Sozialpolitik

„Verfassungsrechtlich bedenklich“ – Expert/-innen kritisieren das Bildungs- und Teilhabepaket

Experten/-innen haben vor der Kinderkommission des Deutschen Bundestags verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepaket geäußert und zudem Höhe und Betrechnungsgrundlage der Regelsätze, wie sie für etwa zwei Millionen junge Menschen aus Hartz-IV-Familien gelten, kritisiert.

22.06.2012

Die Auseinandersetzung mit der sozialen Lage von Kindern und Jugendlichen ist in dieser Legislaturperiode ein Schwerpunkt der Kinderkommission. Aus diesem Grund hatte die Kommission am 13. Juni 2012 Prof. Dr. Anna Lenze, Sozialrechtlerin an der Hochschule Darmstadt, und Dr. Rudolf Martens, Leiter der Forschungsstelle des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, eingeladen.

Beide Experten waren sich in ihrer negativen Bewertung der Veränderungen in der Sozialhilfe und der von der Regierung mit dem Bildungs- und Teilhabepaket eingeführten neuen Regelungen einig. Das größte Problem sahen sie einhellig in der Tatsache, dass die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets nur für knapp die Hälfte der leistungsberechtigten Kinder und Jugendlichen abgerufen werden. Das heißt im Umkehrschluss: Für die Hälfte der Kinder mit Bedarfsansprüchen nimmt der Staat seine verfassungsmäßige Pflicht der staatlichen Gewährleistung menschenwürdiger Bedingungen des Aufwachsens und des entsprechenden Leistungsbezugs nicht wahr. Fast die Hälfte der Kinder müssen also ein Leben unterhalb des Existenzminimums bestreiten.

Nur eine Minderheit der Berechtigten erhält Leistungen für kulturelle Teilhabe

Kulturelle Teilhabegerechtigkeit wird über das Bildungs- und Teilhabepaket überhaupt nicht hergestellt, denn für diesen Leistungsbereich werden nach einer Untersuchung des DGB nur für 21 Prozent der berechtigten Kinder- und Jugendlichen in städtischen Räumen und nur für 14 Prozent in ländlichen Räumen Anträge gestellt. Was das durch die UN-Kinderrechtskonvention abgesicherte Recht auf Teilhabe am Kulturellen Leben betrifft, kommt der Staat seiner gesetzlichen Leistungspflicht somit kaum nach: „Für die absolute Mehrheit der Kinder bleibt der Bedarf an Persönlichkeitsentwicklung ungedeckt“, so Lenze.

Verfassungsrechtlich bedenklich sei außerdem, dass Teilhabebedarfe nur da anerkannt und die vorgesehenen 10 Euro entsprechend ausgezahlt werden, wo Angebote vorhanden seien. „Wo nichts ist, da ist auch kein Anspruch“, monierte Lenze. Damit werde der Gleichbehandlungsgrundsatz aufgehoben und Kinder würden in ihren kulturellen Teilhabemöglichkeiten unzulässig benachteiligt. Abgesehen davon seien 10 Euro für soziale und kulturelle Teilhabe nicht bedarfsdeckend.

Kein Beleg, dass es besser ist, Eltern kein Geld auszuzahlen

Deutliche Kritik äußerten Lenze und Martens auch an der Höhe der Regelsätze nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II: Diese basierten auf sehr zweifelhaften Berechnungsmodi und seien wenigstens um 8 bis 9 Prozent zu niedrig angesetzt. Von einer Regelung, Bedarfe an den Eltern vorbei wie beim Bildungs- und Teilhabepaket durch Sachleistungen für Kinder zu regeln, raten die Experten ab. Auch diese Regelung missachte den Gleichbehandlungsgrundsatz. Es gebe auch keinen wissenschaftlichen Nachweis, dass es zur Gewährleistung des Kindeswohls gerechtfertigt ist, Eltern keine Geldleistungen für eine bessere Teilhabe und Bildung ihrer Kinder zukommen zu lassen. „Die Vorurteile, den Eltern kein Geld zu geben, weil es bei den Kindern nicht ankommt, haben Untersuchungen nicht belegt“, sagte Martens. Beide Experten sprachen sich für die Notwendigkeit höherer Regelsätze aus und gaben zu bedenken, dass man es nicht mit einem kurzfristigen Leistungsbezug – also einer leicht zu verschmerzenden Zeit – zu tun habe. In der Regel müssten Familien mehr als zwei Jahre lang von der Grundsicherung leben.

Im falschen System

Lenze und Martens vertraten außerdem die Ansicht, dass der gesetzliche Rahmen des SGB II (Grundsicherung) ein fachfremdes und deshalb unpassendes System sei. Deshalb flössen deutlich weniger Mittel ab, als bereitgestellt würden. Man geht derzeit davon aus, dass nur ein Fünftel der eingeplanten Mittel abgerufen wird. Prof. Lenze berichtete, dass für die Stadt Darmstadt 33 Prozent der geplanten Mittel verbraucht wurden, aber 40 Prozent davon in die Verwaltung geflossen seien. Mit einer Regelung im Bereich des SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) und einem Rechtsanspruch wäre zu erwarten, dass die 1,2 Milliarden Euro an geplanten Leistungen besser abfließen. Beide Experten sprachen sich deshalb für eine Verankerung der Leistungen für Bildung und Teilhabe als Leistungsgesetz mit Rechtsanspruch im SGB VIII aus.

Auch müssen nach Meinung von Martens und Lenze die Schulen stärker eingebunden werden. Beide halten eine deutlich verbesserte Bildungsarbeit mit den Eltern für notwendig, um die Bildungs- und Teilhabechancen der Kinder gerechter zu gestalten. Dies koste zwar mehr Geld, sei aber erfolgreich, wie Erfahrungen aus der USA zeigten.

Quelle: BKJ

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