Kinder- und Jugendarbeit

Durch den Dschungel bei 37° Hitze - Eindrücke von einem Workcamp in der Ukraine

Internationale Workcamps bewegen etwas, nicht nur in Bezug auf die gesetzten Arbeitsziele. Ein Workcamp auf dem jüdischen Friedhof von Czernowitz war ein beeindruckendes Erlebnis für Freiwillige aus 9 Ländern.

04.09.2008

Chernivtsi liegt im Westen der Ukraine unweit der rumänischen Grenze. Die Stadt hat etwa 220.000 Einwohner und ist das Zentrum der Region Bukowina. Bis zum Ende des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs hieß die Stadt Czernowitz – unter diesem Namen ist sie immer noch international bekannt. Czernowitz war eine multiethnische Gesellschaft, mit etwa 40% bildete die jüdische Bevölkerung die größte Gruppe.

Das jüdische Nationalhaus in Czernowitz
Das ehemalige jüdische Nationalhaus in Czernowitz

Vom 07. bis 21. August 2008 fand in Czernowitz ein internationals Workcamp statt. Ziel war es, den völlig verwahrlosten jüdischen Friedhof der Stadt von wucherndem Gestrüpp zu befreien und für Besucher wieder zugänglich zu machen.
Der jüdische Friedhof von Czernowitz ist eines der wenigen Bau- und Kulturdenkmäler, die in unversehrter Form noch heute an die Bedeutung der großen jüdischen Gemeinschaft der Stadt erinnern. Er ist von hoher emotionaler Bedeutung für die über alle Welt verstreuten Überlebenden dieser Gemeinschaft und ihre Nachkommen und zugleich einer der größten noch existierenden jüdischen Friedhöfe in Ost- und Mitteleuropa und damit von großem Kultur- und Kunstgeschichtlichem Wert
Im Verlauf des Workcamps 2008 konnten etwa 5% der Gesamtfläche des Friedhofs von Gestrüpp und Unkraut gereinigt werden. Das hört sich wenig an, ist aber angesichts der Größe des Friedhofs und seiner langen Verwahrlosung ein ermutigender Anfang.

Auch für 2009 ist wieder ein Workcamp geplant.
Infos gibt es bei:
SCI - Deutscher Zweig e.V.
Blücherstraße 14
D-53115 Bonn
John Myers: john.myers@sci-d.de

Links:

Übersicht über Träger von Workcamps in Deutschland: www.workcamps.de
>> Allgemeine Infos zu Workcamps: rausvonzuhaus.de
>> Dokumentationen von Workcamps in der Datenbank für Internationale Jugendarbeit: www.dija.de
>> SVIT Ukraine: http://www.svit-ukraine.org
>> SCI Deutschland: www.sci-d.de
>> Bilder vom Workcamp in Czernowitz: www.cyberorange.net
>> Informationen über Czernowitz bei Wikipedia: de.wikipedia.org/wiki/Czernowitz
>> Blog von Joanna Liss über das Workcamp in Czernowitz: http://gojo08.blogspot.com
>> Czernowitz-Website von ehemaligen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern der Stadt: http://czernowitz.ehpes.com

Pedro bei der Arbeit auf dem Friedhof
Die Arbeit auf dem Friedhof ist körperliche Schwerstarbei: Pedro bahnt sich mit der Axt einen Weg durchs Gebüsch.

Barbara bei der Arbeit auf dem Friedhof
Barbara - Workcampleiterin aus Polen - legt traditionelle Grabsteine frei.

Traditionelle Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof
Traditionelle Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof von Czernowitz - von den Freiwilligen von Gestrüpp und Schlingpflanzen befreit

Mit Rabbi Kofmanski in Sadagora
Die Freiwilligen auf Exkursion: Mit Rabbi Kofmanski am Grab der chassidischen "Wunderrabis" in Sadagora

Miriam Taylor erzählt den Freiwilligen von ihrer Jugend in Czernowitz
Miriam Taylor erzählt den Freiwilligen vom Czernowitz ihrer Kindheit.
Bilder: Christian Herrmann

Die Sonne steht senkrecht über dem jüdischen Friedhof von Czernowitz und am Himmel ist kein Wölkchen zu sehen. Das Thermometer erreicht 37° C bei gefühlten 200% Luftfeuchtigkeit. Am liebsten möchte man sich im Schatten des Gebüschs verkriechen, aber gerade das soll gerodet werden. Ein Dschungel von Sträuchern, schnell wachsendem Ahorn, Brennnesseln, Schlingpflanzen und Holunder überzieht den größten Teil des über 6 Hektar großen Geländes.
Die Friedhofsverwaltung hält den Hauptweg des Friedhofs frei und ein paar Prominentengräber am Eingangsbereich – Bürgermeister, Zeitungsverleger, Bierbrauer und der jiddische Dichter Eliezer Steinbarg liegen hier begraben.
Die großen Berühmtheiten von Czernowitz liegen woanders: Der Dichter Paul Celan in Paris, Rose Ausländer in Düsseldorf und Joseph Schmidt – der „deutsche Caruso“ – in Zürich. Andere, wie die junge Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger, liegen in anonymen Massengräbern.

Pedro arbeitet sich mit der Machete durch das Grün des Friedhofsdschungels. Pedro kommt aus Schweden – auch wenn sein Name das nicht unbedingt vermuten lässt. Er ist ein eher stiller Typ. Wenn die Freiwilligen abends erschöpft zusammensitzen, macht er schon mal einen Spaziergang durch den Park. Pedro studiert Hebräisch und ist der Einzige in der Gruppe, der die hebräischen Zeichen auf den Grabsteinen lesen kann.
Pedro hat gerade einen alten, traditionellen Grabstein freigelegt. Zwei segnende Hände sind auf ihm zu sehen, zwischen Ring- und Mittelfinger sind die Finger gespreizt. „Hier liegt ein Kohen“, sagt Pedro. „Probier mal aus, ob du die Finger so spreizen kannst. Ob du es kannst oder nicht, ist erblich bedingt. Die Kohanim – die Gruppe der jüdischen Priester – können es.“ Auf dem jüdischen Friedhof von Czernowitz gibt es unbekannte Welten zu entdecken.

Der Lärm der Kettensäge bricht abrupt ab, es ist Zeit für eine Mittagspause. Der Mann mit der Kettensäge und seine Frau sind Friedhofsarbeiter, die von der Verwaltung den Freiwilligen zugeteilt worden sind. Sie verrichten ihre Arbeit effizient und schweigsam. Viele Fragen haben sie nicht an die Freiwilligen – anders als der immer um gute Tipps bemühte, plauderige Busfahrer, der die Gruppe morgens zum Friedhof fährt und abends wieder abholt. Viel neugieriger ist ein hagerer alter Mann mit einem zerfurchten Gesicht und einem imposanten grauen Bart. Er gehört zur jüdischen Beerdigungsgesellschaft von Czernowitz und fragt sich, wo all diese jungen Menschen herkommen. Sie kommen aus Polen, Frankreich, Deutschland, Italien, der Schweiz, Schweden, den USA und Australien. Heute hat der alte Mann endlich eine Gesprächspartnerin getroffen, die seine Mameloschen – seine Muttersprache – spricht.
Miriam Taylor wurde als Miriam Reifer in Czernowitz geboren. Freunde nennen sie Mimi. Auch für die Freiwilligen ist sie schnell Mimi. Sie hat während der rumänischen und deutschen Besatzung Glück gehabt und ist nicht in die tödlichen Arbeitslager in Transnistrien deportiert worden. Eine Kindheit in Angst war es trotzdem. Kurz nach dem Krieg hat Mimi mit ihren Eltern Czernowitz verlassen, sie war damals 8 Jahre alt. Heute lebt sie in den USA. Die Sprachen ihrer alten Heimat spricht sie trotzdem noch. Jiddisch mit dem alten Mann oder mit Rabbi Kofmanski, einem der beiden Rabbiner in Czernowitz, Deutsch mit den deutschsprachigen Freiwilligen. „Wir Czernowitzer Juden haben zuhause fast alle Deutsch gesprochen, obwohl die offizielle Amtsprache Rumänisch war“, erklärt sie. Nur Ukrainisch spricht sie nicht. „Als Kind habe ich ein paar Brocken Ukrainisch gesprochen“, erinnert sie sich, „aber heute verstehe ich gar nichts mehr. Früher haben die ukrainischen Bauern ‚djen dobre’ gesagt, heute sagen die Ukrainer ‚dobre den’, wenn sie einen grüßen. Heute weiß ich, ‚djen dobre’ ist nicht Ukrainisch sondern Polnisch. Vielleicht waren die Ukrainer es so gewohnt, weil die Landbesitzer Polen waren.“ Czernowitz und die Bukowina waren eine multiethnische und vielsprachige Welt.

Mimi hat viel Zeit und Geduld aufgewendet, zahllose Briefe und E-Mails geschrieben, um die Czernowitzer Stadtverwaltung von einem Workcamp und von der Instandsetzung des jüdischen Friedhofs zu überzeugen. „Ich glaube, es gibt Beamte, die halten mich für das Schlimmste, was ihnen jemals passiert ist“, sagt sie und lacht. Aber sie hat Erfolg gehabt: Nicht nur, dass der Bürgermeister seine Zustimmung gegeben hat, sie hat auch mit Service Civil International Deutschland einen Unterstützer gefunden, der SVIT Ukraine – eine ukrainische Freiwilligenorganisation – mit ins Boot geholt hat. „Die haben Unglaubliches geleistet“, sagt Mimi. Besonders wichtig waren die Absprachen mit den Behörden vor Ort. Von außerhalb kann man das nicht machen und SVIT hat sich als beharrlicher und zuverlässiger Partner erwiesen.

SVIT hat auch noch ein anderes kleines Wunder bewirkt: Die Öffentlichkeitsarbeit war so gut, dass sich mehrere junge Leute aus Czernowitz den Freiwilligen angeschlossen haben. Einer von ihnen ist Maxim, er ist einer der wenigen jungen Leute in der kleinen, völlig überalterten jüdischen Gemeinde. Als das Lokalfernsehen über das Workcamp berichtet hat, ist er am nächsten Tag zum Friedhof gegangen. Seither kommt er fast jeden Tag, am zweiten Tag hat er seinen nicht-jüdischen Freund mitgebracht. Auch der ist geblieben. „Das macht mich glücklich“, sagt Mimi.

Mimi mag die Freiwilligen, hat sie schnell in ihr Herz geschlossen. „Ich bekomme ganz großmütterliche Gefühle. Manchmal bin ich enttäuscht von jungen Leuten“, sagt sie, „aber wenn die hier alle meine Enkel wären, wäre ich sehr froh.“ Die Sympathie beruht auf Gegenseitigkeit. „Es ist total interessant, ihr zuzuhören“, findet Katharina aus Deutschland.

Zu den jungen Czernowitzern, die beim Workcamp mitarbeiten, gehört auch Marina. Sie ist jung, geht noch zur Schule und hat immer gute Laune. Auch Marina hat aus dem Fernsehen vom Workcamp erfahren. „Das sind interessante Leute“, hat sie sich gedacht und wollte sie kennen lernen. Sie ist auch abends dabei, wenn die Gruppe gemeinsam isst. Sie genießt die Zeit mit ihren neuen Freundinnen und Freunden. Besonders gern arbeitet sie mit Sophie aus Frankreich zusammen. Als Duo wühlen sie sich, mit Schere und Machete bewaffnet, durch das Dickicht des jüdischen Friedhofs. Beide sprechen kein Englisch, haben aber Deutsch auf der Schule gelernt. Das vielsprachige Czernowitz ist scheinbar noch nicht am Ende.
„Hier ist es nicht üblich, dass man sich für etwas engagiert“, meint Marina, „schon gar nicht, wenn es kein Geld dafür gibt. Ich wollte aber etwas tun, es ist doch meine Stadt“. Auch das gefällt Mimi gut.

Joanna ist die Älteste in der Gruppe, sie ist über 50 und kommt aus der Bronx in New York. Zu alt für ein Workcamp fühlt sie sich nicht und auch die anderen finden das nicht. Für Joanna ist die Reise nach Czernowitz ein Trip in die eigene Familiengeschichte. Ihre Familie stammt aus Sadagora, einem Vorort von Czernowitz, wo eine Dynastie von chassidischen Rabbinern lange eine fromme Gemeinde um sich scharte. Joannas Urgroßeltern Mortche und Sure sind auf dem Czernowitzer Friedhof beerdigt. In den ersten Tagen des Workcamps hat sie vergeblich versucht, die Gräber zu finden. Sie weiß, dass sie in Gräberfeld 43 suchen muss, aber es ist schwer zu erkennen, ob ein Pfad tatsächlich ein alter Weg ist, der ein Gräberfeld vom nächsten trennt. Mehrmals hat sie sich im Gestrüpp verirrt und ist enttäuscht und von Brennneseln verbrannt wieder zurückgekommen.
Am letzten Tag hilft ihr die gesamte Gruppe. Gemeinsam wird das Dickicht durchkämmt. Nach ein paar Minuten ist es Marina, die Mortches Grab findet und auch Sures Grab ist nicht weit. Pedro bestätigt, dass auch der hebräische Text auf den Grabsteinen mit dem deutschen übereinstimmt. Joanna ist glücklich und enttäuscht zugleich, denn ihre Kamera ist ganz zu Anfang des Workcamps kaputt gegangen.

Am nächsten Tag schreibt Joanna in ihr Online-Tagebuch:
„Ich muss über ein berührendes Angebot berichten, das mir Marina, eine junge Schülerin, die mit uns arbeitet, gemacht hat. Sie möchte, wenn ich damit einverstanden bin, die Gräber meiner Urgroßeltern für mich reinigen und mir Fotos schicken.”
Joanna hat dieses Angebot gerne angenommen.

Jasmin aus Deutschland und Barbara aus Polen – die beiden Leiterinnen des Workcamps – sind mit „ihrer“ Gruppe zufrieden. „Sie haben nicht nur hart gearbeitet“, sagt Jasmin, „sondern waren auch trotz der schweren Arbeitsbedingungen geduldig und guter Laune, witzig und nachdenklich zugleich bei unseren gemeinsamen Abenden.“


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