Kindertagesbetreuung

AGJ-Positionspapier zu Interkulturalität, Vielfalt und Demokratieerziehung in der Kindertagesbetreuung

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ möchte mit ihrem Positionspapier „Vielfalt. Kind. Gerecht. Gestalten.“ die wesentlichen Entwicklungsnotwendigkeiten im System der Kindertagesbetreuung im Kontext von Vielfalt und Interkulturalität deutlich machen, Ansätze für ein wertschätzendes Miteinander skizzieren und damit vor allem Fach- und Leitungskräfte in der Kindertagesbetreuung in ihrem Handlungsrepertoire unterstützen.

11.10.2017

In Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflegestellen können kulturelle Vielfalt, habituelle Unterschiede und Sprachbarrieren Berührungsängste zwischen Kindern, Eltern, Fachkräften und Kindertagespflegepersonen hervorrufen. Vielfalt als Ressource zu begreifen und für die soziale und pädagogische Arbeit im Alltag zu nutzen, ist herausfordernd. Vor allem wenn gleichzeitig damit einhergehende Spannungen und Konflikte moderiert werden müssen. Dies wird pädagogischen Mitarbeitenden und Leitungskräften in diesem Kontext besonders deutlich bewusst. Das Wissen über gesellschaftliche Strukturen und die Einstellung zur Bildung und Erziehung von Kindern in anderen Ländern kann pädagogischen Fachkräften helfen, die eigene Haltung und damit auch die Qualität der pädagogischen Arbeit weiterzuentwickeln. Gleichzeitig sind sie gefordert, sich mit ihrem eigenen Verständnis von Vielfalt in einem demokratischen Wertesystem auseinanderzusetzen. Es gilt, Identitätsbegriffe und eigene Wertvorstellungen vor dem Hintergrund einer sich verändernden Gesellschaft zu reflektieren und die Umsetzung des Bildungsauftrages im pädagogischen Alltag immer wieder neu zu hinterfragen.

Vielfalt in der Kindertagesbetreuung Rechnung tragen

Der Begriff der Vielfalt ist nicht mehr zu trennen von dem der Inklusion. Inklusion und Kultur sind im fach- und gesellschaftspolitischen Diskurs emotional aufgeladene, nicht eindeutig definierte Begriffe. Der diesem Positionspapier zugrunde liegende Inklusionsbegriff beschreibt konzeptionell eine Gesellschaft, in der jeder Mensch gleichermaßen akzeptiert und Vielfalt geschätzt wird. Alle Menschen sollen – unabhängig von Geschlecht oder Gender, Alter, Herkunft oder Migrationshintergrund, Religionszugehörigkeit, sexueller Orientierung, Bildung oder sozialer Lebenslage, von eventueller körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung sowie sonstigen individuellen Besonderheiten oder sozialen Zuschreibungen – an dieser Gesellschaft gleichberechtigt und selbstbestimmt teilhaben können. Behinderung ist nach diesem Verständnis keine Eigenschaft, die einer Person innewohnt, sondern entsteht erst durch eingeschränkte Teilhabe, die ein Mensch im Kontext seiner Umwelt erfährt.

Innerhalb der Dimensionen von Vielfalt wird der Begriff Kultur oft mit dem Herkunftsort gleichgesetzt oder über künstlerische und zivilisatorische Leistungen und menschliche Errungenschaften definiert. Diese Definitionen würden die Tatsache vernachlässigen, dass auch innerhalb verschiedener Länder große kulturelle Unterschiede bestehen und Kultur nicht auf künstlerische Aspekte und Leistungen begrenzt werden kann. Das Zusammenleben, die Kommunikation und Interaktion von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Deutungs- und Verhaltensmustern, kann als Interkulturalität verstanden werden. Wie diese Kommunikation geführt wird, hängt von den interkulturellen Kompetenzen der betroffenen Akteure ab.

Jedes Kind muss im pädagogischen Alltag der Kindertagesbetreuung individuell betrachtet, individuell gefördert und gleichwertig akzeptiert und wertgeschätzt werden. Der im Papier verwendete Inklusionsbegriff soll die Akzeptanz und Wertschätzung aller Menschen und die Ermöglichung ihrer Teilhabe an der Gesellschaft im Prozess der gesellschaftlichen Inklusion verdeutlichen und zur Wahrnehmung von Differenzfixierung ebenso wie von Differenzblindheit sensibilisieren.

Fachkräfte benötigen interkulturelle Kompetenzen

Die AGJ unterstreicht, dass Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflegepersonen mit Blick auf die wachsende Vielfalt und Heterogenität in der Gesellschaft interkulturelle Kompetenzen brauchen. Die Fähigkeit, in Situationen kultureller Vielfalt effektiv und angemessen zu agieren, wird durch Einstellungen und Haltungen, emotionale Aspekte, (inter-)kulturelles Wissen, spezielle Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie allgemeine Reflexionskompetenz befördert. Es bedarf der Qualifizierung und der Schaffung von Unterstützungsstrukturen, die die kritische Reflexion des eigenen Handelns und den offenen Diskurs zu Haltungsfragen befördern. Vorurteile lassen sich nicht einfach auflösen, sie müssen bewusst wahrgenommen und im Kontext der eigenen pädagogischen Arbeit reflektiert werden. Nur so können Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflegepersonen eine vorurteilsbewusste Haltung entwickeln und durch ihr Handeln entsprechende Entwicklungsprozesse bei Kindern, ihren Familien und auch bei ihren Kolleginnen und Kollegen anstoßen und befördern.

Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung stärken

Interkulturelle Kompetenz setzt Grundlagenwissen, persönliche Fähigkeiten und Einstellungen wie Fertigkeiten und Methoden voraus, um in Situationen kultureller Vielfalt kompetent handeln zu können. Persönliche Einstellungen und Haltungen ändern sich nicht allein durch Appelle und Kataloge theoretischer Anforderungen, die es zu erfüllen gilt. Vermieden werden muss vielmehr, dass das Wissen über andere Kulturen zu Stereotypisierungen und Vertiefung kultureller Fremdheit (Kulturalisierung und Ethnisierung) führt. Der Anti-Bias-Ansatz zeigt auf, wie vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung in der pädagogischen Praxis gelingen kann. Er bezieht alle Vielfaltaspekte ein, die im Leben von Kindern bedeutsam sind und orientiert sich an vier Zielen:

  1. Identität stärken
    Kinder identifizieren sich mit ihren sozialen Gruppen, primäre Bezugsgruppe ist die Familie. Pädagogische Fachkräfte und Kindertagespflegepersonen müssen wissen, was die Lebenswirklichkeit der Bezugsgruppe von Kindern ausmacht. Wenn diese anders ist als die eigene Lebenswirklichkeit, müssen „blinde Flecken“ eingestanden werden. Sonst besteht die Gefahr, Vorurteilen aufzusitzen und sie zu reproduzieren. Die Lebenswirklichkeiten anderer müssen erlebbar sein und über das Informieren weit hinausgehen, sodass Empathie für andere Lebenssituationen entstehen kann.
  2. Erfahrungen mit Vielfalt ermöglichen
    Vielfalt muss für Kinder erfahrbar sein. Die Thematisierung von Unterschieden muss Kinder kognitiv und sprachlich herausfordern, sie zum Vergleichen und Differenzieren anregen. Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung ermutigt Kinder, unbefangen mit Unterschieden umzugehen und sich mit ihnen wohlzufühlen. Vielfalt muss im Alltag in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege gelebt werden.
  3. Kritisches Denken über Vorurteile und Diskriminierungen anregen
    Pädagogische Fachkräfte und Kindertagespflegepersonen, die sich der eigenen Vorurteile bewusst sind, setzen sich gegen Vorurteile und Diskriminierung ein. Das setzt Reflexion und Klärung der eigenen Haltung voraus, um Vorurteilen wie z.B. dem, dass Mehrsprachigkeit Kinder kognitiv überfordert, kritisch und pädagogisch adäquat zu begegnen.
  4. Kinder unterstützen, sich gegen Diskriminierung zu wehren
    Kinder müssen erfahren können, dass es sich lohnt, sich gegen Diskriminierungen zu wenden. Sie haben oftmals ein eigenes Verständnis von Fairness und Gerechtigkeit. Das erfordert Mut, denn oftmals ist es leichter, Missstände und Ungerechtigkeiten zu relativieren und hinzunehmen. Deshalb brauchen Kinder Unterstützung für ihre Haltung und ihr Engagement.

Pädagogische Fachkräfte und Kindertagespflegepersonen können entscheidend dazu beitragen, für eine Lernumgebung zu sorgen, die gesellschaftliche Abwertung und Ausgrenzung nicht bekräftigt, sondern hinterfragt und herausfordert. Niemand ist frei von Vorurteilen. Wichtig ist aber, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, zu reflektieren, was sie bewirken und wie sie sich auswirken. Das bedeutet für Diskriminierung und deren Folgen sensibler zu werden und dem entgegenzuwirken. Solche Selbstreflexion als Reflexion der eigenen Praxis muss im Team der Kindertageseinrichtung, im fachlichen Austausch der Kindertagespflegepersonen auch mit Fachberatungen erfolgen.

Demokratie ermöglichen und Handlungsmöglichkeiten schaffen

Demokratieerziehung schafft über die Vermittlung von Wissen und das konkrete Einüben demokratischer Praktiken ein Bewusstsein für allgemeingültige Werte und Normen unserer Gesellschaft. Kinder erfahren, dass das Wahrnehmen von Rechten die Pflicht zur Übernahme von Verantwortung impliziert – für das eigene Handeln ebenso wie in der Achtsamkeit gegenüber der/dem Nächsten. In der täglichen Praxis der Kindertagesbetreuung werden demokratische Werte und Normen wie zum Beispiel Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Achtung und Respekt, Gewaltfreiheit und Gemeinschaft praktisch erfahrbar gemacht. So wird den Kindern früh vermittelt, die Gleichwertigkeit eines jeden Menschen und seine (Menschen-)Würde anzuerkennen.

Die AGJ fordert Fach- und Leitungskräfte, Kindertagespflegepersonen, Träger und Fachberatungen auf, dem hohen Stellenwert von Demokratieerziehung und Menschenrechtsbildung für die Kindertagesbetreuung in ihrer Arbeit Rechnung zu tragen. Um auf Ausgrenzungstendenzen im Alltag pädagogisch sinnvoll reagieren zu können, brauchen pädagogische Fachkräfte und Kindertagespflegepersonen Wissen über Demokratieerziehung und ihre Methoden, grundlegende Kenntnisse über die politische und soziale Lage in Regionen, aus denen Menschen fliehen, sowie rhetorische Fähigkeiten und Methoden, um Vorurteilen souverän begegnen zu können, extremistische und rassistische Aussagen zu entkräften und eine Reflexion anzustoßen. Politik, Träger und Leitungskräfte sieht die AGJ in der Pflicht, die notwendigen Unterstützungssysteme bereitzustellen.

Fortbildungen  und Zusammenarbeit mit den Eltern

Die AGJ regt zudem an, dass Leitungskräfte in enger Zusammenarbeit mit ihren Teams und den zuständigen Fachberatungen Konzepte für die Elternarbeit im Zusammenhang mit dem Anspruch von vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung entwickeln. Nur durch eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern kann das Alltagserleben der Kinder und ihrer Familien zum zentralen Ausgangspunkt pädagogischen Handelns werden und die vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung der Kinder befördern. Dazu brauchen pädagogische Fachkräfte, Kindertagespflegepersonen und Leitungskräfte die Möglichkeit, sich durch Fortbildungen zunächst selbst zu bilden und die eigene Haltung zu reflektieren. Der Anti-Bias-Ansatz kann hier als eine Möglichkeit der Fortbildung in diesem Kontext genannt werden. Er kann jedoch nur mit einer fachlichen Verständigung und kontinuierlicher Auseinandersetzung im Team über vorhandene Vorurteile und Ausgrenzungstendenzen untereinander und in der Gruppe der Eltern und Kinder wirksam werden.

Trägerverantwortung wahrnehmen und stärken

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ fordert die Träger von Kindertageseinrichtungen auf, ihre Verantwortung im Kontext von Vielfalt und Inter-kulturalität wahrzunehmen und sich den daraus ergebenden Herausforderungen bewusst zu stellen. Eine diversitätsbewusste Organisations- und Personalentwicklung ist dabei ebenso zu befördern wie die Einrichtung von Beteiligungs- und Beschwerdestrukturen für Mitarbeitende sowie die Zusammenarbeit und Vernetzung mit weiteren Akteuren im Sozialraum im Kontext interdisziplinärer Arbeit.

Mit der Sicherstellung von Angeboten und Qualität der Fachberatung für Kindertagespflege, sowie regelmäßigem fachlichen Austausch zwischen Kindertagespflegepersonen untereinander und mit Fachkräften der Kindertageseinrichtungen, kann nicht nur eine vielfaltsensible Haltung unterstützt und reflektiert werden, sondern auch Offenheit und Akzeptanz gegenüber den unterschiedlichen Kinderförderungssettings in Kindertageseinrichtungen und Kinderta-gespflege entstehen. Denn eine Vielfalt an Kinderförderungsangeboten, die den unterschiedlichen Bedarfen gerecht wird, ist ein Beitrag zur gesellschaftlichen Integration, Inklusion und interkulturellen Orientierung. Die AGJ empfiehlt den Umgang mit Vielfalt und Interkulturalität in der Kindertagesbetreuung kindgerecht zu gestalten und zum Anlass zu nehmen, die Kindertagespflege weiter zu qualifizieren. Darüber hinaus sollten weiterbildende Qualifizierungsmodule, welche die interkulturelle Kompetenz der Kindertagespflegepersonen fördern, die Grundqualifizierung ergänzen.

Das ausführliche Positionspapier der AGJ steht als PDF (88 KB) zum Download zur Verfügung.

Quelle: Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

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