Kinder- und Jugendschutz

Runder Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“ führt Gespräche mit Betroffenen

Auf Einladung der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, Dr. Christine Bergmann, und in Zusammenarbeit mit den Bundesministerinnen Dr. Kristina Schröder, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Prof. Dr. Annette Schavan trafen sich am Mittwoch die Ministerinnen und rund 30 Mitglieder des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“ mit Betroffenen zu einem Erfahrungs- und Meinungsaustausch.

12.11.2010

Vorbereitet und moderiert wurde das Gespräch von der Unabhängigen Beauftragten Dr. Christine Bergmann. An dem Gespräch nahmen sechs Betroffene und zwei Angehörige in Vertretung für ihre minderjährigen bzw. von Behinderung betroffenen Kinder teil. Die Betroffenen hatten sexuellen Missbrauch in unterschiedlichen Zusammenhängen erfahren - in der Familie, in einer kirchlichen Einrichtung, im Internat, im DDR-Heim, im Sportverein und in einer Behinderteneinrichtung. Im Vordergrund des mehrstündigen Gesprächs stand nicht die Darstellung des jeweiligen Tatgeschehens, sondern die Dimension des Geschehenen und die daraus abgeleiteten Konsequenzen für die Betroffenen und ihre Botschaften an Politik und Gesellschaft.

„Es war uns wichtig, Betroffene einzuladen, denen es auf Grund ihrer Lebensgeschichte und ihrer Auseinandersetzung mit diesem hochsensiblen Thema möglich ist, vor einem großen Personenkreis über das Erlebte und ihre Anliegen zu sprechen“, so Dr. Bergmann im Anschluss an das heutige Gespräch „Ihre Berichte und Botschaften beruhen auf persönlichen Erfahrungen, spiegeln aber die Schicksale und Anliegen sehr vieler Betroffener wider, die uns in der telefonischen Anlaufstelle erreichen.“ Als Unabhängige Beauftragte zeige sie sich erleichtert, dass Betroffene als Expertinnen und Experten in eigener Sache am Runden Tisch gehört worden seien, auch wenn hiermit sicher nicht alle Bedürfnisse und Anliegen von Betroffenen und Betroffenennetzwerken abgedeckt werden könnten.

Insbesondere die von familiärem Missbrauch Betroffenen berichteten von Langzeitfolgen wie Depressionen und Persönlichkeitsstörungen und der Notwendigkeit von langjährigen und individuellen Therapien, um die mehrfach beschriebenen „Parallelwelten“ aufarbeiten zu können. Allen gemeinsam war die Erfahrung, in ihrem Umfeld keine Menschen gefunden zu haben, denen sie vertraut bzw. die ihnen geglaubt hätten. Einige Betroffene berichteten von massiven privaten und beruflichen Einbrüchen, viele versuchten, ihre Erfahrungen nicht nur in Therapien sondern auch in Selbsthilfegruppen oder kreativen Projekten zu verarbeiten.

Angehörige, deren Kinder in Behinderteneinrichtungen oder Sportvereinen missbraucht wurden, berichteten von Vertuschungen und Bagatellisierungen. Es sei eine große Belastung für die Familien, Missbrauch anzuzeigen, wenn die eigene Glaubhaftigkeit dabei immer wieder unter Beweis gestellt werden müsse, während die Täter meist keine Konsequenzen zu fürchten hätten. Gefordert wurde auch eine Aufarbeitung der körperlichen und sexuellen Gewalt in DDR-Heimen und eine Rehabilitation der Kinder, die dort mit „Dampf, Druck, Drill und Dresche“ gezüchtigt und gebrochen wurden. Durch die Verknüpfung von Staatssicherheit und pädagogischem Personal sowie intransparenter Aktenlage sei es für die Betroffenen nahezu unmöglich, mit anderen Betroffenen in Kontakt zu treten und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

„Ich will daran mitarbeiten, dass alle gesellschaftlichen Kräfte den Mut entwickeln, den zukünftigen Opfern zur Seite zu stehen“, so Gabriele Gawlich über ihre Beweggründe, am Runden Tisch als Betroffene teilzunehmen. „Wir brauchen nicht nur jemanden der spricht, wir brauchen auch jemanden, der zuhört, Partei ergreift und handelt. Ich erwarte, dass wir endlich gemeinsam wirksame Prävention entwickeln und installieren“. Es müsse jetzt praktisch und finanziell den Betroffenen geholfen werden, so Matthias Katsch, ehemaliger Schüler des Canisius-Kollegs, „wir brauchen Hilfe bei der Suche nach geeigneten Formen der Therapie, bei der Bewältigung von Kollateralschäden, wie zum Beispiel Süchten, und Hilfe beim Neuanfang.“ Er betonte, dass es nicht um eine „Entschädigung für Luxusschüler“ gehe, sondern um Hilfen für alle Betroffenen sexuellen Missbrauchs, auch wenn bezogen auf die katholische Kirche die Täter bzw. Institutionen namentlich bekannt und zur Rechenschaft gezogen werden müssten.

Gemeinsam appellierten die Betroffenen an Politik und Gesellschaft, eine positive Grundhaltung gegenüber Betroffenen einzunehmen und folgende Forderungen in ihre Entscheidungen einzubeziehen:

 

  • ‚Ausbau und engere Vernetzung von Beratungsstellen und deren finanzielle Sicherstellung
  • besser zugängliche, längere und spezialisiertere Therapien und Einrichtung von Traumazentren
  • unabhängige Anlaufstellen auf Bundes- oder Länderebene
  • bessere Kontrollinstrumente in Institutionen sowie externe unabhängige Vertrauenspersonen
  • Aufarbeitung von Strukturen und Mechanismen, die den systematischen Missbrauch in Institutionen möglich gemacht haben
  • Aus- und Weiterbildungen zu sexuellem Missbrauch für alle Berufsgruppen, die mit Kindern und Jugendlichen sowie in Therapie und Medizin und in der Justiz und bei der Polizei tätig sind
  • Anerkennung des erlittenen Unrechts für die damit verbundenen lebenslänglichen privaten wie beruflichen Konsequenzen durch Entschädigungen

„Wir müssen heraus aus der ständigen Infragestellung, Rechtfertigung und dem ständigen Kampf um etwas“, so Hedda Petersen, eine teilnehmende Betroffene am Runden Tisch, „wir möchten endlich leben - ein Leben ohne Kampf!“

Seit Start der Geschäftsstelle der Unabhängigen Beauftragten im April 2010 haben sich insgesamt rund 7.500 Betroffene, Angehörige und Kontaktpersonen an die Unabhängige Beauftragte gewendet. Waren es bis zum Start der Kampagne „Sprechen hilft“ im September noch etwa gleich viele Meldungen von Frauen und Männern, liegt das Verhältnis jetzt bei 60 % Frauen und 40 % Männern. Frauen berichten vor allem von Missbrauch im familiären Umfeld, Männer von Missbrauch in Institutionen. Es melden sich zunehmend auch mehr junge Menschen, auch Minderjährige. Das Durchschnittsalter ist seit Kampagnenstart von über 50 auf Mitte 40 gesunken. Die Altersspanne reicht von 8 bis 81 Jahren.

Quelle: Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs

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