Interview

Ein wissenschaftliches „Kinderspiel“ – App misst spielerisch Sprachkompetenzen

Sprache ist der Schlüssel zur Bildung – das gilt für alle Menschen. Je früher sich Kinder in der Landessprache ausdrücken können, desto mehr Chancen haben sie auf ihrem persönlichen Schul- und Berufsweg. Tatsächlich sind Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, häufig benachteiligt. Dem soll nun mit einer App Abhilfe geschaffen werden. Wie das funktionieren kann, erklärt der Projektleiter in einem Interview mit der Daimler und Benz Stiftung.

03.07.2023

Die App kann auf einem Tablet genutzt werden und misst spielerisch die sprachlichen Kompetenzen vier- bis sechsjähriger Kinder, sodass bei erkennbaren Defiziten bereits in der Kindertagesstätte zielgenaue Fördermaßnahmen ergriffen werden können. Die Entwicklung des digitalen Spiels wurde im Rahmen eines langjährigen Forschungsprojekts von der Daimler und Benz Stiftung mit 1,3 Millionen Euro gefördert. Der Projektleiter und Sprachforscher Jörg Roche, Institut für Deutsch als Fremdsprache, Ludwig-Maximilians-Universität München, skizziert den Weg von der Grundlagenforschung zur Anwendung in Kindertagesstätten.

Interview mit Prof. Dr. Jörg Roche über die Diagnose des Sprachstands und Fördermöglichkeiten von Vorschulkindern

Daimler und Benz Stiftung: „Herr Roche, weshalb haben Sie sich das Thema Spracherwerb gerade mit Blick auf die Jüngsten unserer Gesellschaft auf die wissenschaftliche Fahne geschrieben?“

Roche: „Im Übergang von der Kita zur Schule ist es besonders wichtig, dass Kinder über ausreichende Sprachkompetenzen im Deutschen verfügen. Das gilt übrigens nicht nur für Kinder, die Deutsch als Zweitsprache erlernen, auch Kinder mit Deutsch als Muttersprache haben häufig Förderbedarf. Unser Forschungsziel war es, ein faires, objektives und angemessenes Verfahren zu entwickeln, um den tatsächlichen Sprachstand der Kitakinder zu messen und daraus geeignete Förderkonzepte abzuleiten.“

Stiftung: „Gibt es denn bisher keine Verfahren, die die Kommunikationsfähigkeiten von Kindern beurteilen können?“

Roche: „Doch, aber die gehen häufig an den Interessen und wirklichen Kompetenzen der Kinder vorbei. Eine Testleiterin sagt ihnen da zum Beispiel, dass sie Sätze nachsprechen oder ein Bild beschreiben sollen. Das passiert meist völlig ohne Kontext oder dass die Kinder den Sinn nachvollziehen könnten. In solchen Situationen sagen die Kinder oft nichts, sie äußern sich nur bruchstückhaft, zeigen wortlos auf das Gesehene oder denken sich: Du siehst doch selbst, was der Frosch da macht, warum soll ich das beschreiben? Das tatsächliche Sprachpotenzial des Kindes oder der individuelle Förderbedarf können so nicht korrekt eingeschätzt werden. Das Ganze kann sich schlimmstenfalls sogar kontraproduktiv auswirken – etwa, wenn einem Kind eine begrenzte Kompetenz attestiert wird oder es sogar zurückgestellt wird, obwohl es mit nur wenigen Mitteln sprachlich fit gemacht werden könnte.“

Stiftung: „Was ist das Innovative an Ihrem Verfahren, was leistet es konkret?“

Roche: „Wir möchten Kinder zum bedeutungsvollen Sprechen bringen. Deswegen verzichten wir auf traditionelle Testverfahren, in denen sie durch Personen befragt werden, und arbeiten mit einer animierten Spielumgebung. Über eine spannende Cartoon-Geschichte als sogenanntes Serious Game bekommen die Kinder kommunikative Aufgaben gestellt. Sie kommunizieren dadurch mit Partnern, mit denen sie auch wirklich sprechen wollen. Das dürfen sie ganz allein, ohne Erwachsene!“

Sprachtest funktioniert ohne aktives Beisein von Erwachsenen

Stiftung: „Wie kann man sich das vorstellen?“

Roche: „Es ist eine kindgerecht-aufregende Geschichte mit Happy End. Hauptprotagonistin ist die Fee Rita, die immer wieder in Gefahr gerät, weil ein Drache sie fangen möchte. Ihr Hund Wuschel will sie aus den bedrohlichen Situationen retten; er ist gutmütig, aber ein bisschen schusselig. Das Testkind hilft seinem neuen Freund Wuschel aus der Patsche, indem es Aufgaben löst und dabei mit ihm kommuniziert – es entwickelt sich ein derart lebendiger Diskurs, dass die Kinder nicht selten am liebsten ins Tablet klettern würden, um direkt einzugreifen. Das Kind weiß aber, dass Wuschel es nur hören, aber nicht sehen kann. Es entsteht dennoch der Eindruck, dass die beiden wirklich miteinander kommunizieren. Das Ganze dauert etwa 25 Minuten.“

Stiftung: „Und das funktioniert ohne Beisein von Erwachsenen?“

Roche: „Ja, denn die Jungen und Mädchen sind von dem Spiel begeistert, deshalb ist ihre Sprache auch authentisch. Eine Aufsichtsperson ist im Hintergrund natürlich dabei, sie hat beim Sprachtest selbst jedoch keine aktive Funktion. In unserem Institut wird das Gesprochene dann über ein automatisches Sprachanalyse-Tool ausgewertet und von uns Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusätzlich überprüft. Auf dieser Basis melden wir den Kitas oder Kindergärten zurück, ob bei einem Kind tatsächlich Förderbedarf besteht. Künftig werden wir sogar noch viel präziser definieren können, worin genau der Förderbedarf besteht und wie er behoben werden kann.“

Stiftung: „Wer profitiert von den Tests und Auswertungen in welcher Form?“

Roche: „Für die Erzieherinnen und Pädagogen, deren primäre Aufgabe ja nicht in der Messung von Sprachkompetenzen besteht, ist das eine große Hilfe im Berufsalltag. Fehldiagnosen, was den tatsächlichen Sprachstand der Kinder angeht, werden vermieden. Aus unserem Projekt gibt es zwei wichtige Weiterentwicklungen: Zum einen entwickelt ein Team gerade strukturiertes Sprachfördermaterial für den Einsatz in der Schule, es heißt „Deutsch für den Schulstart“. Für den vorschulischen Bereich wird an spielerischem Fördermaterial für die Sprachbildung gearbeitet. Kinder ab zwei Jahren sollen mithilfe von Geschichten, Spielen, Büchern, Handpuppen und weiteren Materialien sprachlich zielgerichtet gefördert werden. Und nicht zuletzt nutzen wir die anonymisierten Daten der vielen hundert getesteten Kinder für eine effiziente Grundlagenforschung.“

Stiftung: „Welche Rolle spielt für Sie die Unterstützung durch die Daimler und Benz Stiftung?“

Roche: „Begonnen haben wir mit Grundlagenforschung zur Entwicklung dieses spielerischen Diagnose-Tools. Die Daimler und Benz Stiftung hat genau das im Rahmen des Formats „Ladenburger Kolleg“ gefördert und uns dabei völlig ergebnisoffen, kollegial und großzügig unterstützt. Wissenschaftlich hatten wir freie Hand und damit ideale Arbeitsbedingungen. Unser Ziel war es, auf Basis dieser Grundlagenforschung ein praktisches und einfach handhabbares Werkzeug für den Einsatz im Kita-Alltag zu entwickeln.“

Erkenntnisse werden mit biografischen Daten abgeglichen

Stiftung: „Welche grundlegenden Erkenntnisse konnten Sie im Sinne der Kinder gewinnen?“

Roche: „Wir gleichen die erhobenen Sprachdaten mit biografischen Daten der Kinder ab, etwa Alter, Geschlecht, Ausgangssprache und Zeitpunkt des Deutschlernens. Inzwischen wissen wir, dass die spezifische Ausgangssprache der Kinder auf den Spracherwerb im Deutschen keinen wirklich begrenzenden Einfluss hat. Auch Alter und Dauer spielen jeweils nur eine bedingte Rolle. Primär geht es bei Sprachenerwerb um die Qualität der Auseinandersetzung mit Sprache: Kinder können in kürzester Zeit auch zu einem späteren Zeitpunkt exzellent Deutsch lernen. Auch der gleichzeitige Erwerb von mehr als einer Sprache ist grundsätzlich kein Problem, sondern kann katalytische Wirkung haben. Denn Kinder sind wie Wissensschwämme, die alles aufsaugen, wenn sie die richtigen Impulse bekommen.“

Stiftung: „Was motiviert Sie persönlich zu dieser Forschung?“

Roche: „Wir sind ein ganzes Wissenschaftlerteam, das zum Fremdsprachenerwerb forscht. Neben linguistischen Interessen verfolgen wir vor allem gesellschaftliche. Sämtliche aktuellen Studien zeigen, wie wichtig Sprachkompetenzen für die schulischen und beruflichen Laufbahnen sind. Sie bilden die Grundlage für bessere Bildungschancen. Wir haben dank der Unterstützung durch Kindertagesstätten in ganz Deutschland den Nachweis erbracht, dass man die Sprachstandsdiagnose einfach und vernünftig gestalten und auf dieser Basis Kinder spezifisch und zielgenau fördern kann. Viele der heutigen Fördermaßnahmen sind ineffizient, erfolgen nach dem Gießkannenprinzip und werden den wirklichen Bedarfen der Kinder nicht gerecht. Elementare Chancen, die wir als Bildungsgesellschaft den Kindern schulden, werden durch eine mangelhafte Diagnose und unverständige Förderpraxis verbaut oder gar verhindert. Und der Gesellschaft entsteht ein volkswirtschaftlicher Schaden, den eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2008 einmal auf jährlich 13 Milliarden Euro beziffert hat. Die Verantwortlichen der Sozial- und Bildungspolitik sind schon lange gefragt, nicht nur zu reden und jedes Jahr neu zu lamentieren, sondern endlich zu handeln.“

Stiftung: „Was erwarten Sie vom Fachkolloquium am 19. und 20. Juni 2023 in München?“

Roche: „Es kommt eine hochkarätig besetzte, interdisziplinäre Fachcommunity zusammen. Unser erklärtes Ziel ist es, mit der App in den bundesweiten Regelbetrieb in Kitas zu kommen; bislang laufen nur im Saarland groß angelegte Pilotstudien. Wir erhoffen uns von der Tagung eine Multiplikatorenwirkung für die praktische Umsetzung.“

Stiftung: „Was wünschen Sie sich für die Zukunft?“

Roche: „Ich hoffe, dass unser Verfahren in allen deutschsprachigen Ländern schnellstmöglich Standard wird. Sogar auf internationaler Ebene kann es als Muster für eine effiziente und ökonomische Sprachstandsdiagnose bei Vorschulkindern dienen, denn unser Ansatz und unsere technologischen Methoden sind übertragbar. Außerdem wünsche ich mir, dass endlich effiziente Fördermaßnahmen auf den Weg gebracht werden. Sprache zählt zu den Grundfesten der Bildung und Spracherwerb ist eigentlich so einfach. Viele Probleme, die wir derzeit sehen, müssten einfach nicht sein – und alle könnten profitieren! “

Quelle: Daimler und Benz Stiftung vom 19.06.2023

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