Schweiz

Offene Kinder- und Jugendarbeit bekommt endlich die Aufmerksamkeit, die sie verdient

Die Coronakrise hat die Offene Kinder- und Jugendarbeit gefordert und gefördert. Gefordert, indem sie ihre Angebote anpassen musste, zum Beispiel zu Hilfeleistungen von Kindern und Jugendlichen für Risikopersonen. Gefördert, indem sie nunmehr öffentliche Aufmerksamkeit erfährt. Diese möchte dieser Teilbereich der Sozialen Arbeit in der Schweiz nutzen, um sich noch besser in Städten und Gemeinden zu verankern.

14.04.2021

Durch die Coronapandemie hat sich für viele Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene das alltägliche Leben massiv verändert. Sinnvolle und fördernde Freizeitangebote finden nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt statt, Eltern sind zusätzlich belastet mit Homeoffice und Existenzängsten. Das für Jugendliche und junge Erwachsene zentrale Bedürfnis, sich mit Gleichaltrigen zu treffen, insbesondere auch im öffentlichen Raum, ist massiv eingeschränkt. Erhöhter Stress, psychisches Leiden oder gar häusliche Gewalt sind Folgen davon.

Der Dachverband Offene Kinder- und Jugendarbeit Schweiz (DOJ) setzt sich seit Beginn der Pandemie dafür ein, dass die Angebote der Offenen Kinder- und Jugendarbeit mit Einschränkungen offenbleiben. Dies ist das oberste Ziel, da Kinder und Jugendliche unter den Maßnahmen stark leiden und Angebote und Freiräume außerhalb von Schule und Familie für einige junge Menschen der einzige Ort sind, an welchem sie neutrale Vertrauenspersonen treffen und einen Rückzugs- und Erholungsort finden. Außer während des Lockdowns im Frühling 2020 blieben die Angebote in den meisten Städten und Regionen zugänglich.

Flexible und kreative Reaktion auf Veränderungen

Mit den Maßnahmen im Frühjahr 2020 wurden von einem Tag auf den anderen einerseits die digitalen Aktivitäten und andererseits die aufsuchende Jugendarbeit in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sehr wichtig. Eine Umfrage bei den Mitgliedern des DOJ hat gezeigt, dass viele Fachstellen in diesen beiden Bereichen flexibel, rasch und mit viel Mut und Kreativität reagierten. Die Fachpersonen betonen aber auch, dass der digitale Austausch mit Kindern und Jugendlichen den physischen in keiner Weise ersetzen kann und dass dafür eine vorher schon bestehende Beziehung nötig ist.

„Die einschneidendste Veränderung war sicher der Digitalisierungsschub – sowohl in der Arbeit mit Jugendlichen als auch auf Organisationsebene. Hier ist gerade in den Lockdownzeiten experimentiert worden, eine Menge spannender Formate entstanden. Dennoch sind wir überzeugt: In allererster Linie wollen Jugendliche sich in unseren Räumen treffen. Keine Online-Begegnung ersetzt reale physische Begegnungen.“

  Albrecht Schönbucher, Geschäftsführer Jugendarbeit Basel

Niederschwelliger Zugang schafft Chancengerechtigkeit

Die Schutzmaßnahmen mit beschränkten Gruppengrößen und Altersgrenzen haben die Angebote der Offenen Kinder- und Jugendarbeit stark verändert. Der offene und niederschwellige Zugang, ein Grundprinzip dieser professionellen Arbeit, kann nicht gewährleistet werden. Ausschluss von Jugendlichen, beispielsweise durch (alters-)begrenzte Gruppengrößen, und für einige unüberwindbare Hürden wie etwa die Pflicht, persönliche Angaben für die Kontaktverfolgung zu hinterlegen, sind die Folgen. Dadurch wird die Chancenungerechtigkeit während der Pandemie verstärkt, etwa wenn Jugendliche, die durch Stresssituationen zuhause oder in der Schule belastet sind, die Anmeldung und die Zugangsbeschränkungen nicht handhaben können. Für die zukünftige „Normalität“ ist es wichtig, dass wieder alle Kinder und Jugendlichen Zugang erhalten und dass Barrieren, soweit dies die Gesamtlage zulässt, abgebaut werden.

„Jugendliche sind sehr kreativ und flexibel, beispielsweise wenn es darum geht, sich zu treffen oder Räume zu finden und zu nutzen.“

 Natalie Bühler, Mitglied Geschäftsleitung Offene Jugendarbeit Zürich

Generationensolidarität und öffentlicher Raum im Fokus

Sehr eindrücklich war die große Solidarität von Kindern und Jugendlichen, welche in vielen Gemeinden und Städten Risikogruppen unterstützen, indem sie Besorgungen machten oder andere Hilfeleistungen erbrachten. Die Fachstellen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit haben hier oft eine Koordinationsfunktion übernommen. Generationenübergreifende Aktivitäten und Projekte sind wichtig für Städte, um das gesellschaftliche Leben und dessen Entwicklung zu fördern. Die Fachpersonen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sind wertvolle und erfahrene Akteure in diesen Prozessen.

„Gerade im öffentlichen Raum war viel Sensibilisierungsarbeit nötig, einerseits mit den Jugendlichen zur Einhaltung der Massnahmen, andererseits um Verständnis für ihre Bedürfnisse zu schaffen. Es gelang die Bedeutung und Wichtigkeit des öffentlichen Raums für die Jugendlichen der Bevölkerung, sowie der Politik in Bern aufzuzeigen.“

 Nicole Jörg Ratter, Geschäftsleiterin Trägerverein offene Jugendarbeit Stadt Bern

Weiter ist es gerade in Städten und Agglomerationen bedeutend, dass junge Menschen einen für sie passenden Platz im öffentlichen Raum einnehmen und an dessen Gestaltung mitwirken können – dies hat die Coronasituation deutlich gezeigt. Für zahlreiche junge Menschen waren und sind Parks und Plätze oft die einzigen Orte, an denen sie ungestört, wie für sie gewohnt und nötig, Gleichaltrige treffen können. Bei der Gestaltung des öffentlichen Raums einer Stadt ist die Offene Kinder- und Jugendarbeit als kompetenter Akteur im Bereich der Partizipation und als Drehscheibe bei Kinder- und Jugendfragen daher unbedingt einzubeziehen.

Neue und verstärkte Netzwerke pflegen

Die Fachpersonen in den Gemeinden und Städten wie auch bei den kantonalen und regionalen Verbänden stellen sich in der Pandemiesituation jeweils innert kurzer Frist immer wieder auf veränderte Regelungen und Maßnahmen ein. Hier hat sich auf nationaler, kantonaler und kommunaler Ebene gezeigt, wie wichtig eine gute Vernetzung und Zusammenarbeit zwischen den Fachpersonen und den Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern in Politik und Verwaltung ist. Bestehende Netzwerke haben maßgeblich dazu beigetragen, dass alle Akteure rasch und sinnvoll auf die dramatische Situation gerade im Frühjahr 2020 reagieren konnten. Die Krise hat aber auch neue und intensivere Kontakte geschaffen, die es in der Zukunft zu pflegen gilt und die zu neuen, auch ganz konkreten Kooperationen führen können.

„Für uns als Verein war die Zusammenarbeit mit der städtischen Verwaltung zu Beginn eine grosse Herausforderung, danach hat sich dies gelegt und die konstruktive Zusammenarbeit gefestigt.“

Nicole Jörg Ratter, Geschäftsleiterin Trägerverein offene Jugendarbeit Stadt Bern

Mehr Bewusstsein für Systemrelevanz

Zu Beginn der Coronakrise lag der Fokus von Politik, Öffentlichkeit, Medien und Behörden fast ausschließlich auf der Gefährdung der physischen Gesundheit und auf dem Schutz der Risikogruppen. Dies war völlig verständlich und berechtigt. Es zeigte sich aber rasch und deutlich, dass besonders für Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahren, die wie Erwachsene behandelt wurden, die Situation noch wesentlich belastender war, indem ihnen der fehlende soziale Kontakt mit Gleichaltrigen mehr zusetzte als anderen Altersgruppen und sich bald negativ auf ihre psychische Gesundheit auswirkte. Nun aber steigt das Bewusstsein dafür und es entsteht eine Debatte darüber, welche Konsequenzen diese Pandemie für die psychische Gesundheit der Bevölkerung und speziell junger Menschen und für die Aufwachsbedingungen von Kindern und Jugendlichen mit Spätfolgen hat.

„Einerseits werden Jugendliche und junge Erwachsene von Spätfolgen direkt betroffen sein und sie brauchen Unterstützung (Ausbildung, Berufsintegration, psychosoziale Auswirkungen). Andererseits wird sich gesamtgesellschaftlich die Frage nach Chancengleichheit und Solidarität neu stellen. Es ist zu hoffen, dass diese Chance ernsthaft genutzt und diskutiert wird und zu Veränderungen führt.“

Giacomo Dallo, Geschäftsführer Offene Jugendarbeit Zürich

Politik, Öffentlichkeit, Medien und Behörden ist nun stärker bewusst geworden, wie existentiell die Arbeit der Fachstellen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit für das Wohlergehen junger Menschen ist und wie grundlegend diese Tätigkeiten für den sozialen Frieden und Zusammenhalt sind.

„Seit Anfang Jahr erleben wir ein Medieninteresse, wie das bei uns nur selten vorkommt. Die ‚Randdisziplin‘ Offene Jugendarbeit, als was sie im politischen Diskurs im Vergleich zur Schule leider oft gesehen wird, ist plötzlich in aller Munde. So sehr Jugendliche als Hauptbetroffene anfangs vergessen wurden, so sehr werden derzeit die absehbaren dramatischen Folgen für eine ganze Generation diskutiert. Auch ihre grosse Solidarität mit den anderen Generationen wird nun endlich anerkannt. Quasi im Windschatten dessen wird sichtbar, wie wichtig für unsere Gesellschaft Angebote der OKJA sind, mehr denn je. Wir erhoffen uns diesbezüglich neue Chancen, wenn es um die Weiterentwicklung und Finanzierung unserer Arbeit geht!“

Albrecht Schönbucher, Geschäftsführer Jugendarbeit Basel

Die verstärkte Wahrnehmung verschafft dieser Arbeit nun die Aufmerksamkeit, die sie verdient. Sie kann dazu beitragen, dass die außerschulischen Aktivitäten für Kinder und Jugendliche mehr Beachtung und Förderung durch Städte und Gemeinden erhalten. Wenn das gelingt, profitieren jene davon, um deren Wohl es letztlich geht: die Kinder und Jugendlichen.

von Marcus Casutt


Marcus Casutt ist Geschäftsleiter des Dachverbandes Offene Kinder- und Jugendarbeit Schweiz (DOJ/AFAJ). Der DOJ  setzt sich seit 2002 in Zusammenarbeit mit seinen Mitgliedern und Partnerorganisationen für die Weiterentwicklung, Professionalisierung und Etablierung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in der Schweiz und im Fürstentum Lichtenstein ein. Er vereint 19 kantonale oder regionale Verbände, die wiederum ca. 1200 Fachstellen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit vertreten.

Quelle: Schweizerischer Städteverband vom 31.03.2021

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