Kindertagesbetreuung

Migrationssensibilität in der Kindertagesbetreuung: Tipps für Fachkräfte

Der Diplom Sozialpädagoge Reinhold Gravelmann hat sich auf dem diesjährigen Kitaleitungskongress in seinem Workshop „Alle anders – alle ganz normal?“ mit der Frage auseinandergesetzt, wie Fachkräfte in Kindertagesstätten die soziokulturelle Vielfalt von Migrantenfamilien in ihren Kita-Alltag integrieren können. In der folgenden Zusammenfassung benennt Gravelmann zentrale Aspekte und gibt Materialhinweise zu den Themenbereichen Migration und interkulturelles Verständnis.

09.10.2019

Beim alljährlich stattfindenden Deutschen Kitaleitungskongress werden praxiskonkret die zentralen Themen von Kitaleitungen und Fachkräfte der Kindertagesbetreuung aufgegriffen, von Fachleuten dargestellt und mit den Teilnehmenden diskutiert. Ziel der Veranstalter ist es, umfassendes Hintergrundwissen und konkrete Praxisanleitungen für den Arbeitsalltag zu gewinnen und einen Austausch untereinander zu ermöglichen. Begleitet wird der an mehreren Standorten in Deutschland stattfindende Kongress durch eine Ausstellung von verschiedenen Fachanbietern.

Vielfalt in der Kita

Im nächsten Jahr 2020 wird ein Schwerpunkt des Deutschen Kitaleitungskongress „Vielfalt in der Kita“ sein, die zugleich Chance und Herausforderung für Leitungen und Teams darstellt. Interkulturelle Kompetenz, kultursensibles Handeln und gezielte Kommunikation werden in den Fokus gerückt. Auch beim diesjährigen Kongress war das Thema – neben vielen anderen – bereits Tagungsinhalt.

Im diesjährigen Workshop „Alle anders – alle ganz normal? – Wie Sie die soziokulturelle Vielfalt von Migrantenfamilien in Ihren Kita-Alltag integrieren“ von Reinhold Gravelmann wurden die teilnehmenden Kitaleitungen und Erzieher/-innen angeregt, ihre Bilder von Migrant(inn)en in Frage zu stellen und neu zu konstruieren.
Mit diesen Fragen stehen Haltungsfragen in engem Zusammenhang, ebenso das Selbstverständnis der konzeptionellen Ausrichtung der Kita. Im Workshop wurde zudem auf Kommunikationsbarrieren auf „beiden Seiten“ eingegangen, verbunden mit Wegen zur besseren Kommunikation. Zugleich gab es konkrete Anregungen für die Fachkräfte.

Einige zentrale Aspekte sind im Folgenden zusammengefasst.

Verständnis von Vielfalt

Unter Vielfalt kann zum einen die Unterschiedlichkeit der Lebenslagen von Menschen verstanden werden und sie beschreibt zum anderen die Unterschiedlichkeit in Bezug auf Geschlecht, ethnische und soziale Herkunft, sexuelle Orientierung, Religion und Weltanschauung sowie Alter und geistige Kapazitäten. Ergänzt wird diese Sichtweise durch die Perspektive einer Vielfalt von Gemeinsamkeiten. Ein bedeutender Aspekt von Vielfalt in vielen Kitas ist die multikulturelle Zusammensetzung der Kitakinder und eine ebenso vielfältige Elternschaft. Vielfalt als solche ist positiv und bereichernd. Ohne Vielfalt gibt es keine Veränderungen. Schimmel entsteht bekanntlich in geschlossenen Räumen. Zugleich ist jeder Mensch – unabhängig von seiner Herkunft – individuell an seinen Einstellungen, Lebens- und Verhaltensweisen zu messen, die dann im Einzelfall durchaus auch weniger bereichernd sein können. Es gibt auch nicht nur die positiven Seiten einer „bunten“ Gesellschaft. Zuwanderung bedeutet immer auch eine Herausforderung für die migrierten Menschen wie für die aufnehmende Gesellschaft, somit auch für die Kitas. Es gilt, sich auf die Vielfalt fachlich, methodisch und menschlich einzustellen.

Selbstreflexion

Wer ist deutsch? Cem Özdemir? Heidi Klum? Helene Fischer? Die Zuordnung dessen, was unter „deutsch“, deutscher (Leit)Kultur oder als migrantisch zu verstehen ist, ist heute nicht möglich und war – entgegen manchem Mythos – auch noch nie möglich. Cem Özdemir ist deutscher Staatsangehöriger. Aufgewachsen im Schwabenland. Er sitzt im Deutschen Bundestag, schwäbelt und ist scharfer Kritiker der aktuellen türkischen Politik. Heide Klum ist in Deutschland geboren, hat aber seit einigen Jahren zudem die amerikanische Staatsangehörigkeit. Und Helene Fischer, blond gefärbte Haare, urdeutscher Name und dem deutschen Schlager verhaftet, ist in Sibirien geboren und mit ihren russlanddeutschen Eltern im Alter von 4 Jahren nach Deutschland eingereist. Genauso wenig wie es „den“ Deutschen gibt, gibt es „den“ Migranten / „die“ Migrantin. Eine Banalität, die es sich aber immer wieder bewusst zu machen gilt.

Kulturelle Hintergründe

Welche Rolle spielt die (Herkunfts-)Kultur eines Menschen? (Herkunfts-)Kultur und Migrationshintergrund sind durchaus als oft zentrale Aspekte im Leben der einzelnen Menschen zu sehen und in die fachliche Arbeit einzubeziehen, es gilt diese aber nicht überzubewerten. Menschen sind lernfähig, sie können sich entwickeln, anpassen, verändern, einzelne Aspekte vermengen. Ihre (Herkunfts-)Kultur prägt zwar (mit), ist aber kontextual veränderbar. Kleinere Kinder lernen meist schnell verschiedene kulturelle Muster und Erziehungsstile in ihr Leben zu integrieren. Wo also sind relevante Besonderheiten zu beachten (etwa bei religiösen Gepflogenheiten) und wo wird „Andersartigkeit“ überbetont oder konstruiert? Zu überlegen ist immer auch, wie kulturelle Hintergründe gewinnbringend in den Kitaalltag einfließen können.

Kulturelle geprägte Erziehungsstile

Die Erziehungsstile, Werteeinstellungen, Vorstellungen vom Leben basieren wesentlich auf den jeweiligen vor Ort herrschenden Gegebenheiten und Gepflogenheiten. Auf dem Land wird oft anders gedacht, gehandelt, gelebt als in der Großstadt, in Sibirien anders als in Zentralrussland, in armen Regionen anders als in reicheren, in eher kollektivistisch orientierten Gemeinschaften anders als in Gesellschaften, in denen das Individuum im Mittelpunkt steht. Die Denk- und Sichtweisen führen zu unterschiedlichen Handlungen, Zielen und Vorstellungen in Bezug auf Erziehung. Die am Individualismus orientierten Erziehungsvorstellungen in Deutschland forcieren eine möglichst individuelle, autonome Entwicklung des Kindes mit einem hohen Grad an Selbstständigkeitserwartungen. Andere Erziehungsvorstellungen resultieren aus einem Weltbild, in dem das „Kollektiv“ von zentraler Relevanz ist. Das Kollektiv steht über der individuellen Selbstverwirklichung und das primäre Ziel ist die Integration in die (familiäre) Gemeinschaft. Zwei durchaus konträre Vorstellungen, die es zu kennen und zu berücksichtigen gilt und die in Elterngesprächen ggfs. aufzugreifen sind.

Relevanz des Migrationshintergrundes

Kinder sind in erster Linie Kinder und erst in zweiter Linie Kinder mit einem Migrationshintergrund! Es geht darum, migrations-/kulturspezifische Komponenten bei Kindern wie bei ihren Eltern einzubeziehen, ohne den Blick ethnozentrisch zu verengen und den Migrationshintergrund oder kulturelle Eigenarten überzubewerten. Generell ist es wichtig (Stichwort: Haltung) offen zu sein für andere Kulturen und Sichtweisen und vor allem eine Kultur des Willkommens zu leben und sichtbar zu machen. Welche Kita begrüßt die Eltern mehrsprachig? Wo findet sich die Kultur der Migrant(inn)en in der Kita wider? Werden „Held(inn)en“, Bücher, Lieder anderer Kulturen einbezogen? Wie wird die ggfs. vorhandene Sprachproblematik angegangen, etwa durch Piktogramme oder mehrsprachige Broschüren? Wie werden spezifische Bedürfnisse von Eltern mit Migrationshintergrund etwa bei Elternabenden oder Kitafesten berücksichtigt? Wo findet sich Vielfalt im Kita-Personal, wo im Konzept?

Praktische Tipps und Materialien

Kitamitarbeiter/-innen und Leitungskräfte fragen vielfach nach praktischen Anregungen. Diese sind mittlerweile gut zugänglich. Als beispielhafte Auswahl finden sich unter den nachfolgenden Links entsprechende Materialien und Hinweise zu den Themen Migration und interkulturellem Verständnis.

Materialien speziell zum Thema geflüchtete Menschen und ihre Kinder:

  • www.integration-kitas.de – Berliner Modell-Kitas für die Integration und Inklusion von Kindern mit Fluchterfahrung
  • www.kkstiftung.de – Kinder mit Fluchthintergrund in der Kindertagesbetreuung in Hessen
  • www.nzfh.de – dort: kostenlose Veröffentlichung: Frühe Hilfen für geflüchtete Familien

Über den Autor

Reinhold Gravelmann ist Diplom Sozialpädagoge, Diplom Pädagoge, Eltern-Medien-Trainer der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen sowie freiberuflicher Autor und Referent u.a. zu Migration/Flucht, Neue Medien, sowie Themen aus dem Feld der Kinder- und Jugendhilfe, hierbei insbesondere Kindertagesbetreuung. Seit 2010 arbeitet er hauptberuflich als Referent beim AFET-Bundesverband für Erziehungshilfe e.V.

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