Sozialpolitik

Bundesteilhabegesetz in NRW: Mehr Selbstbestimmung – und erst mal mehr Arbeit

In wenigen Wochen startet die dritte und zugleich umfangreichste Reformstufe des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Ab dem 1. Januar 2020 gelten neue Regelungen, die eine individuellere Unterstützung von Menschen mit Behinderung sicherstellen sollen. Allerdings bedeuten die Neuerungen in der Übergangsphase einen erheblichen Umstellungsaufwand.

02.12.2019

Ab dem 1. Januar 2020 gelten neue Regelungen, die eine individuellere Unterstützung von Menschen mit Behinderung sicherstellen sollen. „Das Gesetz ist ein wichtiger Schritt hin zu einem selbstbestimmteren Leben“, erklärten die Sozialdezernenten der Landschaftsverbände Westfalen-Lippe (LWL) und Rheinland (LVR), Matthias Münning und Dirk Lewandrowski, anlässlich des Internationalen Tages der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember.

Neuer Antrag beim Sozialamt, neue Verträge

„Allerdings bedeuten die Neuerungen in der Übergangsphase einen erheblichen Umstellungsaufwand, der vielen betroffenen Menschen im Moment zu schaffen macht“, so Dirk Lewandrowski. Dies betrifft in Nordrhein-Westfalen insbesondere die rund 43.500 Menschen mit Behinderungen, die in einer Wohneinrichtung leben. Denn Kern des neuen Gesetzes ist die Trennung der sogenannten Fachleistungen, etwa Assistenzen, von den Leistungen zum Lebensunterhalt, zum Beispiel für Essen und Miete (sogenannte existenzsichernde Leistungen). Bisher finanzieren die beiden Landschaftsverbände in NRW alle Hilfen in diesen Heimen pauschal. In Zukunft wird nur die fachliche Unterstützung aufgrund der Behinderung, die „Eingliederungshilfe“ von den Landschaftsverbänden bezahlt. Die „existenzsichernden Leistungen“ übernehmen die Städte und Kreise – individuell zugeschnitten auf die jeweilige Person.

Mehr Arbeit während des Übergangs lohnt sich

„Diese Neuerung ist zunächst mit Aufwand verbunden, weil Betroffene oder deren gesetzliche Betreuerinnen und Betreuer einen neuen Antrag beim Sozialamt stellen müssen. Hinzu kommen Verträge über Miete und Betreuungsleistungen mit den jeweiligen Wohneinrichtungen“, erläutert Matthias Münning. „Das große Ziel ist jedoch ein Mehr an Selbstbestimmung: Menschen mit Behinderungen können damit stärker nach ihren eigenen Wünschen entscheiden: will ich so wohnen, will ich dort verpflegt werden – will ich von diesem oder dem anderen Dienstleister gefahren werden.“ „Das bisherige pauschalierte Verfahren war zwar für alle Beteiligten einfacher“, so Lewandrowski. „Aber Lebensumstände sind unterschiedlich – ein selbstbestimmteres Leben für Menschen mit Behinderungen ist daher nur möglich, wenn jeder Fall individuell betrachtet wird.“

Architekten des eigenen Lebens

Ein zweites wichtiges Element der Reform: welche Unterstützung ein Mensch mit Behinderung braucht und wie die Unterstützung geplant wird, soll anders ermittelt werden. Mit jeder Person, die Unterstützung beantragt, wird in einem Gespräch der konkrete Bedarf besprochen: welche Einschränkungen hat der Mensch, was sind seine Ziele, wie ist seine individuelle Lebenssituation – unabhängig davon, wie der Mensch mit Behinderungen wohnt.

Während die Landschaftsverbände in NRW bereits seit Jahren eine solche individuelle Hilfeplanung für Menschen mit ambulanter Unterstützung in der eigenen Wohnung praktizieren, wird dies jetzt auch schrittweise für Menschen in Wohneinrichtungen und Beschäftigte in Werkstätten eingeführt. Laut Münning bedeutet das Bundesteilhabegesetz daher vor allem für diese großen Gruppen deutlich mehr Mitbestimmungsrecht: „Menschen mit Behinderungen haben stärker die Chance, Architekten des eigenen Lebens zu werden.“ Dafür lohne sich auch der Umstellungsaufwand.

Niemand muss ausziehen

„Um den Übergang so einfach wie möglich zu gestalten, unterstützen die Landschaftsverbände alle Beteiligten bei jedem Schritt in diesem Prozess“, so Lewandrowski. Dazu gehöre auch, Ängste zu nehmen – etwa die vor dem Verlust des Lebensumfeldes. „Aufgrund des BTHG wird kein einziges Wohnheim geschlossen. Alle Menschen können wohnen bleiben, wo sie bisher leben – niemand muss ausziehen.“

Wer bezahlt Mehraufwand – Verfassungsbeschwerde

Die neuen Verfahren werden nach Einschätzung von LVR und LWL für Landschaftsverbände und Kommunen mit erheblichen Kosten verbunden sein werden. Für diesen Fall fordern sie finanzielle Unterstützung vom Land. Deswegen haben die Landschaftsverbände und vier Kommunen Verfassungsbeschwerde gegen das Land NRW eingelegt. Lewandrowski: „Wer bestellt, bezahlt. Wichtig ist uns aber: Mit der Verfassungsbeschwerde richten wir uns nicht gegen das Gesetz, sondern dagegen, dass die Kommunalverbände und die Kommunen mit den Kosten allein gelassen werden.

Hintergrund

Beide Landschaftsverbände übernehmen mit dem BTHG neue Aufgaben in der Unterstützung für Menschen mit Behinderung von den Städten und Kreisen: LVR und LWL werden zuständig für alle Unterstützungsleistungen für Erwachsene. In Bezug auf Kinder und Jugendliche mit (drohender) Behinderung werden alle einrichtungsbezogenen heilpädagogischen Leistungen bis zum Schuleintritt, also in den Bereichen Frühe Förderung und Kindertagesbetreuung, bei LVR und LWL gebündelt. Die Änderungen des Gesetzes betreffen in NRW etwa 250.000 Menschen.

Mehr Infos

LVR und LWL haben für Betroffene eine Telefonberatung eingerichtet:

  • Tel 0251 591 5115 für Westfalen-Lippe
  • Tel 0221 809 6800 (für Erwachsene) für das Rheinland
  • Tel 0221 809 4120 (für Kinder und Jugendliche) für das Rheinland

Die wichtigsten Fragen und Antworten zum neuen BTHG sind im Internet für Betroffene zusammengestellt.
Die Internetportale finden sich hier: www.bthg2020.lwl.org und www.bthg.lvr.de

Quelle: Landschaftsverband Rheinland (LVR) vom 29.11.2019

Redaktion: Kerstin Boller

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