Familiale Betreuung

Fachliche Grundlagen und Spannungsfelder

Familiale Betreuung ist seit 1958 ein Kernangebot des SOS-Kinderdorfvereins. Seitdem haben sich gesellschaftliche Vorstellungen von „Familie“ und die Formen familialen Zusammenlebens weiterentwickelt – und damit auch die Ausgestaltung der Familialen Betreuung im Verein. Doch was genau zeichnet Familialität eigentlich aus? Welche fachliche Grundlage steht dahinter? Und was bedeutet es im Alltag, familial zu leben und professionell zu handeln?

03.04.2023

Familiale Betreuung ist ein Kernangebot des SOS-Kinderdorfvereins. 1958 hat Hermann Gmeiner mit der Gründung des ersten SOS-Kinderdorfs Kindern ohne familiäre Fürsorge eine Alternative zur damaligen institutionellen Heimerziehung gegeben: Die Kinder sollten mit einer Mutter und mit Geschwistern in einem schützenden, nährenden und naturnahen Umfeld aufwachsen.

Seitdem haben sich gesellschaftliche Vorstellungen von „Familie“ und die Formen familialen Zusammenlebens weiterentwickelt – und damit auch die Ausgestaltung der Familialen Betreuung im Verein. Familie ist heute vielfältiger denn je ─ ihre Formen, ihr Alltag, ihre Biografien. Fachliche Anforderungen an Fachkräfte und insbesondere an Kinderdorfmütter/-väter haben sich genauso gewandelt wie deren persönliche Lebensentwürfe und Ziele.

Doch was genau zeichnet Familialität eigentlich aus? Welche fachliche Grundlage steht dahinter? Und was bedeutet es im Alltag, familial zu leben und professionell zu handeln? Familialität in der stationären Betreuung kann trotz einiger Spannungsfelder ein ganz besonderes Qualitätsmerkmal sein ─ und jungen Menschen, die nicht in ihren Herkunftsfamilien leben können, ein gelingendes Aufwachsen ermöglichen. Entscheidend sind hierfür gute Rahmenbedingungen.

Kinder, in deren Herkunftsfamilie aus verschiedenen Gründen fürsorgliche und entwicklungsförderliche Bedingungen nicht ausreichend gegeben sind, finden in SOS-Kinderdorffamilien und in anderen familial gestalteten Betreuungssettings, z.B. in familialen Wohngruppen, ein vorübergehendes oder auch langfristiges Zuhause. Unsere Angebote passen wir kontinuierlich an gesellschaftliche Entwicklungen sowie aktuelle Bedarfe an. Große Herausforderungen, denen sich der Verein und die stationäre Kinder- und Jugendhilfe insgesamt zu stellen haben, sind:

  • In einigen Einrichtungen steigt insbesondere für jüngere Kinder die Nachfrage seitens der Jugendämter an längerfristigen familialen Betreuungsformaten. 
  • Zugleich erschweren Fachkräftemangel und -fluktuation zusammen mit gesetzlichen Vorgaben (bspw. der EU-Arbeitszeitrichtlinie) die Umsetzung familialer Betreuungssettings in die Praxis.

Familialität und Doing Family 

Was zeichnet familiale Betreuung aus? Geborgenheit und Sicherheit, verlässliche Beziehungen, Wertschätzung und unterstützende Gemeinschaft ─ gelingende Familialität steht dafür, dass altersentsprechende Bedürfnisse des Kindes erfüllt und seine individuelle Entwicklung gefördert werden ─ in einem Setting, das Nähe und Vertrauen, Kontinuität und Zugehörigkeit sowie Fürsorge sicherstellt. 

  • Familialität, die im Alltag erfahrbar wird und sich durch eine beziehungsreiche Nähe im Miteinander der Fachkräfte und jungen Menschen auszeichnet, ist Kernprinzip unserer familialen Angebote. Dabei kann Familialität im Alltag der SOS-Angebote zwar jeweils unterschiedlich ausgestaltet sein, hat aber stets eine gemeinsame Perspektive, Haltung und Sprache. 
  • Der Doing-Family-Ansatz aus der Familienforschung (vgl.  Karin Jurcyzk et al.) ist die fachlich-theoretische Grundlage der familialen Angebote bei SOS-Kinderdorf. Dieser versteht Familie nicht als statisch und selbstverständlich, sondern als einen im alltäglichen Miteinander dynamischen und kontinuierlichen Aushandlungs- und Herstellungsprozess zwischen allen Beteiligten. 
  • Für die Heimerziehung bietet der Ansatz eine gute Orientierung, um Dimensionen von Familialität wie Zugehörigkeit aber auch Nähe und Sorgepraktiken zu reflektieren, den gemeinsamen Alltag familial zu gestalten ─ sowie nach außen auch darzustellen.

Familiale Betreuung im institutionellen Gefüge ─ ein Spannungsfeld 

Familial leben, professionell handeln: In der familialen Betreuung wird mehr denn je das Spannungsfeld von „öffentlicher Erziehung“ und „privatem Familienleben“ deutlich. 

  • Wie lassen sich in diesem speziellen Gefüge institutionelle und familiale, professionelle und private Anteile unterscheiden, aber auch gut miteinander verbinden? 
  • Wie lassen sich im Alltag Nähe und Distanz, Hingabe und Fachlichkeit, Berufung und Beruf gut ausbalancieren?

SOS-Kinderdorffamilie: komplexe Aufgaben- und Rollenvielfalt für Fachkräfte 

Mehr Zeit, mehr Zuwendung – vor allem für junge Kinder in bindungssensiblen Phasen: Das Leben und Arbeiten in einem kleinen, familialen Rahmen wie z.B. in einer Kinderdorffamilie stellt an die Fachkräfte hohe Anforderungen, um förderliche emotionale Bedingungen wie Nähe, Kontinuität, Zugehörigkeit, Sicherheit und Überschaubarkeit, aber auch die notwendige professionelle pädagogische Begleitung zu gewährleisten. 

Grundsätzlich, aber auch tagtäglich stellt das besondere Setting der familialen Betreuung – insbesondere in der verdichteten Form der Kinderdorffamilie – für Betreuende eine komplexe und zugleich herausfordernde Rollenvielfalt dar ─ mit Auswirkungen auch auf das berufliche Selbstverständnis sowie das private Leben der pädagogischen Fachkräfte und insbesondere der Kinderdorfmütter und -väter. 

  • Ein hohes Maß an Professionalität und Fachlichkeit ist erforderlich, um sich in diesem vielschichtigen Beziehungsgefüge handlungssicher zu bewegen.
  • Hierzu gehört auch der reflexive Umgang mit inneren Ressourcen (z.B. der eigenen Motivation oder Identifikation mit dem (als sinnhaft empfundenen) Arbeitsumfeld), aber auch mit Stressoren und Belastungen (z.B. mit Paradoxen, Überforderung oder Unzufriedenheit).

Träger: Gute strukturelle Rahmenbedingungen sind entscheidend

Familialität in der stationären Betreuung kann zu einem ganz besonderen Qualitätsmerkmal werden ─ und jungen Menschen, die nicht bei ihren Herkunftsfamilien leben können, ein gelingendes Aufwachsen ermöglichen. Erforderlich ist hierfür ein entsprechend ausgestatteter Organisationsrahmen, der

  • umfangreiche Unterstützung und Begleitung, aber auch Wertschätzung und Mitbestimmungsmöglichkeiten
  • ebenso wie einen guten Personalschlüssel sowie angemessene und möglichst flexible Arbeitsbedingungen sicherstellt (z.B. individuellen Lösungen für Auszeiten und Unterstützung, die zu einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und persönlicher Lebensplanung beitragen).  

Hierzu gehört auch die Ausgestaltung der Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie. Bei entsprechender Perspektivklärung kann die aktive Einbindung der leiblichen Eltern oder anderer Familienangehörige im stationären Setting z.B. durch „Erziehungspartnerschaften" (Parenting) angestrebt werden. 

Kinderschutz und Beteiligung sicherstellen

Wenn Kinder in einem familialen Angebot der stationären Erziehungshilfe aufwachsen, ist ein besonders sensibler Umgang mit Kinderschutzthemen erforderlich. Die größere Privatheit eines kleineren familialen Rahmens kann das Risiko eines „geschlossenen Systems“ erhöhen ─ Öffnungen nach und Zugänge von außen sind als Gegengewicht daher stets sicherzustellen.  

  • Systematisierte Schutzkonzepte und -prozesse müssen zur Basis des pädagogischen Alltags gehören – und darin auch gelebt werden.   
  • Ebenso wichtig sind altersgerechte und immer wieder nachjustierbare Beschwerde- und Beteiligungsmöglichkeiten.  

Redaktion: Annika Klauer

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