Jugendpolitik

Wie Perspektiven junger Menschen in Corona-Zeiten aus dem öffentlichen Blick entschwinden…

Prof. Dr. Gunda Voigts von der HAW Hamburg blickt in dieser essayistischen Betrachtung mit Sorge darauf, dass die Interessen von jungen Menschen im Jugendalter derzeit aus dem Fokus geraten sind. Sie fordert Freiräume für Jugendliche sowie eine Teilöffnung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Außerdem appelliert sie politisch Verantwortliche die Bedürfnisse und Interessen einer ganzen Generation wieder in den Blick nehmen.

14.05.2020

Verfasst von Prof. Dr. Gunda Voigts von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg
Fakultät Wirtschaft und Soziales - Department Soziale Arbeit

Datum der Veröffentlichung: 01. Mai 2020

Jugendliche brauchen Freiräume!

„Jugendliche brauchen Freiräume“ – dieser Appell ist nicht neu, bekommt in Corona-Zeiten aber eine neue Dimension. Den 12- bis -18-Jährigen stehen gerade keinerlei gesellschaftliche Frei- oder Sozialräume zur Verfügung, die es ihnen ermöglichen würden, ihrem jugendlichen Leben nachzugehen. In dieser Altersphase ist es enorm wichtig, sich von der Welt der Eltern, der Lehrer*innen, der Erwachsenen abzusetzen, sich mit Peers zu treffen und gemeinsam Neues auszuprobieren. Wie soll das gehen, wenn für sie sämtliche Räume und Orte außerhalb der zudem sehr unterschiedlich aussehenden häuslichen Umgebung seit mehreren Wochen verschlossen bzw. im wörtlichen Sinne geschlossen sind?

Der 15. Kinder- und Jugendbericht hat die Kernherausforderungen an junge Menschen im Jugendalter auf den Punkt gebracht: Qualifizierung, Verselbstständigung, Selbstpositionierung. Durch Qualifizierung sollen Jugendliche eine soziale und berufliche Handlungsfähigkeit erlangen, werden Kompetenzen erworben, um die eigene wie gesellschaftliche Zukunft zu gestalten. Mit Verselbstständigung ist der Auftrag verbunden, soziale, politische wie ökonomische Eigenständigkeit zu erlangen, z.B. durch gesicherte Erwerbsarbeit oder eigenständiges Wohnen, aber eben auch in sozialen Bindungen, Beziehungen zur Herkunftsfamilie und neuen Lebensformen. Die Kernherausforderung Selbstpositionierung meint das Finden einer persönlichen, souveränen Haltung zu sich selbst, dem Gegenüber, den Mitmenschen. Sie verlangt danach, die eigenen Anliegen in ein Verhältnis zur Gesellschaft zu setzen und durch politische Teilhabe Gesellschaft mitzuprägen. Wie kann das für Jugendliche in Covid-19-Zeiten möglich sein?

Jugendliche brauchen Freiräume zur Ermöglichung von Selbstpositionierung

Bereits im 15. Kinder- und Jugendbericht ist kritisiert, dass der Schwerpunkt in den politischen Debatten und Weichenstellungen fast ausschließlich auf den Aspekt der Qualifizierung und, wenn überhaupt, ab und an noch auf die Verselbstständigung gerichtet sei, die Herausforderung der Selbstpositionierung aber kaum Beachtung finde (Deutscher Bundestag 2017). Es ist nach knapp zwei Monaten im als „Lockdown“ bezeichneten gesellschaftlichen Corona-Krisen-Modus zu beobachten, dass diese Fokussierung sich in dramatischer Art und Weise verstärkt und die Interessen von jungen Menschen im Jugendalter dabei komplett aus dem Fokus geraten sind.

Das „Projekt Erwachsen-werden“ zu meistern, ist (noch) schwieriger geworden. In der Krise im Blick erscheint es auf jeden Fall nicht. Wie so oft wird die „Altersgruppe Jugend“ in den derzeitigen Entscheidungen nicht nur nicht beteiligt, sondern vor allem werden ihre Interessen weder berücksichtigt noch gehört. Mitunter fehlen in diesen so anderen, uns alle überraschenden Zeiten sogar die Stimmen, die ihre Interessen überhaupt artikulieren. Zugegeben gerade ein altersübergreifendes Phänomen: Denn auch die vielen älteren Menschen in Pflegeeinrichtungen oder zuhause fragt niemand, wie sie sich ihr Leben eigentlich derzeit vorstellen und wie ihre Ideen des Zusammenlebens zwischen den Parametern Schutz und Freiheit in dieser Pandemie aussähen.

Es erscheint menschenrechtlich fragwürdig, auf jeden Fall aber unverständlich, wenn in dieser Zeit, in der in allen Altersgruppen viele Menschen aus sehr unterschiedlichen Gründen vor große psychische Herausforderungen gestellt sind, bei den Entscheidungen für die Jugendphase der Fokus ausschließlich auf die Qualifizierung gelegt wird.

Einige Beispiele, die diese Gedanken konkretisieren, seien aufgeführt:

  • Die zeitliche Staffelung der Schulöffnungen orientiert sich ausschließlich daran, wer gerade besondere Leistungen vollbringen soll: „Abschlussjahrgänge“, die, als sei nichts gewesen, Prüfungen schreiben sollen, bitte zuerst. Wer von uns Erwachsenen, wer von den Entscheider*innen in den Kultusbehörden möchte unter den derzeitigen Bedingungen seine für die Berufseinmündungsphase so wichtigen Schulabschlussprüfungen schreiben? Hochschulen haben bereits an vielen Orten ihre Prüfungsordnungen flexibilisiert, bieten „Nullversuche“ an. Das heißt: Studierende können die Prüfungen versuchen; wenn sie nicht bestehen, wird dies nicht als Fehlversuch gewertet. Schüler*innen aber müssen ihre Prüfungen schreiben, als sei nichts gewesen. Ihnen wird weder die Wahl noch eine Alternative angeboten.
  • In den Schulöffnungen der Bundesländer folgen dann als nächstes die Viertklässler, wohl damit bei der Einsortierung in Schullaufbahnen bloß nichts schiefläuft. Das weitere Öffnungsszenario orientiert sich daran, wer nach Meinung Erwachsener am besten zuhause lernen könne: Das seien die Jugendlichen! Deshalb bleiben sie, weitestgehend auf sich allein gestellt mit einer Fülle schulischen Lernstoffs, am längsten zu Hause. Sie sind es damit, die ihre Freund*innen am längsten nicht sehen dürfen. Und das, obwohl wir aus der Jugendforschung wissen, wie wichtig die Begegnungen mit Gleichaltrigen am Ort Schule gerade in dieser Altersgruppe sind. Wie soll da Verselbstständigung und Selbstpositionierung gelingen? Diese Frage spielt in den Debatten erkennbar keine Rolle.
  • Schulen, als scheinbar einzig relevanter Bildungsort kategorisiert, werden (wenn auch langsam) geöffnet. Kitas und Schulen bieten Notbetreuungen an, wenn „Systemrelevanz“ der Eltern besteht. Offene Kinder- und Jugendeinrichtungen müssen die Türen, durch Verwaltungsordnungen angewiesen, weiterhin geschlossen halten. Ein Nachdenken über eine baldige, wenigstens (Teil-)Öffnung wird in den bundes- wie länderpolitischen Debatten und Pressekonferenzen nicht einmal benannt. Dabei wissen wir: Sie sind Orte von und für Jugendliche, bieten Freiräume – und für einige Jugendliche auch den Raum mit der vermeintlichen „Nicht-Systemrelevanz“ der eigenen Eltern fertigzuwerden und eher schwierigen sozialen Verhältnissen zu Hause zu entfliehen.

Die Öffnung von Schulen, der Blick auf die Optionen, einen möglichst guten Schulabschluss zu erreichen, sind Überlegungen, die ihre Berechtigung haben. Denn natürlich: Qualifizierung ist eine der drei Kernherausforderungen des Jugendalters – und sie entscheidet über weitere Lebenswege. Bitter – nein katastrophal ist aber, dass die Überlegungen einzig und allein an dieser Stelle stehen bleiben: Was ist mit den Optionen für die Verselbstständigung? Was mit den Optionen zur Selbstpositionierung? Sind sie nicht mindestens so wichtig, weil auf ihrem Weg der Entwicklung Selbstsicherheit, Stärke in der Gemeinschaft, stützender Austausch mit anderen stattfinden kann? Die Jugendpsychologie wie Hirnforschung zeigt uns auf, dass es in der Jugendphase (insbesondere im gerade weltweiten Krisenmodus) für das Aufwachsen wichtigere Dinge gibt, als ein sich gerade komplett umbildendes Gehirn mit vermeintlich notwendigem Wissen zu füllen. Nicht nur aus Kinder- und Jugendschutzaspekten ist es fatal, junge Menschen nahezu komplett in private Räume zurückzudrängen und als einziges Licht am Ende des Tunnels an die Öffnung von Schulen zu denken. Jugendliche benötigen Menschen, die sie (auch psychisch) unterstützen können. Was Jugendliche in dieser Situation am wenigsten gebrauchen können, dürfte Leistungsdruck durch Homeschooling sein.

Mediale Blicke auf Jugendliche

Der mediale und öffentliche Blick auf Jugendliche wird ihrer Rolle und ihrem Engagement selbst in gewöhnlichen Zeiten meistens wenig gerecht, fokussiert häufig auf Randerscheinungen, Delinquenz oder Extremismus. Eine erfreuliche Wendung zeichnete sich dank „Fridays-for-Future“ zumindest in Teilen ab. Derzeit ist ein „Rollback“ zu beobachten: Kinder werden im ARD-Brennpunkt als „Virenschleudern“ bezeichnet, Jugendliche in den Printmedien und den Nachrichtenportalen als unverantwortlich handelnde Gruppe vorgeführt, die „Corona-Partys“  oder „Geburtstage mit Lagerfeuer“ feiere und sich in großen Gruppen an abgelegenen Plätzen treffe. Jugendliche werden als negative Wesen assoziiert, die die Begrenzungen brechen und dafür nun auch Strafe zahlen sollen. Es ist eine beängstigende Entwicklung, wenn die derzeitige Lage dazu führt, dass jugendliches Verhalten erneut kriminalisiert wird. Denn Jugendliche haben einen Auftrag: Sie sollen sich verselbstständigen und selbstpositionieren. Wie bitte sollen sie genau das tun, wenn wir ihnen alle Räume dafür nehmen, sie kriminalisieren und sie ausschließlich zu zu qualifizierenden Wesen stempeln?

Das „Opfer“, welches diese Altersgruppe gerade bringt, wird in den medialen Inszenierungen so gut wie nicht thematisiert. Es ist ihr Auftrag, sich von Eltern zu lösen, sich in der Gesellschaft neu zu positionieren. Dazu brauchen sie Peers, dazu brauchen sie reale Orte, an denen sie sich treffen können, dazu brauchen sie die Option, sich außerhalb (enger) familiärer Wohnflächen bewegen zu können. Diese Option ist ihnen genommen: „Bleibt zuhause. Stay Home.“ lautet das Credo auch für diese Altersgruppe. Möglichkeiten, ihren eigenen Weg als junge Menschen autonom und gemeinsam mit Gleichaltrigen zu finden, sind ihnen ohne erkennbare Aussicht auf Veränderung für lange Zeit genommen.

Manifestierung sozialer Unterschiede in der Jugendphase

Es wird viel darüber geredet, dass in Corona-Zeiten Trends verstärkt werden, die es auch schon vorher gab: Einkaufen über Internetportale statt im Einzelhandel, digitale Unterschiede zwischen Stadt und Land, vermehrt „Coffee-to-go“ statt gemütliches Sitzen im Straßencafé, das Auseinanderdriften der Schere zwischen Arm und Reich, Exklusion statt Inklusion. Dies spiegelt sich im Jugendalter wider: Die Unterschiede der sozialen Lagen und der damit verbundenen Chancen und Risiken verschärfen sich für junge Menschen gerade enorm. Nicht erst seit dem 15. Kinder- und Jugendbericht wissen wir, dass die Jugendphase entscheidend für die mögliche Aufstellung im weiteren Leben ist, dass sich nicht wieder einholbare Entwicklungen vollziehen, die „Schere“ auseinandergeht. Dies verstärkt sich in Corona-Zeiten. Die einen leben in finanziell gut aufgestellten Elternhäusern, mit eigenen, den aktuellen Standards entsprechenden digitalen Endgeräten, haben neben ihrem eigenen Zimmer im familiären Haushalt auch andere Orte des Aufenthalts ohne ständige erwachsene Störungen zur Verfügung, im Garten, in der Werkstatt oder dem Hobbyraum – und dazu die Möglichkeit, mit Hilfe der gut gedeckten Kreditkarten der Eltern alles das bestellen zu lassen, was man in diesen Zeiten zuhause benötigt, um trotzdem irgendwie „angenehm“ leben zu können. Die anderen können davon nur träumen: Sie teilen die ohnehin zu kleine Wohnung oder den engen Raum in der Flüchtlingsunterkunft mit zahlreichen Familienmitgliedern, der Bolzplatz oder Basketballkorb vor dem Hochhaus ist gesperrt, die jüngeren Geschwister sind nicht betreut, die Eltern überfordert, das Geld lange vor der nächsten eingehenden Zahlung aufgebraucht, das W-LAN gar nicht erst vorhanden, ein Elternteil erkrankt.

Dennoch wird in Corona-Zeiten politisch wieder verstärkt so getan, als hätten alle jungen Menschen gleiche Startchancen und Gelingensbedingungen. Dass die Schließung der Jugendzentren und des Fußballfeldes für die einen jungen Menschen eine ganz andere Bedeutung hat als für andere, bleibt außen vor. In diesen Zeiten erscheint es doppelt schwierig, dass Entscheider*innen sich kaum vorstellen können, wie es ist, so zu leben wie zuletzt skizziert. Viele Jugendliche in Deutschland wissen das dagegen sehr genau.

Als besonders entwürdigend ist zu bewerten, dass in den ersten Tagen der Kontaktsperren und des „Lockdown“ auch Anlaufstellen für obdachlose junge Menschen geschlossen wurden. Junge Menschen mit Beeinträchtigungen wurden ohne ihre Schulbegleitungen von heute auf morgen in das Home-Schooling geschickt. Viele, viele Fragen sind hier weiter ungeklärt, zahlreiche Bedarfe unberücksichtigt.

Wenn dann in diesem Kontext darüber gesprochen wird, dass Zoos wie Golfplätze wieder geöffnet werden und auch Tennis-Sport aufgrund des Abstandes doch unkompliziert möglich sein müsse, wird die Bizarrheit der Situation auf traurige Weise klar.

Digitale Welten sind nicht alles

Eine interessante Beobachtung ist weiterhin, dass einiges, was „früher“ vor dem „Lockdown“ als schlecht galt, nun zum Qualitätsmerkmal wird. Das mediale Nutzungsverhalten junger Menschen wurde bisher überwiegend problematisiert. Mitarbeitenden in der Kinder- und Jugendarbeit war (und ist) häufig per Dienstanweisung untersagt, über Messenger-Dienste in Kontakt zu den Jugendlichen zu stehen – nicht grundlos. Jetzt, da die „reale Welt“ ausfällt, wird gefragt, wie sie den Kontakt zu „ihren“ Jugendlichen halten. Die Antworten werden zur unterschwelligen Bewertung dessen genutzt, ob sie in „diesen Zeiten“ eine sinnvolle Arbeit leisten. Digitale Welten sind nicht alles – die Aussage hätten zumindest alle, die an der Erziehung und Bildung junger Menschen beteiligt sind, noch vor zwei Monaten sofort unterschrieben. Ja, das stimmt auch noch jetzt, doch die aktuelle Situation verlangt etwas anderes. Ein Zwiespalt sondergleichen, auf den es kaum Antworten gibt. Könnte nicht wenigstens hier der Blick gewendet werden und Jugendlichen als Teil unserer Gesellschaft zugestanden werden, dass sie das, was wir jetzt plötzlich alle brauchen, schon lange vorgemacht haben?

Sommerferien zum Freiraum für junge Menschen machen

Ein weiterer, ganz anderer Gedanke: Die Sommerferien nahen – und es ist klar, sie werden für viele junge Menschen anders sein als in den letzten Jahren. Die meisten Sommerlager, Ferienfreizeiten, Camps und Jugendreisen sind inzwischen abgesagt. Aufenthalte im europäischen Ausland scheinen unerreichbar. In diesem Kontext sind sich politisch Verantwortliche und auch Wissenschaftler*innen nicht zu schade dafür, eine Verkürzung der Ferien vorzuschlagen, damit verpasster Lernstoff nachgeholt werden könne und junge Menschen sinnvoll beschäftigt seien. Jetzt, „wo man doch eh nicht wegfahren könne“. Auch das passt zur oben aufgezeigten These: Die Qualifizierung ist das, was einzig wichtig sei. Es wird Zeit, dass spätestens hier anders gedacht wird: Wie können die Ferien zuhause genutzt werden, um jungen Menschen neue Freiräume zu geben? Wie kann im Rahmen der bestehenden Hygieneregeln ein für Jugendliche attraktives Ferienangebot gestaltet werden, indem sie die Chance haben, Peer-Vergemeinschaftung zu erleben, wenn auch in kleinen Gruppen? Wie können ihnen Räume geboten werden, in denen sie sich einfach nur ohne häusliche oder schulische Obhut von Eltern oder Lehrer*innen treffen, sich austauschen, chillen, gemeinsam Spaß haben? Wie können sie für Jüngere Verantwortung übernehmen, mit ihrem persönlichen Engagement als Jugendgruppenleiter*innen oder Teamer*innen eingebunden werden, wie in den Ferien zuvor? Oder um noch einmal mit dem 15. Kinder- und Jugendbericht zu sprechen: Wie können Jugendliche in den Ferien Freiräume erhalten, die sie selbstbestimmt und selbstorganisiert füllen können – mit dem, was sie sich selbst vorstellen, ganz unverzweckt?

Die Sommerferien bieten unbedingt zu nutzende Chancen, Jugendliche etwas von dem nachholen zu lassen, wenn auch den allgemein erforderlichen Abstands- und Hygieneansprüchen entsprechend – was sie in den letzten Wochen vermissen mussten! Wo bleiben die politischen Verwaltungsverordnungen mit der Aussage, in den Sommerferien Schulhöfe, Turnhallen, Stadt- und Messehallen für junge Menschen zu öffnen und die vielen derzeit ohne Verdienst dastehenden Honorarkräfte der Kinder- und Jugendarbeit (darunter viele Studierende) als Garant*innen der „Corona-Abstands-gerechten-Nutzung“ im Sinne des Infektionsschutzes einzustellen und dafür tarifgerecht zu entlohnen? In den gesellschaftlichen „Öffnungsszenarien“ sind die Sommerferien mit Verweis auf klare Regeln eine Option und Chance, Jugendlichen wieder Freiräume zu ermöglichen. Wenn auch klar sein muss: Bis dahin können viele Jugendliche unmöglich warten.

Quintessenz: Was also könnte zu tun sein?

Etwas sarkastisch betrachtet sollte vielleicht allen religiösen Jugendeinrichtungen und Jugendverbänden geraten werden, ihre Treffen jetzt als Gottesdienste oder Freitagsgebete zu titulieren und in Kirchen oder Moscheen stattfinden zu lassen. Je nach Bundesland dürften dann eine Menge Jugendlicher zusammenkommen und von den vereinzelt stehenden Stühlen miteinander in Kontakt treten. Jugendliche haben laute Stimmen, das würde ihnen bestimmt gelingen.

Den sportlich orientierten Angeboten in Jugendverbänden und der offenen Arbeit sollte geraten werden, sich als bundesliga-reif neu zu erfinden, dann ist ein regelmäßiges Treffen und Spaßhaben mit viel Bewegung wahrscheinlich schon sehr bald wieder möglich. Trainiert werden dürfte schon jetzt in Kleingruppen. Corona-Teststreifen ständen auch genügend zur Verfügung. Vor allem würden die Medien und die politischen Vertreter*innen sich dann sehr intensiv mit ihren Interessen beschäftigen, auf Videoschalten über ihre Anliegen beraten und auf Pressekonferenzen über sie berichten. Und TV-Sender würden noch dafür bezahlen.

Denjenigen Jugendlichen, die gerne Basketball, Fußball oder (ganz abstandsgerecht) Badminton spielen wollen, sei dazu geraten, dies ab sofort auf Supermarkt- oder Baumarktparkplätzen zu tun. Als genialer Ort für Parcours bieten sich Möbelhäuser an. Denn im Gegensatz zu Spielplätzen und Sportflächen sind diese geöffnet und haben nur eine geringe Begrenzung des Publikumsverkehrs (die Parkplätze gar keine).

Wer aufgrund der zum Teil zugespitzten Formulierungen nun den Vorwurf formulieren möchte, dass die Pandemie-Situation nicht ernst genommen werde, dem sei erwidert: Doch, das wird sie! Es ist und bleibt oberstes Ziel, diese Zeiten ohne den Verlust vieler Menschenleben in gegenseitiger Verantwortung zu gestalten und zu durchleben. Aber genau aus diesem Grund ist es wichtig zu verdeutlichen, dass viele Jugendliche – und vielleicht gerade sie – einen immensen Verzicht leisten. Sie verzichten auf ihr „Recht auf Jugend“ – oder besser: sie werden dazu gezwungen. Zeitgleich engagieren sie sich zahlreich bei der Hilfe in den eigenen Familien und für andere Menschen. Das verdient es in den „Öffnungsorgien“ bzw. in den sachlichen Debatten und den ernsthaften Versuchen der politisch Verantwortlichen, die Welt für alle „gut“ zu gestalten, zu sehen und mitzudenken. Jugendliche verzichten in einer für sie so wichtigen, kurzen Lebensphase auf Dinge, die ihnen nie jemand wird zurückgeben können. Im Kleinen jeden Tag, aber auch im Großen: Abibälle oder andere Schulabschlussfeiern, 18. Geburtstage, Konfirmationen mit vielen Gästen, selbst mit geplante Jugendverbandslager, die ausgespielte Meisterschaft mit der gerade in dieser Saison so guten eigenen Mannschaft, das lang vorbereitete Theaterstück, die Tanzaufführung oder der erste eigene Bandauftritt. Dinge, die wir Erwachsenen heute noch rückblickend mit ganz besonderen Erinnerungen verbinden. Die jungen Menschen leisten diesen Verzicht weitestgehend, ohne zu revoltieren. Das mindeste, was wir ihnen zu bieten haben, sollte unsere (auch mediale) Anerkennung dafür sein. In den Plänen der politisch Verantwortlichen muss endlich deutlich werden, welche Wege sie planen, um baldmöglichst für alle Jugendlichen wieder Freiräume zu ermöglichen!

Wir – die in Wissenschaft, Ausbildung und Praxis Aktiven der Kinder- und Jugendarbeit – haben in der aktuellen Lage kaum Chancen, (öffentlich) gemeinsam zu debattieren – deshalb wähle ich diesen Weg. Ich bitte um Gehör im Sinne der Jugendlichen! Statt auf der Straße am 1. Mai 2020 mit den Gewerkschaften zu demonstrieren, soll dies mein Beitrag sein. 

So bitte ich meine Form der Äußerung als methodischen Versuch zu verstehen, deutlich zu machen, worum es derzeit mit Blick auf die Altersphase Jugend aus meiner Sicht geht. Nicht nur für Eltern (insbesondere Mütter) mit Kleinkindern und isolierte Senioren*innen fehlt die Perspektive, sie fehlt auch für die Jugendlichen! Wir müssen uns alle gemeinsam dafür einsetzen, diese schnell wieder zu ermöglichen! Ich habe bisher öffentlich von politischen Verantwortlichen nicht viel gelesen oder gehört, was den Einsatz für die Rechte und Bedürfnisse von Jugendlichen in diesen Zeiten erkennen lässt. Vielleicht wurde es gesagt, aber es war den Medien die Berichterstattung nicht wert. Wer weiß das… Was ich wahrnehme, sind Schlagzeilen wie „Möbelhäuser hoffen auf Komplettöffnung“, „Zoo soll öffnen können“, „Elbphilharmonie plant für den Herbst“. Bleibt zu hoffen, dass ich einfach zu wenig gehört und gelesen haben könnte! – Ich befürchte, es ist nicht so…

Zum Schluss mein Appell an politisch Verantwortliche mit Blick auf die Interessen einer ganzen Generation:

  • Öffnet die Offenen Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit wieder! Ich bin mir sicher, dass die Sozialarbeiter*innen in den Einrichtungen vor Ort gute Ideen haben, wie die Hygiene- und Abstandsgebote an diesem so wichtigen Ort für junge Menschen und für sie als Mitarbeitende eingehalten werden können.
  • Öffnet wieder die Bolzplätze, die Tischtennisplatten, die Skateparks und die Basketballkörbe in den städtischen Räumen, damit junge Menschen Optionen haben, sich auszutoben und sich mit dem derzeit nötigen Abstand zu begegnen. Stellt vielleicht Sozialarbeiter*innen an diese Plätze, die mit den Jugendlichen auf Augenhöre klären und üben, wie die Nutzung entsprechend der aktuellen Corona-Regelungen laufen kann.
  • Gebt den Jugendverbänden die Erlaubnis, sich mit den bei ihnen organisierten Kindern und Jugendlichen in kleinen Gruppen treffen zu dürfen. Was Schule hinbekommt, bekommen auch Jugendverbände hin, wenn sie nur eine ausreichende Unterstützung und Ausrüstung dafür bekommen. Es erscheint fast einfacher, das Abstandsgebot an Lagerfeuern und auf Wiesen einzuhalten als in Klassenräumen. Viele Jugendverbände arbeiten sowieso bewusst mit dem „Prinzip der kleinen Gruppen“. Ermöglicht diese Form der Arbeit wieder.
  • Bietet den Jugendlichen, die auf der Straße leben, sichere Orte, an denen sie durchatmen können und tägliche Anliegen wie eine warme Mahlzeit, Nutzung von Sanitäranlagen etc. erledigen können. Bietet ihnen Übernachtungsräume, in denen sie geschützt sind. Öffnet z.B. in den Städten die Jugendherbergen oder andere geeignete öffentliche Einrichtungen für sie.
  • Verliert die jungen Menschen mit Beeinträchtigungen nicht aus dem Blick. Sie haben auch jetzt ein Recht auf besondere Unterstützung und die Begleitung im Lernen.
  • Bietet Schüler*innen, die zuhause keine Optionen haben, das Homeschooling zu bewältigen, Räume, in denen sie das tun können. Auch hier würden sich die derzeit geschlossenen offenen Kinder- und Jugendeinrichtungen, aber auch Bibliotheken oder geschlossenen Hochschulräume eignen.

Kinder- und Jugendarbeit, mit den gebotenen Freiräumen, Peerkontakten und den Unterstützung bietenden Professionellen, ist für viele Kinder und Jugendliche in ihrem Aufwachsen systemrelevant!

Nachwort der Autorin

Ich danke den Studierenden in meinem Seminaren an der HAW Hamburg für die intensiven, von Offenheit geprägten Diskussionen der letzten Wochen in Online-Seminaren wie in Einzelgesprächen am Telefon, ebenso manchen Kolleg(inn)en aus der Vielfalt der Ebenen der Kinder- und Jugendarbeit – in der Arbeit vor Ort in Hamburg, in den Behörden, in Verbänden, bei uns an der HAW HH und bundesweit. Erst sie haben die Formulierung dieser Gedanken möglich gemacht. Ein besonderer Dank geht an Karen und Mike für das absolut spontane, sehr hilfreiche Lektorat an einem so anderen 1. Mai.

Redaktion: Kerstin Boller

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