Kindertagesbetreuung

Warum und wie sollte Mehrsprachigkeit in Kitas gefördert werden? Die Perspektive einer inklusiven sprachlichen Bildung

Die deutsche Gesellschaft entwickelt sich zunehmend zu einer mehrsprachigen. Dieser Realität wird allerdings in vielen Kindertageseinrichtungen noch nicht Rechnung getragen. Prof. Dr. Tina Friederich analysiert in ihrem Fachbeitrag die Bedeutung der Mehrsprachigkeit für die Entwicklung der Identität des Kindes und benennt konkrete Maßnahmen, wie Einrichtungen den Spagat zwischen Wertschätzung der Muttersprache und Förderung des Deutschen gestalten können.

27.02.2018

Gemäß der Europäischen Union ist Mehrsprachigkeit keine Ausnahme sondern die Regel. Im Rahmen des Barcelona Ziels wurde vereinbart, dass jeder EU-Bürger neben seiner Muttersprache zwei Fremdsprachen beherrschen soll (Barcelona European Council 2002). In vielen EU-Ländern ist Mehrsprachigkeit bereits Normalität (z.B. Großbritannien), nicht jedoch in Deutschland. Allerdings entwickelt sich die Gesellschaft auch hier zunehmend zu einer mehrsprachigen, was sich insbesondere in den deutschen Kindertageseinrichtungen wiederspiegelt. Derzeit sprechen 12 % aller betreuten unter 3-jährigen Kinder und immerhin 19 % der betreuten 3- bis 5-jährigen Kinder zu Hause kein bzw. wenig Deutsch, wobei deutliche regionale Unterschiede sichtbar werden (siehe Tabelle H1, Abb. H2-10A, Tab. H2-3A im Bildungsbericht 2016). Damit wachsen knapp 20 % aller über dreijährigen Kinder mindestens zweisprachig auf.

Förderung von Mehrsprachigkeit findet oft nicht statt

Dieser Realität wird jedoch in vielen Kindertageseinrichtungen noch nicht Rechnung getragen. Zwar hat das Thema in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, aber eine Berücksichtigung oder gar Förderung von Mehrsprachigkeit findet oft nicht statt. Zwar steigt die Zahl bilingualer Kitas kontinuierlich – zwischen 2004 und 2014 von 340 auf 1035 – jedoch macht diese Form der Kindertagesbetreuung nur 2% des Angebots aus (FKMS 2014).

Damit stellt sich die Frage, wie in Regelkitas mit mehrsprachigen Kindern umgegangen wird. Selbstverständlich gibt es bereits einige Einrichtungen, die sich dem Thema gezielt widmen und vorbildliche Arbeit leisten, es ist jedoch anzunehmen, dass in den meisten Kitas die Deutschförderung gegenüber der Anerkennung und Unterstützung von Mehrsprachigkeit überwiegt (Panagiotopoulou 2016). Für diese Vorgehensweise gibt es gute Gründe, ist doch die Beherrschung der Landessprache eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg in der Schule und im Berufsleben sowie für die Integration insgesamt. Allerdings kann eine zu sehr auf den Erwerb der Landessprache ausgerichtete Politik und Pädagogik auch zur Vernachlässigung der Muttersprache führen, die weitreichende Folgen hat. Vor allem die Bedeutung der Muttersprache für die Entwicklung der Identität des Kindes ist hervorzuheben, da die Sprache eine große Rolle für die emotionale Beziehung zu Eltern und Geschwistern spielt.

Bedeutung der Muttersprache für die Entwicklung des Kindes  

Tatsächlich zeigen Forschungsbefunde, dass es gute Gründe für das Beherrschen der Muttersprache gibt. Diese bildet die Grundlage der Kommunikation zwischen Eltern und Kinder, wenn die Eltern die Landessprache nicht als Muttersprache erlernt haben. Eltern können keine Sprachvorbilder in einer Sprache sein, die sie nicht ausreichend beherrschen. Zudem werden durch Sprache neben dem konkreten sprachlichen Inhalt Gefühle, Stimmungen und Atmosphäre transportiert. In Studien konnte gezeigt werden, dass Eltern spätestens im Jugendalter an Autorität gegenüber ihren Kindern verlieren, wenn sie die gemeinsame Sprache nicht ausreichend gut beherrschen. Denn diese ist wichtig für den Zusammenhalt in der Familie und das psycho-soziale Wohlbefinden. Daher ist es entscheidend, dass Eltern und Kinder eine gemeinsame Sprache haben, in der sie beide kompetent sind (Leyendecker et al. 2015).

Zudem fühlen sich die Kinder wohl und geborgen, wenn ihnen vermittelt wird, dass es normal ist, dass sie zu Hause eine andere Sprache sprechen als in der Kita. Die Wertschätzung ihrer kulturellen und sprachlichen Wurzeln ist hierbei ein wichtiger Baustein, um eine gute Beziehung zu den Fachkräften aufzubauen. Kieferle (2015) betont, dass „Sprachentwicklung, Selbstwertgefühl, Vertrauen und Sicherheit […] Hand in Hand [gehen] (S. 136).

Wie kann die Unterstützung im Einrichtungsalltag aussehen?

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass eine Förderung der Entwicklung der Deutschkenntnisse bei zwei- oder mehrsprachigen Kindern nur eine Seite der Medaille ihrer Unterstützung abbildet. Zwingend hinzukommen muss die Wertschätzung und Anerkennung ihrer Erstsprache, um den Kindern das Gefühl zu geben, dass sie in Ordnung sind so wie sie sind. Doch wie kann eine solche Unterstützung in einem Einrichtungsalltag aussehen, wenn es nicht nur eine sondern mehrere Fremdsprachen sind, die die Kinder mitbringen?

Selbstverständlich müssen Fachkräfte nicht mehrsprachig sein, um mehrsprachige Kinder gut unterstützen zu können, aber sie sollten Offenheit und Wertschätzung für die mitgebrachten Sprachen mitbringen und bereit sein, sich einige Schlüsselwörter in der jeweiligen Sprache anzueignen. Hierzu können auf Tafeln zentrale Wörter in allen Sprachen notiert werden, die es den Fachkräften erleichtern, in jeder Situation hierauf zurückzugreifen. Diese Hilfe dient vor allen Dingen dazu, den Übergang vom Elternhaus in die Kindertageseinrichtung zu erleichtern. Denn häufig spricht das Kind beim Eintritt in die Kita nur wenig oder gar kein Deutsch, so dass eine Verständigung nur schwer möglich ist. Es verfügt jedoch über Kenntnisse in seiner Muttersprache, die genutzt werden können, um den Einstieg in die neue Sprache zu schaffen. Hilfreich können auch andere Kinder oder Eltern sein, die die gleiche Sprache sprechen und in ausgewählten Situationen übersetzen können. Weiterhin ist es wichtig, die Eltern einzubeziehen und mit Dolmetschern oder anderen Eltern eine Verständigung über wichtige Aspekte des Alltags in der Kita herzustellen. Das Wohlbefinden und die Anerkennung der Kinder und ihrer Familie ist Voraussetzung dafür, dass sie sich für Bildungsprozesse öffnen können (Deutsches Jugendinstitut/Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte 2016)

Kind mit seinen sprachlichen Kompetenzen wertschätzen

Weiterhin hängt die Motivation, eine neue Sprache zu lernen, davon ab, inwiefern das Kind in die Gruppe integriert ist (Knapp 2015). Wenn es für das Kind einen positiven Anreiz gibt, sich in der neuen Sprache zu verständigen, dann wird es das versuchen. Auch dabei können die Fachkräfte unterstützen, indem sie Kontakte anbahnen und das Kind in Gruppenspiele einbeziehen. Damit wird die Qualität der Beziehungen zu einer der wichtigsten Bedingungen für den Erwerb der Zweitsprache in Kindertageseinrichtungen – neben dem sprachlichen Input und der Zeit, die das Kind in dieser sprachlichen Umgebung verbringt. (Chumak-Horbatsch 2012)

Eine inklusive sprachliche Bildung geht davon aus, dass jedes Kind mit seinen sprachlichen Kompetenzen wertgeschätzt und anerkannt wird und ihm die Unterstützung zukommt, die es für seine Entwicklung benötigt. Dies kann die Unterstützung für den Erwerb einer zweiten Sprache sein oder aber eine spezifische Förderung im Rahmen von Auffälligkeiten und Verzögerungen oder einfach ein reichhaltiges, sprachliches Angebot für eine normale sprachliche Entwicklung. Dies gelingt mit Hilfe einer alltagsorientierten sprachlichen Bildung am ehesten, weil auf diese Weise die Themen der Kinder aufgegriffen und an ihre Bedürfnisse adaptiert werden können (Deutsches Jugendinstitut/Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte 2016).

Kompetenzen der frühpädagogischen Fachkräfte  

An dieser Stelle sind die frühpädagogischen Fachkräfte gefragt, die mit ihren Kompetenzen diejenigen sind, die im direkten Kontakt mit den Kindern und Eltern Anerkennung vermitteln können und deren Herkunft sowie Muttersprache wertschätzen sollen. Mehrsprachigkeit kommt als Thema in der Ausbildung frühpädagogischer Fachkräfte jedoch kaum vor, so dass viele nicht wissen, wie sie mit den unterschiedlichen Sprachen in Kitas umgehen sollen. Hinzu kommt, dass nur wenige Fachkräfte selbst mehrsprachig aufgewachsen sind und somit auch nicht auf eigene Erfahrungen zurückgreifen können. Nach wie vor stammt die Mehrheit der Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen aus klein- und mittelbürgerlichen Verhältnissen, nur 11% der Fachkräfte verfügen über einen Migrationshintergrund (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2017). Fachkräfte benötigen deshalb Weiterbildungsangebote, die sie beim Umgang mit Mehrsprachigkeit und Interkulturalität unterstützen und ihnen so ermöglichen, den mehrsprachigen Kindern und Eltern mit einer wertschätzenden, offenen Haltung gegenüberzutreten.

Wichtig ist jedoch auch zu erkennen, wo die Grenzen der Möglichkeiten der Unterstützung liegen: wenn die pädagogischen Möglichkeiten der Unterstützung ausgeschöpft sind und der Verdacht besteht, dass weitreichendere sprachliche Probleme bestehen. Auch kann der Zweitspracherwerb sprachliche Probleme in der Erstsprache überdecken, daher sollten insbesondere bei mehrsprachigen Kindern nicht nur ihre Deutsch- sondern auch ihre muttersprachlichen Kompetenzen von Experten in den Blick genommen werden.

Es bleibt jedoch ein Spagat zwischen der Wertschätzung und Berücksichtigung der Muttersprache und somit der Förderung der Mehrsprachigkeit und der Förderung des Deutschen. Bislang liegt der Schwerpunkt vieler deutscher Kindertageseinrichtungen jedoch auf der Deutschförderung und zu wenig auf der Berücksichtigung und Bedeutung der Mehrsprachigkeit der Kinder (Panagiotopoulou 2016). Hier ist noch Luft nach oben!

Über die Autorin

Prof. Dr. Tina Friedrich ist Professorin für Pädagogik an der Katholischen Stiftungshochschule München. In ihrer Forschung hat sie sich einerseits auf inklusive sprachliche Bildung spezialisiert und beschäftigt sich andererseits mit Fragen der Professionalisierung frühpädagogischer Fachkräfte in Deutschland und im europäischen Vergleich. Sie ist Mitautorin des Wegweisers „Inklusive Sprachliche Bildung. Grundlagen für die kompetenzorientierte Weiterbildung“.

Weitere Informationen zum Wegweiser  finden sich auf der Webseite der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WIFF).  

Literatur

Autorengruppe Fachkräftebarometer (2017): Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2017. Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte. München

Barcelona European Council (2002): Presidency Conclusions. 15 and 16 March 2002. Download und www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/en/ec/71025.pdf

Chumak-Horbatsch, Roma (2012): Linguistivally Approbriate Practice: A Guide for Working with Young Immigrant Children. Plymouth

Deutsches Jugendinstitut/Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (Hrsg.) (2016): Inklusive Sprachliche Bildung. Grundlagen für die kompetenzorientierte Weiterbildung, Band 11. München

Frühe Kindliche Mehrsprachigkeit (FKMS) (2014): Zahl bilingualer Kitas in 10 Jahren verdreifacht. Download unter www.fmks-online.de/download.html. (5.2.2018)

Kieferle, Christa (2015):  Unterstützung von Mehrsprachigkeit in inklusiven Kindertageseinrichtungen. In: Reichert-Garschhammer, Eva u.a. (Hrsg.): Inklusion und Partizipation. Vielfalt als Chance und Anspruch. Göttingen. S. 126-140

Knapp, Werner (2015): Grundlagen der Sprachentwicklung: Zweitspracherwerb. In: Kucharz, Diemut; Mackowiak, Katja; Beckerle, Christine (Hrsg.): Alltagsintegrierte Sprachförderung. Ein Konzept zur Weiterqualifizierung in Kita und Grundschule. Weinheim und Basel. S. 44-53

Leyendecker,  Birgit,  Willard,  J.,  &  Caspar,  Ulrike  (2015). Die  Bedeutung  der  Muttersprache  für  die  Eltern-Kind  Beziehung  in  zugewanderten  Familien.  In  B.Ö.  Otyakmaz  &  Y.  Karakasoglu  (Hrsg). Frühe Kindheit in der Migrationsgesellschaft (S. 111 – 123). Wiesbaden: Springer.

Leyendecker, Birgit; De Houwer, Annick (2011): Frühe bilinguale  und bikulturelle Erfahrungen – Kindheit in zugewanderten Familien. In: Keller, Heidi (Hrsg.): Handbuch der Kleinkindforschung. Bern. S. 180-217

Panagiotopoulou, Argyro (2016): Mehrsprachigkeit in der Kindheit. Perspektiven für die frühpädagogische Praxis, WiFF Expertisen, Band 46. München

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