Kindertagesbetreuung

Aus der Praxis: Trauerarbeit in Kitas

"Sind die Spielsachen auch im Sarg?" – Diplom-Pädagogin Sylvia Vogel berät Familien und Fachkräfte zum Thema Sterben, Tod und Trauer. In einem ausführlichen Beitrag berichtet sie über ihre Arbeit in Kitas.

23.09.2015

Der Bericht von Sylvia Vogel erschien zuerst auf dem Blog jugendhilfe.bewegt.berlin

Ich besuche viele Berliner Kitas und Schulen, die vor die Aufgabe gestellt sind, mit ihren Kindern über Sterben, Tod und Trauer zu reden, weil eines der Kinder aus der Gruppe – manchmal sehr plötzlich – verstorben ist. Trauer, Schock, Ohnmacht, Ratlosigkeit und Angst: Erzieherinnen und Erzieher finden oft keine Worte für das Unfassbare und suchen Rat bei mir. Sie sind nicht nur mit ihren eigenen Gefühlen konfrontiert, sondern oft auch mit der Sorge der Elternschaft, dass ihre Kinder eine solch einschneidende Erfahrung in einem entwicklungspsychologisch gesehen zu frühen Alter machen müssen.

Mit den Erzieher/-innen spreche ich zunächst über ihre eigenen Ängste, Blockaden und Erfahrungen – oft leider schlechten – mit Todesfällen in der eigenen Familie. Ich versuche nicht, die Ängste aufzulösen, sondern sie anzusehen und gemeinsam zu reflektieren, zum Beispiel die Ängste, die entstanden sind, als man selbst ein Kind war und die Trauer womöglich wenig Raum fand. Ab diesem Punkt werden die Gespräche viel freier, Hierarchien spielen dann keine Rolle mehr, Erzieher/-innen und Kita-Leitung kommen in Austausch, der erste große Schock und die damit verbundene Sprachlosigkeit können dadurch überwunden werden. Wenn sie vertrauensvoll mit ihren Ängsten umgehen, können wir zu den  konkreten Anliegen übergehen: Wie spreche ich mit den Kindern?

Kinder selbst gehen noch unbefangen mit dem Thema um, viele Kinder im Kita-Alter haben bereits erste Erfahrungen mit dem Tod gemacht. Vielleicht ist der Opa schon gestorben oder das geliebte Haustier. Schildere ich dies den Erziehern und frage sie, wie sie mit den Kindern umgehen, die solche Erlebnisse erzählen, kommen ihnen bereits viele Ideen, wie sie ein Gespräch darüber beginnen können.

Ich möchte Erzieherinnen und Erzieher darin bestärken, Trauer und Betroffenheit vor den Kindern emotional auszudrücken, ohne "unprofessionell" zu wirken, denn das ist eine Befürchtung, die viele haben. "Darf ich vor den Kindern weinen?" werde ich oft gefragt. Hierzu sage ich ein klares "Ja", denn dadurch erfahren die Kinder etwas sehr Wichtiges in ihrem Leben: Authentizität und Offenheit für ihre eigenen Gefühle. Trotz ihrer Trauer können Erzieher/-innen handlungsfähig und kompetent bleiben, indem sie ihre Gefühle benennen. So kommen sie aus der Emotion zur Artikulation und wechseln die Perspektive; weg von der eigenen Person, hin zum Kind und seinen Bedürfnissen.

Kinder brauchen und lieben Rituale, die ihnen helfen, die Welt zu begreifen und in einer vorgegebenen Form mit ihr umgehen zu können. Ich empfehle einen Kreis zu bilden, mit einer Lichterschale in der Mitte, in der jedes Kind eine Kerze anzünden darf. Während sie von den Erziehern erfahren, dass ein Kind aus ihrer Gruppe gestorben ist, ist ihr Blick auf die hellen Kerzen gerichtet, die einen Haltepunkt geben.

Die Erzieher/-innen können für die Familie und für das verstorbene Kind im Morgenkreis gute Wünsche "für den Ort, an dem es jetzt ist", formulieren. Das regt Kinder an, direkt zu fragen: Wo ist es denn jetzt, und wie ist es da? Ich empfehle, die Fragen an die Kinder zurückzugeben: "Was meinst Du denn?"

Die meisten Kinder haben sehr schöne Vorstellungen. Sie erzählen von Sternen, Wolken, einem Regenbogen, dem Paradies oder dem Himmel. Nur selten sagt eines, "das Kind kommt in die Erde". Gefragt wird zum Beispiel, ob das Kind im Sarg seine Spielsachen und eine Decke dabei hat. Weil sich Kinder meist vor Kälte und Dunkelheit fürchten, ist es dann besonders hilfreich, ihnen zu sagen: "Das verstorbene Kind hat es gut. Es befindet sich an einem Ort, an dem es warm und hell ist und es ist dort nicht alleine."

Diese drei Kriterien sind sehr wichtig für Kinder und müssen auch nicht näher definiert werden. Damit können sie leben und es vermittelt ihnen selbst ein Gefühl der Geborgenheit und gibt Perspektive.

Ich rate Erziehern, eigene (religiöse) Überzeugungen wegzulassen, um Kinder nicht in Loyalitätskonflikte zu bringen. Viele von ihnen haben schon in jüngsten Jahren Schildkröte, Wellensittich oder Hamster beerdigt und bringen eigene Erkenntnisse und Erfahrungen mit. Im Morgenkreis können Erzieherinnen und Erzieher die Frage stellen, bei wem schon einmal ein Haustier gestorben ist. Dann erfahren sie manchmal auch von Todesfällen, von denen sie bisher nichts wussten. Kinder, die bereits auf einer Beerdigung waren, erzählen davon ganz unbefangen. Es sind die Erwachsenen, die das Thema tabuisieren.

Der tägliche Umgang mit der Trauer ist für Kinder im Kita-Alter wie "Pfützenspringen". Sie sind anders als Erwachsene nicht konstant mit ihr befasst, sondern gehen schnell in die Erfahrung hinein und wieder heraus, oft kurz und unvermittelt. Wichtig ist, den Kindern vorzuleben, dass die Erinnerung an einen Menschen hilfreich ist. Durch das Erzählen gemeinsamer Erlebnisse und Geschichten behält das verstorbene Kind einen Platz in der Gruppe und durch gemeinsames Handeln – zum Beispiel das Pflanzen von Vergissmeinnicht – wird es auf natürliche Weise in das Gruppengeschehen integriert.

Autorin: Sylvia Vogel

Die Björn Schulz Stiftung begleitet Kinder und Jugendliche, die unheilbar krank sind. Auch, wenn viele von ihnen einige Jahre und mitunter Jahrzehnte mit ihrer Diagnose leben können, versterben manche Kinder bereits im Kita-Alter. Dipl.-Pädagogin Sylvia Vogel hat in der Björn Schulz Stiftung das Kindertrauerzentrum aufgebaut, in dem Kinder begleitet werden, die einen nahestehenden Menschen - Geschwisterkind, Eltern, Großeltern oder Freund - verloren haben und berät Familien und Fachkräfte zum Thema Sterben, Tod und Trauer. Das Kindertrauerzentrum gibt es seit fünf Jahren.

Redaktion: Andreas Schulz

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