Kinder- und Jugendarbeit

Zusammenarbeit mit China: Gleichwertige Lebensverhältnisse und gleiche Chancen für junge Menschen

Lern- und Leseecke im Gemeindezentrum in der chinesischen Provinz Shanxi

Das Thema der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist in der deutschen Debatte hochaktuell. Da lohnt sich ein Blick über den Tellerrand: Wie versucht man eigentlich in China, dem bevölkerungsreichsten Land der Welt, jungen Menschen einen gleichberechtigten Zugang zu Angeboten und Förderung zu ermöglichen? Sechs deutsche Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe gingen u.a. dieser Frage bei einem Fachkräfteprogramm in Peking und Taiyuan auf den Grund.

16.08.2019

Mit 1,4 Milliarden Einwohnern zählt China nicht nur im Hinblick auf seine Einwohnerzahl, sondern auch flächenmäßig zu den größten Ländern der Welt. Als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt setzt China neue wirtschaftliche und technologische Maßstäbe. In den Groß- und Megastädten des Landes steigt der Wohlstand und bringt als Ergebnis eine wachsende Mittelschicht in einer einst von Armut geprägten Gesellschaft hervor.

Die rasante Entwicklung Chinas der letzten Jahre und Jahrzehnte wird zunehmend spür- und sichtbar und hält die Welt in Atem. Es reicht ein Blick auf die Ruhrgebietsstadt Duisburg, dem Ende der „Neuen Seidenstraße“, dem 900-Milliarden-schweren, weltweiten Investitionsprogramm der Volksrepublik. Angesichts dieser Entwicklungen ist eines unbestreitbar: Ein Blick nach China ist notwendig und lohnt sich auch!

Land der Gegensätze

China ist in seiner rasanten Entwicklung ein Land der Superlative, aber auch ein Land der Gegensätze. Dies gilt zumindest dann, wenn man auf die Verteilung des neu erworbenen und florierenden Wohlstands schaut. Fernab der modernen Metropolen ist in ländlichen Regionen noch vergleichsweise wenig vom wirtschaftlichen Fortschritt zu spüren. Die Einkommensunterschiede zwischen Stadt und Land sind groß, entsprechend unterschiedlich sind auch die jeweiligen Möglichkeiten und Perspektiven von Kindern und Jugendlichen. Die Sehnsucht nach „mehr“ und der Wunsch, der Armut zu entkommen, treibt viele Menschen schon in jungen Jahren in die Städte. Ähnlich wie in Deutschland kämpfen ländliche Regionen als Folge des Wegzugs der jungen Bewohner/-innen in die Städte mit schwindender Bevölkerung und Überalterung in den ländlichen Regionen. Die Schaffung von gleichen Chancen für junge Menschen ist daher auch in China ein sehr wichtiges und aktuelles Thema.

Von Armut, Moral und Speed Dating – Eindrücke aus dem chinesischen Jugendentwicklungsplan

Seit Staatspräsident Xi Jingping die Jugend als Schlüsselfaktor für Wohlstand und ein starkes, wachsendes China auf die politische Agenda gesetzt hat, erfährt der Bereich der Jugendarbeit in China zunehmend Aufwind. Als Auftakt für das Fachkräfteprogramm in China wurde den Teilnehmenden vom Allchinesischen Jugendverband in Peking, einem der zentralen Akteure in der politischen Struktur Chinas und Dachverband der Jugendorganisationen des Landes, der erste mittel- und langfristige Jugendentwicklungsplan (2016 - 2025) vorgestellt (als Jugendliche gelten in China Menschen zwischen 14 und 35 Jahren). Viele Aspekte wie Soziale Sicherheit, Bildung und Erziehung oder Jugendschutz waren den Fachkräften, wenngleich in ein unterschiedliches Verständnis eingebettet, aus Deutschland bekannt.

Auf Interesse und Erstaunen stießen hingegen Punkte wie Ehe und Partnerschaft sowie der als Alleinstellungsmerkmal Chinas vorgestellte und gleich als Erstes genannte Punkt Moralische Bildung. Letzterer verdeutlichte, dass die Entwicklung der chinesischen Jugend insbesondere und hauptsächlich Aufgabe der Kommunistischen Partei ist und sich auch an deren Bedarfen orientiert. Vertrauen in das Regierungssystem, gesellschaftliche Solidarität und Fleiß werden als Schlüsselelemente dieses Strategiepunktes angesehen. Im Zentrum steht bei den jugendpolitischen Entwicklungen vor allem das Gemeinwohl und gesellschaftliche Stabilität. Zu diesem Zweck unterstützt der Staat auch bei der Partnersuche und Familiengründung, denn im Gegensatz zur früheren Politik sollen die chinesischen Bürger/-innen nun dazu angeregt werden, mehr als ein Kind zu bekommen.

Bei einem Besuch in einem von der Regierung ausgestatteten Gemeindezentrum in der chinesischen Provinz Shanxi berichtete der Einrichtungsleiter von regelmäßigen Speed-Dating Events, bei dem sich junge Männer und Frauen kennenlernen können. Dies trug zur Erheiterung der deutschen Fachkräfte bei, vor allem aufgrund der abwegigen Vorstellung, dass Partnerfindung staatlich organisiert und bezuschusst wird.

Mit Bildung zu sozialer Sicherheit und Wohlstand

Armutsbekämpfung ist ein aktuelles Schwerpunktthema in China. Dass Bildung in China als der Schlüssel zu Wohlstand und einem stabilen Leben angesehen wird, spiegelte sich bei allen Stationen des Fachprogramms wider.

Bei einem Besuch in einem großen Technologiepark wurden der deutschen Gruppe Unterstützungsangebote für junge Existenzgründer(inne)n präsentiert, denen durch die Möglichkeit, günstig Arbeitsräume zu mieten oder Fördermittel zu beziehen, nach dem Hochschulabschluss der Karrierestart erleichtert werden soll. Die Regierung investiert in den Technologiepark, denn die Nachwuchstalente entwickeln hier Zukunftstechnologie (z. B. biometrische Erkennungssysteme).

Auch das oben bereits genannte Familien- und Jugend-Gemeindezentrum präsentierte mit Stolz eine Wand, an der sich junge Existenzgründer/-innen mit einem Foto verewigt haben. Diese dort abgebildeten Männer und Frauen hatten an den (kostenlosen) Computerplätzen des Zentrums ihre ersten Gehversuche in die Geschäftswelt (egal ob Coffee Shop oder Lebensmittelwagen) unternommen. Auf den Erfolg der Existenzgründer sind die Mitarbeitenden im Zentrum stolz und froh, durch Ihr Angebot einen Beitrag zum Weiterkommen dieser Menschen geleistet zu haben. Im Gegensatz zum Technologiepark haben hier alle Bürger/-innen grundsätzlich Zugang zu den Angeboten des Gemeindezentrums.

Mit seiner breiten Palette an unterschiedlichen Aktivitäten stellt es eine Art Schmelztiegel dar, in dem verschiedene Handlungsstränge chinesischer Jugend-, aber auch Gesellschaftspolitik zusammenlaufen. Das nach modernstem Standard eingerichtete Zentrum verfügte über eine kleine Bibliothek, Lern- und Leseplätze, einen Kinosaal, generationenübergreifende Sport- und Spielräume und Tagungsmöglichkeiten für die 16 lokalen Jugend-Parteigruppen der Gemeinde. Eltern und Schüler/-innen können günstige Nachhilfeangebote in Anspruch nehmen, Studierende können sich in verschiedenen Bereichen (z. B. als Nachhilfelehrer/-innen oder in der Nachbarschaftshilfe) als Freiwillige engagieren. Über Tanz- und Kalligrafiekurse und Kochwettbewerbe wird chinesisches Kulturgut generationenübergreifend vermittelt.

Die Vermittlung chinesischer Werte ist explizites Ziel des Zentrums. Auch psychologische Beratungsangebote sind hier verfügbar, die sich jedoch vor allem auf die mentale Vorbereitung auf den schulbedingten Leistungsdruck beziehen. Über 100 junge Menschen gehen nach eigenen Angaben täglich in dem ganzjährig geöffneten Zentrum ein und aus. Auch für Menschen aus angrenzenden Gemeinden sind die Angebote zugänglich, eine Mitgliedschaft ist nicht erforderlich. Als außerschulische Stätte ist das Zentrum eine Besonderheit in China. Dass es sich um eine von der Kommunistischen Partei geförderte Einrichtung handelt, ist im Zentrum unübersehbar und ein Grund für die hervorragende Ausstattung. Der generationenübergreifende Ansatz und das breite Angebot des Zentrums haben die deutsche Gruppe dennoch sehr beeindruckt und einigen Teilnehmenden Anregungen für die eigene Arbeit in der deutschen Heimat mit auf den Weg gegeben.

Der Besuch in einer Grundschule im Kreis Yangqu veranschaulichte, wie vehement die Ziele des chinesischen Jugendentwicklungplans in der Praxis umgesetzt werden. Die seit 1957 bestehende Schule wurde 2017 kurzerhand in eine Armenschule umgewandelt, deren Schülerschaft heute etwa zur Hälfte aus Schüler(inne)n besteht, die aus armen und zum Teil prekären Verhältnissen stammen. Durch die Etablierung als Armenschule erhalten diese Kinder kostenlosen Zugang zum Bildungssystem und somit die Aussicht auf den in China so wichtigen Bildungsaufstieg. Auch für die Eltern der Kinder schafft die Schule in begrenztem Umfang Beschäftigungsmöglichkeiten (z. B. als Hausmeister/-in). Die Schule gilt als Vorzeigeprojekt für die Umsetzung des Jugendplans der Regierung und könnte zukünftig Modellcharakter entwickeln. Sie ist auch ein Beispiel dafür, wie ländliche Regionen in ihrer Entwicklung gefördert werden sollen. In speziellen Programmen werden junge Menschen aus ländlichen Regionen auch in der Hochschulbildung gefördert und sollen im Anschluss dazu animiert werden, gut ausgebildet in ihre Heimatregion zurückzukehren. Diese Förderung bezieht sich jedoch hauptsächlich auf junge Menschen, die bereits sehr gute Leistungen z. B. in der Schule erbringen.

Gleichwertige Lebensverhältnisse für alle? – Ein Fazit

Zurück zur Ausgangsfrage: Wie versucht das bevölkerungsreichste Land der Welt, jungen Menschen gleichberechtigten Zugang zu Angeboten und Förderung zu ermöglichen? Es wäre schon fast eine kühne Erwartung gewesen, in fünf Programmtagen auf diese doch sehr komplexe und umfassende Fragestellung eine eindeutige Antwort zu finden. Dennoch ist es gelungen, zumindest ausschnittsweise einen Einblick in ein komplexes politisches System zu erhaschen, in welchem die Jugend einen zentralen Stellenwert einnimmt.

Grundlegend für das nachfolgende Fazit ist die Erkenntnis, dass non-formale Bildung in China kein bestimmendes Element ist. Bildung bedeutet vor allem schulischen Wissenserwerb sowie kulturelle und ideologische Bildung gemäß den gesellschaftlichen Standards. Freizeit, soweit Kindern im straffen chinesischen Schulalltag Zeit dafür bleibt, spielt sich meistens ebenfalls in schulischen Kontexten ab. Bildung gilt in China als der Schlüssel zu Aufstieg, gesellschaftlicher Anerkennung und Wohlstand. Mit diesem Wissen im Hinterkopf nehmen die Teilnehmenden vor allem die Erkenntnis mit nach Hause, dass die Einrichtungen, Projekte und Strategien, die im Rahmen des Fachkräfteprogramms vorgestellt wurden, zwar nicht immer mit Kinder- und Jugendhilfe oder gar Benachteiligtenförderung nach deutschem Verständnis in Einklang zu bringen sind, aber nach chinesischem Verständnis wichtige Grundpfeiler der dortigen Jugendarbeit darstellen. Jugendarbeit in China sei anders, reflektiert ein Teilnehmer der Gruppe im Nachhinein. Ob besser oder schlechter, das wage er nicht zu bewerten. Dies spiegelt gut die Eindrücke einiger Teilnehmenden wider, die beeindruckt aber auch nachdenklich zurück nach Deutschland reisten.

Die chinesische Jugend befindet sich im Wandel und entwickelt eigene Vorstellung und Wünsche für die Zukunft. Dies geht mit bestimmten Bedarfen einher. Die chinesische Regierung hat den Handlungsbedarf bei der Bereitstellung von Angeboten für Jugendliche sowohl aus der Stadt als auch aus ländlichen Regionen erkannt und die Förderung von Jugendlichen zu einer Priorität gemacht. Die Forschung in diesem Bereich läuft auf Hochtouren. Die Flexibilität und Reaktionsschnelligkeit, mit der die Regierung Vorhaben, die politische Priorität genießen, durchsetzt und auch bereit und in der Lage ist, dafür die finanziellen Ressourcen bereitzustellen, ist beeindruckend. Daran, dass die Motivation dahinter auch ideologischer Natur ist, wurde in der intensiven Woche durch die teils latente, teils ganz offensichtliche Präsenz der Kommunistischen Partei kaum Zweifel gelassen. Zivilgesellschaftliche und/oder parteilose Initiativen spielten im Programm keine Rolle. Dennoch traf die Gruppe auf viele engagierte Menschen, die Kindern und Jugendlichen Türen öffnen und Chancen ermöglichen wollen, vor allem dann, wenn sie aus armen Verhältnissen kommen und nur bedingt Zugang zu (Weiter-)Bildungsmöglichkeiten haben. Das Vorankommen und der Wohlstand aller ist das Ziel.

Von gleichwertigen Lebensverhältnissen für alle jungen Menschen ist man sowohl in China als auch in Deutschland noch immer entfernt. Dass es sich lohnt, sich überall auf der Welt dafür einzusetzen, darin waren sich am Ende alle einig.

Das Fachkräfteprogramm „Gleichwertige Lebensverhältnisse und gleiche Chancen für junge Menschen“ fand vom 24. bis 28. Juni 2019 in China statt. Weitere Informationen zur jugendpolitischen Zusammenarbeit mit China finden sich unter www.ijab.de/china.

Quelle: IJAB – Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e.V., Elena Neu

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