arbeitsbelastung um?

„Unsere Arbeitsbelastung ist enorm hoch, da die Bedürfnisse der Kinder immer größer und anspruchsvoller werden. Die Missstände, die Vorerfahrungen, die wir händeln müssen, werden schwieriger. Ebenso sind es neue gesetzliche Vorschriften, wie das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz, die zu einer erhöhten Belastung beitragen. Die Elternarbeit ist sehr anspruchsvoll, da wir immer mit zwei Systemen, also den leiblichen Eltern und den Pflegeeltern arbeiten, die in der Regel unterschiedliche Vorstellungen über das Aufwachsen ihres Kindes haben.“

Mit welchen Sorgen/Belastungen kommen Ihre Mitarbeiter*innen zu Ihnen als Leitung?

„Die meisten Anfragen seitens der Mitarbeitenden sind einzelfallbezogen, es gibt Einzelfallentscheidungen zur Bedarfsdeckung, die allein aus Kontrollgründen über Leitungspersonen mitgetragen werden. Es sind immer wieder Anliegen dabei, in denen es darum geht, gerade in Krisensituationen Verantwortung auch auf mehreren Schultern zu verteilen, z.B. das vier-Augen-Prinzip bei Überprüfungen nach §8a Kindeswohlgefährdung. Gelegentlich sind es auch konzeptionelle Fragen. Ich bin als Leitung fast täglich in der Unterstützung, auch um die Verantwortung zu teilen und mein Team somit zu entlasten“

Welche Unterstützungsangebote werden von Seiten des Arbeitgebers gemacht?

„Es gibt bei uns eine Arbeitszeitflexibilisierung. Das heißt, es gibt Gleitzeiten. Der Dienstbetrieb muss sichergestellt sein, aber in diesem Fenster haben wir als Team die Freiheit, uns flexibel abzustimmen. Ich habe neben anderen zum Beispiel alleinerziehende Eltern, junge Eltern oder auch etwas ältere Menschen in meinem Team. Durch die Gleitzeiten besteht die Möglichkeit, besonderen Bedarfen der Mitarbeiter gerecht zu werden. Das sehe ich als große Entlastung an. Auch die Möglichkeit zur Arbeit im Home-Office, die wir seit der Corona-Pandemie haben, entlastet sehr“

Was schafft für Sie Motivation? Was für Ihr Team?

„In erster Linie haben wir ein gutes Verbundenheitsgefühl im Team. Ebenfalls Kollegialität, die hier in einem hohen Maße vorhanden ist. Ich kann für mich und auch für mein Team sagen, dass wir diese Arbeit im Pflegekinderwesen sehr gerne machen. Es ist eine schöne Arbeit, da sie keinen „Feuerwehrcharakter“ hat, sondern wir Menschen möglichst lange Zeit begleiten. Man ist Teil der Mitgestaltung von hoffentlich langfristigen Beziehungen, und das macht einfach viel Freude. Wir haben hier im Pflegekinderdienst einen herausfordernden Job und unterstützen uns gegenseitig, das schweißt zusammen. Wir können uns aufeinander verlassen und das wiederum schafft viel Motivation, auch in Zeiten des Fachkräftemangels!“

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Sophie Westerheide (freie Journalistin).

Unsere fünfteilige Interviewreihe

In den kommenden Wochen werden wir weitere spannende Einblicke in die Herausforderungen von Fachkräften in der Kinder- und Jugendhilfe bieten. Die Interviews werden verschiedene Perspektiven umfassen. Abonnieren Sie unseren Newsletter und folgen Sie uns auf Instagram und verpassen Sie keine Nachrichten zu Entwicklungen und Aktivitäten im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe.

Mehr zum Thema

Redaktion: David Bienias

Back to Top