Bildungspolitik

Europa braucht einen Kurswechsel in den Bologna-Reformen

Die Bildungsgewerkschaft GEW und der studentische Dachverband fzs kritisieren anlässlich der Bologna-Folge-Konferenz die Pläne für die Einrichtung sog. „europäischer Hochschulnetzwerke“. Der europäische Hochschulraum brauche keine europäische Exzellenzinitiative, sondern eine Stärkung der sozialen Dimension, die Verteidigung der akademischen Freiheit und eine aktive Unterstützung der Lehrenden.

24.05.2018

Anlässlich der Bologna-Folge-Konferenz der europäischen Wissenschaftsministerinnen und -minister am 24.05.2018 in Paris warnen der stellvertretende Vorsitzende und Hochschulexperte der GEW, Andreas Keller und das Vorstandsmitglied des fzs, Nathalie Schäfer vor dem Projekt der „europäischen Hochschulnetzwerke“, die auf der Ministerkonferenz in Paris, aber auch bei der Europäischen Kommission in Brüssel auf der Agenda stehen.

Europa braucht gute Hochschulbildung für alle 

„Die Funktionsweise der Netzwerke ist Programmen wie der deutschen Exzellenzinitiative nachgebildet – sie werden die Wettbewerbslogik im europäischen Hochschulraum fördern. Wirtschaftsstarke Hochschulregionen dürften vom Programm profitieren, strukturschwache Regionen drohen durch die Maschen zu fallen“, mahnte Schäfer. „Damit wird die Idee der europäischen Hochschulreform konterkariert, qualitativ hochwertige Bildung und Forschung in der Breite zu gewährleisten – und nicht nur in einem ausgesuchten Klub von Eliteuniversitäten. Wir brauchen aber keine europäische Exzellenzinitiative, sondern gute Hochschulbildung für alle“, unterstrich Keller.

Soziale Dimension des europäischen Hochschulraums 

Auf der Agenda der Bologna-Reformen steht seit Jahren auch die „soziale Dimension“ des europäischen Hochschulraums – aus Sicht von GEW und fzs eine richtige Orientierung. Schäfer und Keller kritisierten die mangelhafte Umsetzung der sozialen Dimension in zahlreichen europäischen Ländern. „Den wiederholten Lippenbekenntnissen zur sozialen Dimension müssen endlich Taten folgen. Es geht darum, strukturelle Benachteiligungen abzubauen und die soziale Vielfalt der europäischen Gesellschaften auch an Hochschulen abzubilden. Dazu gehören der Abbau von Zulassungshürden und der Ausbau der Studienfinanzierung“, machte Schäfer deutlich. Besonders großer Handlungsbedarf bestehe gerade auch in Deutschland, betonte Keller: „Nach jüngsten Daten des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung nehmen 79 von 100 Kindern aus Familien mit akademischem Hintergrund, aber nur 27 von 100 Kindern aus Familien ohne akademischen Hintergrund ein Studium auf – Deutschland ist Europameister in sozialer Auslese. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) muss unmittelbar nach ihrer Rückkehr aus Paris die Weichen für eine umfassende BAföG-Reform stellen.“

Gute Lehre und gute Arbeit sind zwei Seiten der gleichen Medaille 

Schäfer und Keller sind überzeugt, dass gute Lern- und Studienbedingungen für die Studierenden gute Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für die Lehrenden voraussetzen. „Innovative Lehr- und Studienformate wie die ‚studierendenzentrierte Lehre’, für die sich Bologna stark macht, erfordern eine individuelle Betreuung der Studierenden und eine bestmögliche Qualifikation der Lehrenden. Die Lehrenden müssen durch hochschuldidaktische Fort- und Weiterbildungsangebote unterstützt und durch kleinere Gruppengrößen entlastet werden“, sagte die fzs-Vorstandsfrau. Der GEW-Vize unterstützte: „Wir brauchen daher bessere Betreuungsrelationen durch die Einstellung von mehr Dozentinnen und Dozenten, mehr Dauerstellen für Daueraufgaben in Lehre und Forschung sowie eine intelligente und vorausschauende Personalentwicklung. Schluss mit der Hire- und Fire-Politik – gute Lehre und gute Arbeit sind zwei Seiten einer Medaille.“

Klares Bekenntnis zur Wissenschafts- und Meinungsfreiheit 

Weiter beraten die Ministerinnen und Minister über die endgültige Aufnahme Weißrusslands in den Europäischen Hochschulraum (EHEA), das bislang einen vorläufigen Mitgliedsstatus hat und sich einem Monitoring („Belarus Road Map“) unterziehen musste. „Gerade in Zeiten, in denen unsere Gesellschaften immer stärker von Rechtspopulismus, Wissenschaftsfeindlichkeit und Rassismus bedroht sind, brauchen wir ein klares Bekenntnis der europäischen Wissenschaftsministerinnen und -minister zur Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit sowie zur akademischen Selbstverwaltung und Mitbestimmung von Studierenden und Beschäftigten. Da diese Voraussetzungen in Weißrussland nicht erfüllt sind, muss es ein stärkeres Monitoring nicht nur mit Blick auf die Anerkennung von Abschlüssen und die Qualitätssicherung geben, sondern vor allem hinsichtlich der Berufsfreiheit und der Mitbestimmungsrechte von Studierenden“, sagte Schäfer.

„In gleicher Weise ist den Verletzungen der akademischen Freiheit in weiteren Unterzeichner-Staaten der Bologna-Erklärung wie der Türkei entgegenzutreten. Dass tausende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entlassen wurden, weil sie für Frieden in den Kurdengebieten eintraten, ist eine eklatante Verletzung nicht nur der Grundwerte des europäischen Hochschulraums, sondern auch völkerrechtlich verbriefter Menschenrechte. Diese Missstände dürfen in Paris nicht unter den Teppich gekehrt, sondern müssen offen gelegt werden, die verantwortlichen Regierungen müssen unter Druck gesetzt werden“, machte Keller deutlich.

Hintergrundinformationen 

Am 24. und 25. Mai werden sich die Wissenschaftsministerinnen und -minister der 48 Unterzeichnerstaaten der Bologna-Erklärung in Paris zur neunten Bologna-Folge-Konferenz treffen – 20 Jahre nachdem am selben Ort Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien in der Sorbonne-Erklärung den Startschuss für die Schaffung eines europäischen Hochschulraums gegeben hatten.

Der freie zusammenschluss von student*nnenschaften (fzs) ist der Dachverband von Studierendenvertretungen in Deutschland. Er ist Mitglied der European Students’ Union (ESU), der europäischen Dachorganisation der Studierendenvertretungen, die als beratendes Mitglied im Bologna-Prozess mitwirkt.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist die Bildungsgewerkschaft im Deutschen Gewerkschaftsbund. Sie organisiert unter anderem die Beschäftigten an Hochschulen sowie Studierende und ist Mitglied von Education International (EI), der internationalen Dachorganisation der Bildungsgewerkschaften, die als beratendes Mitglied im Bologna-Prozess mitarbeitet.

fzs-Vorstands-Mitglied Nathalie Schäfer nimmt an der Pariser Konferenz als Mitglied der deutschen Delegation teil, GEW-Vize Andreas Keller ist als Mitglied der EI-Delegation vor Ort.

Quelle: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) vom 23.05.2018

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