Stellungnahme der Erzieherischen Hilfen

Zur humanitären Notlage von Kindern und Jugendlichen an der polnisch-belarussischen Grenze

Die Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) hat am „Internationalen Tag der Menschenrechte“, gemeinsam mit deutschen und internationalen Partner/-innen, die Stellungnahme „Das Recht verpflichtet! Stellungnahme zur humanitären Notlage von Kindern und Jugendlichen an der polnisch-belarussischen Grenze“ veröffentlicht.

13.12.2021

Darin fordern die Unterzeichner/-innen die EU und die deutsche Bundesregierung zum Handeln auf: Die Europäische Union hat es zugelassen, dass Kinder, Jugendliche und Familien an ihren Grenzen zum Spielball internationaler Konflikte geworden sind. Durch die rigide Abschottungspolitik, die die Menschenrechte nicht anerkennt, sind Menschen gestorben und hunderte befinden sich in einer lebensbedrohlichen Situation. Die EU ist in der Pflicht Lösungen für die menschenverachtende Situation an ihrer Außengrenze zu finden, die nur durch die Verwirklichung der unhintergehbaren Rechte der Geflüchteten bestehen können. Dies ist durch eine Aufnahme in weiteren Ländern und durch Unterstützung in Form von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie Familienhilfe zu gewährleisten.

 Unterstützer/-innen:

  • Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen e.V. | FICE Germany
  • FICE International
  • FICE Europe
  • Bundesforum Vormundschaft und Pflegschaft e.V.
  • Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen e.V. (BVkE)
  • Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren e.V.
  • Evangelischer Erziehungsverband e.V. (EREV )
  • Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz gGmnH (ism)
  • Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (ISS)
  • Institut für soziale Arbeit e.V. (ISA)
  • SOCLES International Centre for Socio-Legal Studies gGmbH
  • Sozialdienst katholischer Frauen e.V. (SkF)

Die Stellungnahme im Wortlaut

Das Recht verpflichtet! Stellungnahme zur humanitären Notlage von Kindern und Jugendlichen an der polnisch-belarussischen Grenze

An der Grenze zwischen Belarus und Polen werden seit Monaten Kinder - bzw. Menschenrechte gebrochen und missachtet. Geflüchtete an die EU Grenze zu Polen zu bringen, um die EU unter Druck zu setzen, ist menschenverachtend und nutzt die Notlage der Menschen aus. Die EU verschärft diese Notlage durch eine rigide und gewaltsame Grenzpolitik und missachtet internationales Recht und EU Abkommen – das muss endlich gestoppt werden!

Die Menschen in den Wäldern in der Grenzregion von Belarus und Polen sind zum Spielball internationaler Konflikte geworden. Unter ihnen befinden sich zahlreiche Kinder, Jugendliche und Familien. Sie sind vor Krieg und Bedrohung geflohen, haben Angehörige verloren und finden sich nun in einer ausweglosen, lebensbedrohlichen Lage wieder. Das Kindeswohl wird durch die EU Politik schwer gefährdet. Lokalen und internationalen Berichten sowie Stellungnahmen zufolge, werden die Menschen, selbst unbegleitete Kinder und Jugendliche, im Grenzgebiet ohne Prüfung ihres Asylgesuchs oder ihrer Einreisegründe unter Einsatz von Zwang und Gewalt vor die europäischen Außengrenzen nach Belarus zurückgebracht – sogenannte Pushbacks. Junge Geflüchtete aus der Grenzregion von Polen und Belarus, die in Deutschland in der Inobhutnahme ankommen, berichten von massiven Gewalterfahrungen und Verletzungen ihrer Rechte an der Grenze (Fachaustausch der IGfH Fachgruppe Inobhutnahme am 11. November 2021). Nur mit der Hilfe von Schleusern ist es wenigen gelungen, dieser lebensgefährlichen Situation zu entfliehen. Mindestens 15 Tote sind in den vergangenen Wochen zu beklagen, darunter auch ein einjähriges Kind. Während Polen, die EU und Belarus zwischen wechselseitigen Verurteilungen und einem machtpolitischen Tauziehen keiner Verantwortung für die humanitäre Notlage und das Kindeswohl
übernehmen.

Das Recht verpflichtet! Alle Menschen haben die gleichen unhintergehbare Menschenrechte. Die UN Kinderrechtskonvention (UN-KRK) konkretisiert diese unteilbaren Grundrechte auf Förderung, Schutz und Beteiligung für Kinder und Jugendliche, die von vielen EU und weiteren Staaten vollumfänglich ratifiziert wurden. Internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen und das Europäische Parlament betonen stark die Notwendigkeit der Umsetzung dieser Rechte. Nicht nur vor diesem Hintergrund ergibt sich ein unbedingter Handlungsauftrag, sondern auch durch die selbstgesetzten Ziele der EU, die Kinderrechte durch die EU Kinderrechtstrategie vom 23. März 2021 zu stärken.

Fachverbände und Vertreter/-innen der Kinder- und Jugendhilfe in Europa und weltweit rufen Polen, die EU und ihre nationalen Regierungen auf, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und die Menschen- und Kinderrechte nicht zu missachten und zu schwächen. Wir fordern unverzüglich die Rechte der jungen Menschen sowie der Familien anzuerkennen und zu verwirklichen. Dies bedeutet, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln auf die polnische Regierung als Mitglied der Europäischen Union und Wertegemeinschaft einzuwirken, endlich die Grenzen zu öffnen und die jungen Menschen und Familien aus der Grenzregion in weitere EU Länder zu evakuieren.

Wir als Fachorganisationen für die Kinder, Jugendlichen und Familien fordern die Verantwortlichen in der EU daher mit Nachdruck konkret auf:

Sicherstellung unmittelbarer, humanitärer Hilfen vor Ort.

Es muss unmittelbar sichergestellt werden, dass die betroffenen Menschen durch Lebensmittel, medizinische Versorgung, Kleidung und Unterkunft versorgt werden. Die besonderen Bedarfe von Minderjährigen und Familien sind dringend zu berücksichtigen. Lokalen und internationalen Hilfsorganisationen muss der Zugang zu den Menschen und entsprechende Unterstützung ermöglicht werden.

Anerkennung von Asylgesuchen und Einleitung von Asylverfahren sowie Zugang zu Beratungs- und Unterstützungsangebote zur Durchsetzung individueller Rechte.

Europäisch geltendes Recht und von der EU ratifizierte Übereinkommen zu den Rechten des Kindes müssen gewahrt werden. Asylgesuche müssen gehört und Zugang zu fairen Verfahren geschaffen werden. Die besonderen Bedarfe von Minderjährigen und jungen Menschen mit Familien müssen beachtet und die Umsetzung ihrer Rechte sicherges tellt werden. Hierzu ist der Zugang der Geflüchteten zu Beratungen und Unterstützung durch unabhängige Organisationen zur Durchsetzung ihrer individuellen Rechtsansprüche zu gewährleisten.

Die Aufnahme der Geflüchteten als europäische Aufgabe verstehen. Polen bei der Versorgungder jungen Menschen und Familien unterstützen.

Die Geflüchteten sind in die EU geflüchtet und nicht nach Belarus. Der politische Konflikt hat sie an der Grenze in einem – faktisch rechtsfreien Raum – stranden lassen. Die Verantwortung, diesen Menschen unbedingt zu helfen und ihre Rechte zu schützen ist Aufgabe der polnischen Regierung, aber auch die der Europäischen Union! Sie muss sicherstellen, dass im Mitgliedsland Polen die Rechte der Geflüchteten anerkannt und umgesetzt werden sowie Polen darin unterstützen, die Versorgung sicherzustellen. Die EU ist Adressatin und Akteurin in diesem Konflikt und muss aktiv in das Geschehen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln eingreifen – es sterben (junge) Menschen!

Die EU Mitgliedsstaaten müssen Geflüchtete und ihre Familien evakuieren und Zugang zu
einem fairen Asylverfahren einleiten.

EU Mitgliedsstaaten müssen eine schnelle Evakuierung und Aufnahme der in Not geratenen Menschen gewährleisten. Statt immer neue Argumente für die Nicht -Hilfe zu suchen, müssen konkrete humanitäre und kindeswohldienliche Lösungen gefunden werden. Der Rat der Europäischen Union ist in der Lage, die Aufnahme der Geflüchteten in verschiedenen Ländern der EU zu beschließen, wie bereits am 22. September 2015. Die Mitgliedsstaaten müssen aber nicht auf einen solchen EU Rats beschluss warten, denn die nationalen Rechtssysteme können auch eine unmittelbare Aufnahme zulassen, wie etwa in Deutschland über den § 23 AufenthG. Das Nicht-Handeln der EU und Mitgliedsstaaten ist nicht zu rechtfertigen.

Die Kinder- und Jugendhilfe bleibt zuständig.

Bei der Unterbringung und Begleitung muss die jeweils nationale Kinder- und Jugendhilfe zuständig bleiben. Bereits im Frühjahr 2020 haben verschiedene EU Länder, so auch zahlreiche Kommunen, Bundesländer und Jugendhilfeträger in Deutschland im Zusammenhang mit der humanitären Katastrophe im griechischen Moria ihre Bereitschaft und freie Kapazitäten zur Aufnahme signalisiert. In nationalen und internationalen Fachgesprächen in der Kinder- und Jugendhilfe kommt der große Wunsch den jungen Menschen und Familien zu helfen immer wieder zum Ausdruck. Dieser Wunsch begründet sich über eine starke fachliche Haltung, für die Rechte aller jungen Menschen einzutreten. Die Kinder - und Jugendhilfe ist und bleibt zuständig, sich für die Rechte von Kindern und Jugendlichen einzusetzen und diese Rechte zu verwirklichen.

Handeln Sie jetzt! Die Europäische Union hat es zugelassen, dass Kinder, Jugendliche und Familien an ihren Grenzen zum Spielball internationaler Konflikte geworden sind. Durch die rigide Abschottungspolitik, die die Menschenrechte nicht anerkennt, sind Menschen gestorben und hunderte befinden sich in einer lebensbedrohlichen Situation. Die EU ist in der Pflicht Lösungen für die menschenverachtende Situation an ihrer Außengrenze zu finden, die nur in der Verwirklichung der unhintergehbaren Rechte der Geflüchteten bestehen können. Dies ist durch eine Aufnahme in weiteren Ländern und durch Unterstützung in Form von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie Familienhilfe zu gewährleisten.

Quelle: Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen vom 10.12.2021

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