Bildungspolitik

Kinder- und Jugendärzte von der bisherigen Gesundheitspolitik der neuen Bundesregierung enttäuscht

Im Rahmen des 16. Kongresses für Jugendmedizin in Weimar kritisierte der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), Dr. Wolfram Hartmann, die gesundheitspolitischen Aktivitäten der schwarz-gelben Bundesregierung.

05.03.2010

Dr. Wolfram Hartmann kritisierte: 

"1. Selektivverträge und hausarztzentrierte Versorgung

Die neue Bundesregierung hat bisher die hohen Erwartungen der Kinder- und Jugendärzte hinsichtlich einer Sicherung der Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen nicht erfüllt. Ein klares Bekenntnis zum Ausbau einer qualifizierten medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen durch Fachärztinnen und Fachärzte mit entsprechender Weiterbildung im Gebiet der Kinder- und Jugendmedizin fehlt. Stattdessen hat die Regierungskoalition den falschen gesundheitspolitischen Ansatz des § 73 b, der sich ausschließlich auf die hausärztliche Versorgung von Erwachsenen bezieht, für weitere drei Jahre festgeschrieben. Von uns vorgeschlagene Änderungen und Ergänzungen werden weitgehend ignoriert. Damit missachtet die Bundesregierung auch den Willen einer großen Mehrheit der Eltern, die sich im Regelfall eine Versorgung ihrer Kinder durch entsprechend weitergebildete Kinder- und Jugendärzte wünschen, wie Umfragen und Unterschriftssammlungen der Kinder- und Jugendärzte bei über 250.000 Eltern ergeben haben und entsprechende Statistiken der Inanspruchnahme auch in den Flächenstaaten zeigen. Eltern sind sogar bereit, für eine solche qualifizierte Versorgung weitere Wege in Kauf zu nehmen. 

Kinder- und Jugendärzte versorgen in Deutschland seit über 100 Jahren in einem gemischten System zusammen mit Allgemeinärzten Kinder und Jugendliche. Während die Allgemeinmedizin aufgrund der demografischen Entwicklung ihren Schwerpunkt hin zu chronisch kranken Erwachsenen und multimorbiden Senioren verlagert hat, was sich auch in den wesentlichen Inhalten ihrer Weiterbildungsordnung widerspiegelt, hat sich die Kinder- und Jugendmedizin hin zur spezialisierten haus- und fachärztlichen Versorgung von Kindern und Jugendlichen entwickelt und große Erfolge im Versorgungssystem aufzuweisen.

Politik sollte klar Stellung beziehen

Die Kinder- und Jugendärzte erwarten von der neuen Bundesregierung eine klare Aussage zur zukünftigen ambulanten und stationären Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, aber auch in Europa. Dazu haben wir mit den kinderärztlichen Repräsentanten aus 15 anderen europäischen Staaten im November 2009 in Berlin die European Confederation of primary care pediatricians (ECPCP) gegründet, da nachweislich eine ambulante Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen durch Ärztinnen und Ärzte mit entsprechender Weiterbildung zu weniger stationären Aufenthalten, zu besseren Durchimpfungsraten und gezielter Frühförderung entwicklungsgestörter Kinder mit besserer Zukunftsprognose führt. Dazu gehört natürlich auch ein umfassender Ausbau der primären Prävention. Eine Verschiebung der Versorgung von Kindern und Jugendlichen hin zu einem lediglich allgemeinmedizinisch weitergebildeten Primärarzt ist aufgrund der unzureichenden speziellen Weiterbildung der Allgemeinmediziner im Gebiet der Kinder- und Jugendmedizin mit einer Verschlechterung der Versorgung von Kindern und Jugendlichen verbunden.

Der Pädiater ist die erste Anlaufstelle für Eltern

Nach den Erhebungen des Nationalen Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) von 2008 werden 90,6 % aller 0- bis 6-jährigen Kinder von Kinder- und Jugendärzten ambulant versorgt. 95 % aller Vorsorgeuntersuchungen in den ersten beiden Lebensjahren lassen die Eltern bei Kinder- und Jugendärzten mit einer entsprechenden Weiterbildung im Gebiet der Kinder- und Jugendmedizin durchführen, auch bei den weiteren Untersuchungen U7a bis U9 und J1 bevorzugt die große Mehrheit der Eltern (über 80%) die Kompetenz der Kinder- und Jugendärzte. Nur eine Minderheit der Allgemeinärzte in vorwiegend dünn besiedelten Regionen versorgt noch einen nennenswerten Anteil an Kindern.

Wir haben in Deutschland eine international anerkannt auf einem sehr hohen Niveau stehende primäre, sekundäre und tertiäre Versorgung von Kindern und Jugendlichen durch entsprechend qualifizierte Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin in Praxen und Kliniken. 

Dieser hohe Versorgungsstandard ist zunehmend gefährdet!

Die rund 5.700 niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte in Deutschland bangen um ihre Zukunft. Das Bundesgesundheitsministerium setzt weiterhin ganz auf eine hausarztzentrierte Versorgung ohne Altersbegrenzung durch Allgemeinärzte in Selektivverträgen, obwohl die FDP als Oppositionspartei diese Gesetzgebung nicht mitgetragen hat. Damit wird dieses bewährte System der primären hausärztlichen Versorgung von Kindern und Jugendlichen durch Kinder- und Jugendärzte mit einer besonderen, mindestens 5 Jahre dauernden speziellen Weiterbildung im Gebiet der Kinder- und Jugendmedizin möglicherweise zerschlagen.

Verbandspräsident Dr. Wolfram Hartmann betont, “Gerade bei den Vorsorgeuntersuchungen, der Förderung einer krankhaft gestörten Entwicklung und zur Behandlung von Kindern mit chronischen und seltenen Erkrankungen ist der Facharzt in der ambulanten Versorgung unverzichtbar".

Angesichts der sozialen Situation vieler Familien ist es von der Politik und den Krankenkassen unverantwortlich, nicht mit allen Mitteln für eine bestmögliche gesundheitliche Versorgung aller Kinder und Jugendlichen zu sorgen. 

Bei uns wächst die Kluft zwischen den Kindern, die weitgehend gesund, sozial abgesichert und ausreichend gefördert aufwachsen, und solchen Kindern, deren Lebensumstände von Armut, Perspektivlosigkeit, mangelnder Förderung und Ausgrenzung geprägt sind. Der neue UNICEF-Bericht “Zur Lage von Kindern in Deutschland‚Äù kommt zu dem Ergebnis, dass sich das Wohlbefinden von Kindern durch Einzelmaßnahmen nicht nachhaltig verbessern lässt. Vielmehr müssen Bund, Länder und Gemeinden ihren zersplitterten, an einzelnen Ressorts orientierten Ansatz aufgeben und das Wohlergehen von Kindern in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen. Was man in der frühen Kindheit versäumt, führt bei Jugendlichen und Erwachsenen zu ganz erheblichen Folgekosten, die die gesamte Gesellschaft wesentlich stärker belasten als eine qualifizierte Förderung in der frühen Kindheit.

2. Kennzeichnung von Lebensmitteln

Das EU-Parlament berät in wenigen Wochen über die Kennzeichnung von Lebensmitteln. Neben der täglichen Bewegung ist gerade die Ernährung bei Kindern ganz wesentlich für ein gesundes Aufwachsen und gesunde Ernährung stellt einen Grundstein für ein Erwachsenwerden ohne Belastung durch vermeidbare chronische Erkrankungen dar. Die bisherige Lebensmittelkennzeichnung in den meisten europäischen Staaten ist so kompliziert und klein gedruckt, dass viele Verbraucher durch diese Angaben eher verwirrt als sachgerecht informiert werden. Insbesondere der hohe Gehalt an Zucker und Fett in vielen Nahrungsmitteln, die Kinder gern essen und trinken, ist verantwortlich für das zunehmende massive Übergewicht vieler Kinder und insbesondere Jugendlicher. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ e.V.) lehnt die von der Industrie vorgeschlagenen Nährwerttabellen auf Lebensmitteln daher als nicht ausreichend ab und fordert eine "Ampel-Kennzeichnung" wie in Großbritannien. Übergewicht haben besonders viele Kinder aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Familien, häufig auch Kinder mit Migrationshintergrund. Gerade für diese Kinder und ihre Eltern ist ein "kinderleichtes" Kennzeichnungssystem wichtig. Das in Großbritannien praktizierte Ampelsystem ist ideal. Man versteht es intuitiv auch ohne große mathematische oder sprachliche Kenntnisse. Ungesunde Produkte bekommen einen roten Punkt, gesunde einen grünen und grenzwertige einen gelben. Wenn dann im Einkaufswagen nur noch rote Punkte leuchten, verstehen Eltern und Kinder sofort, dass sie sich stärker um eine ausgewogene Ernährung bemühen müssen. Die großen Lebensmittelkonzerne sollten ihre Verantwortung für die Gesundheit unserer Kinder ernst nehmen und das leicht verständliche Ampel-System einführen statt umständlicher Kalorientabellen, die als ergänzende Information für die Verbraucher natürlich Standard auf allen Lebensmitteln sein sollten.

3. Kinder, Jugendliche und Hartz IV

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu den Hartz-IV-Regelsätzen vom Februar dieses Jahres bewerten wir positiv. Insbesondere die 1,7 Millionen Kinder und Jugendlichen, die von Hartz-IV leben, werden davon profitieren. Wir fordern die Politik auf, auf der Grundlage dieses Urteils sinnvolle neue Regelungen für mehr Chancengleichheit sozial benachteiligter Kinder aufzustellen.

Eine gute finanzielle Ausstattung von Kindern, die in Hartz-IV-Familien leben, ist dabei unverzichtbar. Alle Grundbedürfnisse von Kindern müssen auch mit Hartz-IV-Sätzen gedeckt werden können. Mit mehr Geld allein ist es aber nicht getan. Vielmehr geht es nun darum, sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen Bildung und gesellschaftliche Teilhabe von Anfang an zu ermöglichen. Die Politik muss dafür sorgen, dass sie den gesamten Bereich der frühen Förderung ausbaut und qualitativ verbessert, um die Chancen aller Kinder auf einen guten Schulabschluss und damit auf eine gute Sozialprognose zu gewährleisten.

Teilhabe aller Kinder von Anfang an

Dazu ist es insbesondere nötig, das vorschulische Betreuungssystem massiv auszubauen und qualitativ erheblich zu verbessern. Die medizinischen Hilfemöglichkeiten wie Logopädie, Ergotherapie oder Krankengymnastik sind nicht geeignet, frühkindliche Förderdefizite von Kindern aus Familien mit mangelhafter Entwicklungsanregung ausgleichen, sie kommen nur bei Defiziten in Frage, die eine Erkrankung bzw. Entwicklungsstörung als Ursache haben. Die Förderung muss - wo Eltern sie nicht leisten können - in pädagogischen Einrichtungen stattfinden. Wir wünschen uns deshalb, dass insbesondere in den sozial problematischen Vierteln Einrichtungen wie Krippen und KiTas mit ausreichender Platzzahl vorhanden sind, die qualitativ auf höchstem Förderstandard stehen. Diese Einrichtungen müssen für alle Kinder kostenfrei sein und einen wesentlich besseren Betreuungsschlüssel haben als bisher. Darüber hinaus fordern wir besondere Förderung wie etwa Nachhilfe für Kinder im schulischen Bereich, die dies brauchen. Und natürlich kostenlose KiTa- und Schul-Mahlzeiten. Nur so lassen sich die Zukunftschancen für alle Kinder verbessern. Unsere Gesellschaft kann es sich einfach nicht leisten, dass fast ein Fünftel unserer Kinder unzureichend gefördert und damit aller Teilhabe an der Gesellschaft und einem eigenverantwortlichen Leben beraubt wird."

Quelle: Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ)

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