Kinder- und Jugendarbeit

Willkommen mit Hindernissen: Ein internationales Workcamp in der Ukraine

In der Ukraine herrscht eine tiefe Kluft zwischen Zivilgesellschaft und staatlichen Institutionen. Freiwillige eines internationalen Workcamps in Chernivtsi – dem ehemaligen Czernowitz – machten in diesem Sommer ihre eigenen Erfahrungen damit.

30.08.2010

Workcamp auf dem jüdischen Friedhof von Czernowitz, August 2010
Junge Freiwillige auf dem jüdischen Friedhof von Chernivtsi / Czernowitz, Bild: Dariusz Kałan

Workcamp auf dem jüdischen Friedhof von Czernowitz, August 2010
Schätze, die wieder sichtbar werden: Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof von Chernivtsi / Czernowitz

Workcamp auf dem jüdischen Friedhof von Czernowitz, August 2010
Freigelegte Grabsteine - dahinter liegt der Dschungel des Friedhofs.

Workcamp auf dem jüdischen Friedhof von Czernowitz, August 2010
Was nicht konsequent mit Herbiziden behandelt wird, holt sich die Natur in kürzester Zeit zurück.

Workcamp auf dem jüdischen Friedhof von Czernowitz, August 2010
Suche im Dickicht: Eine Freiwillige hilft bei der Suche nach dem Grabstein des Großvaters.

Die Überraschung der Freiwilligen, die Mitte August zu einem internationalen Workcamp in Chernivtsi im Westen der Ukraine anreisen, ist groß: Die Beamten der Stadtverwaltung, die eine Unterkunft für die jungen Leute bereitstellen sollten, haben ihre Arbeit nicht gemacht und sind in Urlaub gefahren. Wo soll man jetzt über Nacht bleiben? Dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, Lev Kleyman, gelingt es dann doch noch, ihnen ein Dach über dem Kopf zu verschaffen – und ein besonders schönes noch dazu. Lev Kleyman bezahlt das aus eigener Tasche. Die Vereinbarung zwischen dem Freiwilligendienst SVIT, dem ukrainischen Zweig von Service Civil International, und der Stadtverwaltung von Chernivtsi sah etwas anderes vor.

Die Freiwilligen, die aus Polen, Frankreich, der Tschechischen Republik, der Slowakei, dem Osten der Ukraine und den USA angereist sind und auf dem großen jüdischen Friedhof der Stadt arbeiten wollen, fragen sich, ob sie in Chernivtsi willkommen sind. Auch der erste Besuch auf dem jüdischen Friedhof wirft neue Fragen auf. Der Friedhof ist über Jahrzehnte sich selbst überlassen worden. Während der christliche Friedhof in einem vergleichsweise akzeptablen Zustand ist, hat sich der jüdische Friedhof in einen undurchdringlichen Dschungel verwandelt. Überlebenden des Holocaust und ihren Nachkommen gelang es bis vor kurzem kaum, die Gräber ihrer Angehörigen zu finden. Sie waren wegen der wuchernden Vegetation schlicht nicht zugänglich. Seit 2008 ändert sich das. Die Freiwilligendienste SVIT und Aktion Sühnezeichen Friedensdienste führen Workcamps durch. In Amerika haben ehemalige Bürgerinnen und Bürger von Chernivtsi – dem früheren Czernowitz – einen Verein gegründet, der Spenden für die Wiederherstellung des Friedhofs sammelt. Dr. Bursuk vom jüdischen Hilfsverein Hessed Shushana finanziert daraus die Rodung großer Flächen auf dem 11 Hektar großen Friedhof. Die Friedhofsverwaltung hatte zugesagt, mit dem Einsatz von Herbiziden ein erneutes Zuwachsen zu verhindern. Geschehen ist dies nur teilweise. Karolina, eine junge Freiwillige aus Polen, die bereits im vergangenen Jahr an einem Workcamp teilgenommen hat, ist entsetzt, als sie sich die Fläche, auf der sie im letzten Jahr gearbeitet hat, ansieht. Holunder, Efeu und Ahorn haben sich zurückgeholt, was im vergangenen Jahr mühsam freigelegt wurde. Der Unterschied zwischen Arealen, auf denen Herbizide eingesetzt wurden, und solchen, auf denen dies unterlassen wurde, ist eklatant.

Karl, ein Lehrer aus Chernivtsi, der neben vielen anderen Sprachen auch Deutsch spricht, ist von solchen Rückschlägen nicht überrascht. „Wenn Leute in der Stadtverwaltung keinen persönlichen Nutzen aus etwas ziehen können, dann passiert auch nichts“ sagt er. Es sind Bürgerinnen und Bürger in der Stadt, die am Erhalt des jüdischen Friedhofs interessiert sind, nicht ihre Repräsentanten. Diese Kluft zwischen Zivilgesellschaft und staatlichen Institutionen spüren die Freiwilligen. Es hilft ihnen zu verstehen, wem sie willkommen sind, und sich so überhaupt willkommen und geschätzt zu fühlen.

Dass ihre Arbeit nicht sinnlos ist, spüren die Freiwilligen Tag für Tag. Sie arbeiten auf einem der ältesten Teile des Friedhofs und knüpfen direkt an die Arbeit der Freiwilligen von Aktion Sühnezeichen an, die im Juli hier waren. Mit jedem Busch und Baum, die verschwinden und sich bereits am Eingang des Friedhofs zu riesigen Haufen türmen, kommen neue handwerkliche Meisterstücke zu Vorschein: Traditionelle Grabsteine, die mit Leuchtern, segnenden Händen, Löwen, Kronen und Hirschen dekoriert sind. Anders als auf später angelegten Arealen fehlen hier die klassizistischen Zugaben des 19. Jahrhunderts und die Beschriftung der Steine ist ausschließlich Hebräisch. Ein älteres Ehepaar aus Israel kommt auf die arbeitenden Freiwilligen zu. Beide sind in der Stadt geboren: Er vor dem Krieg, als Chernivtsi das rumänische Cernauti war – aber immer noch von den Einwohnern der Stadt Czernowitz genannt wurde –, sie nach dem Krieg, als die Stadt das sowjetische Chernovtsy wurde. Beide suchen sie nach Gräbern von Verwandten. Fündig werden sie ausgerechnet dort, wo die Freiwilligen gerade arbeiten. Der alte Herr ist gerührt von der Arbeit der „Mädele“, wie er in einem jiddisch eingefärbten Deutsch sagt.

Arthur Rindner ist ebenfalls aus Israel gekommen. Er war 4 Jahre alt, als er und seine Familie in ein rumänisches Arbeitslager östlich des Flusses Dnjestr deportiert wurden. „Ich werde nicht vergeben“ sagt Arthur über diese Zeit. Der Kontakt mit den Freiwilligen tut ihm gut. Zuzanna aus Bratislava und die junge Ukrainerin Katya haben sich mit Macheten und Scheren bewaffnet und helfen Arthur bei der Suche nach dem Grab seines Großvaters im Dschungel des Friedhofs. „Die Freiwilligen waren toll“ wird Arthur später sagen. Arthur tut auch den Freiwilligen gut.

Für Dariusz aus Polen war das Workcamp in Chernivtsi ein unvergessliches Erlebnis. Eine Woche nach Ende des Workcamps hat er ein umfangreiches Fotoalbum bei Facebook angelegt. Die Fotos zeigen einen wachen Blick auf die Stadt und ihre Menschen. „Nur die Enthusiasten in der Stadt, nicht die Stadt selbst, haben ein Interesse am Erhalt des Friedhofs“ schreibt er. Vielleicht lernen die Verantwortlichen der Stadt aus diesem Blick von außen.

ch

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