SOS-Kinderdorf

Corona-Pandemie verschärft die Folgen von Kinderarmut

Armut hat viele Gesichter und trifft Kinder und Jugendliche als schwächste Mitglieder der Gesellschaft besonders hart – darauf hat das SOS-Kinderdorf e.V. zum Welttag zur Beseitigung der Armut am 17. Oktober aufmerksam gemacht. In einem Interview gibt die SOS-Schulsozialarbeiterin Anne Luther einen Einblick, wie Armut den Alltag von Kindern und Jugendlichen in Berlin-Moabit prägt.

02.11.2020

Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung prägt Armut den Alltag von mehr als einem Fünftel aller Kinder in Deutschland, das sind 21,3 Prozent bzw. 2,8 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18. Die Corona-Pandemie verschärft die Lage zusätzlich: Geldnöte entstehen durch den plötzlichen Verlust von Arbeitsplätzen und Konflikte in Familien eskalieren auf engem Wohnraum schneller. An der Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule in Berlin-Moabit erlebt Anne Luther, Schulsozialarbeiterin beim SOS-Kinderdorfverein, täglich unmittelbar die Auswirkungen von stark ausgeprägter sozialer Ungleichheit. Im Interview gibt sie einen Einblick in ihren Alltag vor Ort.

Frau Luther, welche Ausprägungen von Armut begegnen Ihnen bei Ihrer Arbeit?

Was Armut bedeutet, ist ja nicht einheitlich definiert. Wenn damit relative Einkommensarmut gemeint ist, so haben wir es als Team des sozialpädagogischen Bereichs vom SOS-Kinderdorf an der Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule in Berlin-Moabit viel mit Familien zu tun, die arm sind – deren Einkommen also weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens beträgt. Kinder und Jugendliche sind nach wie vor die am häufigsten von Armut betroffene Altersgruppe. In der aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung gilt als arm, wer in einer Familie aufwächst, die Leistungen nach dem SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende – erhält. Demnach ist ein Viertel aller Berliner Kinder arm. In Berlin-Mitte, wo ich arbeite, sind es sogar 40 Prozent. Ich bevorzuge einen umfassenderen Armutsbegriff, der Lebensbereiche wie Wohnen, Ernährung, Gesundheit und gesellschaftliche Teilhabe einbezieht. Allen voran auch den Bereich Bildung; der Zusammenhang zwischen Bildung und Armut ist hinreichend belegt. Aus dieser Sicht ist Armut eher eine extreme Ausprägung sozialer Ungleichheit und kann sich in vielfältiger Weise zeigen: Eine Schülerin lebt mit acht Menschen auf knapp 60 Quadratmetern, ein Schüler bekommt nur in der Mensa der Schule ein warmes Mittagessen und eine weitere Schülerin schwänzt regelmäßig den Sportunterricht, weil sie sich für ihre alten Turnschuhe schämt. Hier wird deutlich: Armut beschränkt die Gestaltung des Alltags in vielen Bereichen. Armut kann beschämen, ausgrenzen und belasten. Deswegen frage ich nach den Sommerferien nicht: Wo warst du im Urlaub? Sondern: Was war gut an den Ferien? Was hat dir gefallen?

Hat Corona die Lage verschärft und wenn ja, wie genau ist das spürbar?

Viele der Jugendlichen, mit denen ich arbeite, leben in prekären sozio-ökonomischen Verhältnissen. Ihre Eltern arbeiten häufiger im Niedriglohnsektor und sind auf zusätzliche Unterstützungsangebote angewiesen. Von Hilfen wie dem Kurzarbeitergeld profitierten die meisten in der Pandemie nicht, und viele Einrichtungen wie Tafeln oder Kleiderkammern blieben geschlossen. Berlin bietet in „normalen Zeiten“ unzählige Möglichkeiten, Freizeitangebote für sehr wenig Geld oder vollkommen kostenlos zu nutzen: Bogenschießen im Jugendklub statt Tennis im Verein oder Beatboxing-Workshop in der Schule statt Geigenunterricht beim Privatlehrer. Der Zugang ist allerdings schon ohne Corona-Krise nicht ganz leicht: Anträge stellen, Nachweise erbringen, das sind durchaus Hindernisse. In der Pandemie fallen viele dieser Angebote nun gänzlich weg und somit ein Großteil der außerhäuslichen Unterstützung. Während der Schulschließungen waren viele der Jugendlichen erneut stärker benachteiligt: Zu Hause fehlt die notwendige technische Ausstattung und Unterstützung durch Lernförderung gibt es nicht. Viele Eltern sind überfordert, wenn sie plötzlich für fünf Kinder unterschiedlichen Alters die Lehrkraft sein sollen – in einer Sprache, die oft nicht ihre Muttersprache ist. Und in teils beengten Wohnverhältnissen finden diese Kinder und Jugendlichen keinen ruhigen Ort, um konzentriert zu lernen. Auch die Konflikte nehmen häufig zu, wenn Familien über viele Wochen hinweg auf engstem Raum zusammen sind. So kam es während des Lockdowns vermehrt zu Vernachlässigung und Gewalt.

Wie genau können Sie die betroffenen Kinder und deren Familien in der Schulsozialarbeit unterstützen?

Schulsozialarbeit löst nicht alle Probleme – das kann sie nicht. Sie ist jedoch auch weit mehr als die Betreuung von Jugendlichen außerhalb des Unterrichts. Häufig begegnet uns das vorurteilsbehaftete Bild der teekochenden und spielenden Schulsozialarbeiterin. Das Programm von „Jugendsozialarbeit an Berliner Schulen“, in dem ich arbeite, ist aber viel mehr als das. Es ist zuallererst ein wirklich niedrigschwelliges Angebot der Jugendhilfe: Ich bin kontinuierlich vor Ort und kann mit den Jugendlichen in Kontakt kommen und Beziehungen aufbauen, kann auf einfachen Wegen Unterstützung anbieten oder veranlassen. Ich habe in meiner Arbeit den Anspruch, jede und jeden mit seinen Bedürfnissen ernst zu nehmen und bestmöglich zu unterstützen. Bei der Vielfalt der Beratungsanliegen ist ein gutes Netzwerk unerlässlich. Ein Träger wie SOS-Kinderdorf versammelt da schon viel Expertise unter einem Dach: Innerhalb der Schule arbeite ich im Team mit vier Erzieher/-innen, darüber hinaus zum Beispiel mit den Kolleg(inn)en der Familien- und Erziehungsberatung oder aus unserem Jugendberatungshaus. Als die Schulen schlossen, war es nicht einfach, weiter mit den Jugendlichen und ihren Familien in Kontakt zu bleiben. Ich konnte nicht mehr im Treppenhaus fragen: Wie geht es dir? Einige meiner Jugendlichen waren zunächst vollständig von der Bildfläche verschwunden: Handynummer nicht erreichbar, E-Mailadresse nicht vorhanden – Schuldistanz total, trotz vielfältiger digitaler Angebote. Also bin ich ganz analog auf mein Fahrrad gestiegen und habe an Haustüren geklingelt. Bei gemeinsamen Spaziergängen konnte ich mir ein Bild davon machen, wie es den Jugendlichen geht und ob es einen Hilfebedarf gibt. Ich habe Postkarten geschrieben und eine Beratungsbank im Kiez ins Leben gerufen und auf diese Weise den Kontakt aufrechterhalten.

Welche Lösungen würden Sie sich von politischen Entscheider/-innen zur Bekämpfung von Kinderarmut wünschen?

Verantwortung hört nicht da auf, wo formal-rechtlich Chancengleichheit hergestellt ist. Vielmehr sollte sie da erst wirklich beginnen: bei der kontinuierlichen Überprüfung in der Praxis, ob Maßnahmen greifen und nachhaltig verändern, ob die Zielgruppen auch wirklich erreicht werden. Benachteiligte Kinder und Jugendliche haben nach der UN-Kinderrechtskonvention ein Recht auf Förderung und Teilhabe an der Gesellschaft. Zukunftsperspektiven sind für junge Menschen, die in prekären Bedingungen aufwachsen, von besonderer Bedeutung. Wir sollten uns alle die Frage stellen, ob unsere Gesellschaft es sich leisten kann, so viele junge Menschen zu verlieren – nicht nur moralisch, sondern auch wirtschaftlich. Damit das nicht passiert, brauchen wir auch in der Jugendhilfe viel mehr Ressourcen, mehr finanzielle Mittel und Personal. Nur so können wir die Angebote zur Unterstützung so vielfältig und individuell gestalten, wie die Zielgruppe es erfordert – und verdient. Das Gleiche ist nicht für jeden gleich gut. Meine Kolleg(inn)en und ich stellen häufig fest, dass unserer Zielgruppe vor allem die Lobby fehlt: Menschen, die sich für sie und mit ihnen stark machen, auf Missstände hinweisen. Die nicht müde werden, Armut und soziale Ungerechtigkeit zum Thema zu machen – laut und mit Nachdruck. Was nicht deutlich ausgesprochen wird, ist kein Thema – dann passiert auch nichts. Diese Lobbyarbeit können wir nicht allein leisten, hier sind wir auf Unterstützer/-innen aus der Politik angewiesen.

Quelle: SOS-Kinderdorf e.V. vom 14.10.2020

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