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Digitale Mobilität – Interkulturelles Lernen im Online-Modus

Digitale Mobilität – ein Widerspruch in sich selbst, wenn man Mobilität als „Bewegung des Körpers im Raum“ definiert. Wenn wir aber darunter die Digitalisierung der Lernmobilität verstehen, dann bietet sie einige Chancen für die Internationale Jugendarbeit. Besonders in der heutigen Situation. Evaldas Rupkus ist Ideen, Fragen und Angeboten für die digitale Umstellung der Internationalen Jugendarbeit nachgegangen.

22.04.2020

Internationale Jugendarbeit ist besonders betroffen durch die Schließung der Grenzen und Kontaktverbote. Workcamps werden abgesagt, Freiwillige oder Austauschschüler/-innen kommen vorzeitig zurück, Jugendbegegnungen sind verschoben. Viele von uns haben Existenzängste, jahrzehntelang funktionierende Geschäftsmodelle stehen vor dem Aus. Man fragt sich gar, ob eine Rückkehr zur „Normalität“ noch möglich ist. Der Zukunftsforscher Matthias Horx beantwortet diese Frage mit einem klaren Nein. Der Gründer des Zukunftsinstituts meint, dass nach einer solchen „Tiefenkrise“ die Zukunft ihre Richtung ändere. Diesen Punkt sollten wir auch für die Internationale Jugendarbeit aufgreifen. Auch wir müssen uns anpassen, Existierendes überdenken, gegebenenfalls Nichtfunktionierendes aufgeben und neu anfangen. Was können wir jetzt machen? Welche Aspekte der mittel- und langfristigen Zukunft sollten wir berücksichtigen? Und wie gehen wir vor?

Zurück zum Kernziel

Bevor wir anfangen, an die digitalen Alternativen zu denken, sollten wir uns auf den Kern der Sache besinnen. Warum wollen junge Leute z.B. ein Austauschjahr machen? Welche Werte vermittelt Internationale Jugendarbeit? Was macht uns aus?

Wir werden merken, dass die heute vorhandene Technologie uns nur bedingt unterstützen kann. Interkulturelles Lernen, eine Fremdsprache beherrschen, die eigene Persönlichkeit durch Erfahrung und Kontakt zu anderen Kulturen weiterentwickeln, eine zweite Familie finden und ein Stück des Gastlandes für den Rest des Lebens mitnehmen – das war mein Austauschjahr als Schüler. Wir bemerken jedoch, nur weniges davon ist im virtuellen Raum möglich. Und das ist gut so. Die Internationale Jugendarbeit bietet viel mehr als eine App zum Sprachenlernen oder ein interkultureller Chat. Die momentane Situation überzeugt auch manchen radikalen politischen Optimierer, dass ein Jugendaustausch nicht zu 100% digital durchführbar ist und sie macht auch klar, dass künstliche Intelligenz nicht alles ersetzen kann.

Bitte auch digital, aber nicht 1:1

Diese Zeit fordert uns auf und zeigt, dass digitales Arbeiten kein „Nice to have“, sondern ein Muss ist. Sie führt zum Ende der Ausreden, warum man keine digitalen Werkzeuge verwenden sollte. Jetzt fragt man eher: Digitalisierung ja, aber wie? Um diese Frage zu beantworten ist es hilfreich, immer zuerst unser Ziel und unsere Motivation in den Blick zu nehmen. Denn es stehen viele digitale Werkzeuge zur Auswahl, daher sollten wir immer vom Ziel und nicht vom Tool denken. Wenn wir uns im Klaren sind, was wir brauchen, werden wir fündig. Eine hilfreiche Übersicht hat das Rote Kreuz zusammengestellt.

Vielen ist klar geworden, dass nicht alles in die Online-Umgebung übertragbar ist. Wir können aber bestimmt mehr, als wir denken. Es gibt jede Menge Tools, die zum kollaborativen Arbeiten genutzt werden können. Besonders in der Planung, Koordinierung und dem Austausch mit internationalen Partnern kann man neben Mails, Telefon- und Videokonferenzen auch anders auf kürzeren Wegen kommunizieren und gemeinsam online arbeiten. Ein Vorbereitungstreffen für einen Fachkräfteaustausch zum Beispiel könnte auch ganz virtuell ablaufen. Warum also nicht darauf umstellen?

Digitale Begegnung ist mehr als eine Videoschalte

E-Learning ist jetzt in aller Munde, man kann sich kaum noch gegen die Fülle von Web-Seminaren, MOOCs und dergleichen wehren. Man sieht das Fernlernen plötzlich als das Allheilmittel und das Symbol der Digitalisierung schlechthin. Lernen allein am Rechner ist aber anders als inmitten einer physisch anwesenden Seminargruppe. Hier ist Kreativität gefragt. Eine Online-Session muss nicht mit einer PowerPoint-Präsentation (bitte dann zumindest Prezi) beginnen und einer nicht enden wollenden Frage-Antwort-Runde abschließen. Wie wäre es denn mit einem Check-in (z.B. Was war dein erstes Geräusch des Tages?) zum Start, Energizer (endlich mal aufstehen!) und visuellem Feedback (die berühmten Fünf-Finger- oder Daumen-hoch/runter-Evaluationsmethoden)?

Doch Digitalisierung macht nicht beim interaktiven E-Learning Halt. Kolleg(inn)en vom Erasmus+ Virtual Exchange haben etliche Moderator(inn)en ausgebildet und virtuellen Austausch mit schon über 20.000 jungen Leuten aus Europa, Nordafrika und Nahost durchgeführt. Man trifft sich online in einer überschaubaren internationalen Gruppe, wo zu einem Thema, wie Bekämpfung der Hassrede, Diskriminierung, Frieden oder Sicherheit diskutiert wird. Die Moderation kümmert sich darum, dass der Termin strukturiert verläuft, eine respektfördernde Atmosphäre gegeben ist und auftretende Konflikte angesprochen werden. Dadurch kommen junge Leute, die selbst ohne Ausgangsbeschränkungen nicht an einem physischen Austausch teilnehmen würden, in Kontakt mit Gleichaltrigen aus den Ländern, von denen sie bis dahin nicht unbedingt viel Gutes gehört haben.

Darüber hinaus findet Gruppenarbeit statt: Alle haben Zugang zu einem geschlossenen sozialen Netz, wo man sich zwischen den Terminen auch allgemein austauschen kann. Noch mehr Struktur und Lerneffekt verspricht das IOOC – Interactive Open Online Course, wo zu den virtuellen Gruppentreffen auch ein Expert(inn)en-Input zu einem bestimmten Thema gegeben wird. Man kann diese Formate einfach in das eigene Angebot übernehmen oder auch ein für die Organisation zugeschnittenes TEP (Transnational Virtual Exchange Project) erstellen. Das Projektkonsortium Erasmus+ Virtual Exchange bietet Fortbildungen und Tools, viele auch in nächster Zeit und kostenfrei.

Die Situation der Zielgruppe im Fokus

Bei der Umstellung auf digitale Ansätze sollten wir als Erstes an die Teilnehmenden denken. Es geht nicht nur darum, wie inklusiv oder sicher die Tools sind, sondern auch darum, ob die potenziellen Teilnehmenden hinsichtlich der vielen Angebote an Videoschaltungen im Homeoffice überhaupt noch Zeit und Lust auf unser Angebot haben? Besonders Familien mit Kindern, die nicht zur Schule gehen können, sind schnell überfordert. Aber auch ein Jugendlicher aus einer großen Familie mit wenig privatem Raum wird Schwierigkeiten haben, in Ruhe einem Online-Angebot zu folgen. Nicht selten kommt es vor, dass es an digitalen Geräten mangelt, wenn gleichzeitig auch Kinder einen Rechner für den Fernunterricht brauchen. Da lohnt es sich zu überprüfen, ob das geplante Tool auch leicht von einem Smartphone zu bedienen ist. Bei der inhaltlichen Gestaltung sollte man sehr genau auf die Zeit achten und sich fragen, welche Angebote auch ohne gleichzeitige Online-Anwesenheit funktionieren.

Wenn wir mit Teilnehmenden aus anderen Ländern arbeiten, sollten wir uns auf noch verschärftere Situationen einstellen. Haben die Teilnehmenden überhaupt genug Strom für die Geräte und eine stabile Internetverbindung? Was geht ohne Video, um Daten zu sparen und Netze nicht zu überlasten?

Häufig unterschätzt man auch die Unterschiede in digitaler Kompetenz. Kolleg(inn)en sollten hier von uns unterstützt werden oder sich gar fortbilden lassen. Dabei hilft es, wenn man bei der Suche nach Tools mehr auf Gestaltung, intuitives Design und Mehrsprachigkeit setzt und weniger auf coole Funktionalitäten, die man sowieso nicht vorhat, zu nutzen. Fazit: Ziele fixieren – Teilnehmende verstehen – Kreatives wagen.

Wirtschaftliche Krisen hatten immer Folgen für Jugendarbeit und junge Menschen

Mittelfristig haben wir zwei größere Herausforderungen vor uns. Zum einen können wir davon ausgehen, dass eine wirtschaftliche Krise bevorsteht. Reichere Länder können sich erlauben, viele Mittel zur Unterstützung ihrer Wirtschaft auszugeben. Das Geld wird aber erfahrungsgemäß irgendwann zurückgefordert, um die leere Staatskasse wieder zu füllen – sprich Sparmaßnahmen. Diese haben nach der letzten Krise auch direkt die Jugendarbeit betroffen, besonders im Osten und Süden Europas. In manchen EU-Ländern war Erasmus+ die einzige Finanzierungsmöglichkeit, weil alle nationalen und lokalen Programme gestrichen wurden.

Das bedeutet, vielen unseren Partnern wird noch längere Zeit wenig öffentliche Finanzierung zur Verfügung stehen. Internationaler Austausch braucht mindestens zwei Akteure, heißt: Ohne unsere Partner kein Austausch. Daher sollten wir den Kontakt zu ihnen halten und herausfinden, wie wir sie unterstützen können. Wenn wir mehr wagen wollen, sollten wir unsere Interessen gemeinsam vertreten und Entscheidungsträger an die Wirkung und Notwendigkeit der (Internationalen) Jugendarbeit erinnern, ihnen Beweise liefern und vielleicht für EU-weite Finanzierungsmaßnahmen werben.

Zum anderen haben die natürlichen Zyklen der Wirtschaft bei einer Rezession in der Vergangenheit die vulnerablen Gruppen besonders hart getroffen. Dazu zählte eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Diese Auswirkungen sollten wir nicht mehr als Überraschung hinnehmen, sondern uns und unsere Angebote entsprechend darauf vorbereiten. Internationale Jugendarbeit kann vielen betroffenen jungen Menschen eine sinnvolle Beschäftigung oder Weiterbildung bieten und jenen, die in Gefahr laufen abzudriften, unter die Arme greifen. Hier gilt es, proaktiv und weniger reaktiv zu arbeiten.

Digitale Mobilität entdecken

Der Mobilitätsexperte Stefan Carsten geht davon aus, dass viele erst recht mobil sein werden und Reisen noch zunehmen, wenn die Grenzen wieder geöffnet sind. Das bedeutet für die Internationale Jugendarbeit, dass auch wir mittelfristig mit einer Zunahme des Interesses an unseren Angeboten rechnen können.

Viele glauben zudem, dass die aus der Situation gezwungene Digitalisierung uns langfristig noch weitere Richtungen aufzeigen wird. Dazu gehören Themen wie: Virtuelle Realität, die vermehrt sowohl zum Lernen als auch zum Reisen (manchmal in die Vergangenheit) genutzt wird; Online-Volunteering, ein virtueller Freiwilligendienst, den aus der aktuellen Not heraus auch jetzt schon Freiwillige aus ihren Homeoffices in verschiedenen Einsatzländern leisten; Blended Mobilities, die virtuellen mit physischem Austausch ausgewogen und sinnvoll verbinden.

Was nun? MOVE IT!

Auch dieser Artikel macht deutlich, dass es weder ein allgemeingültiges Rezept noch eine genau vorhersagbare Richtung der Entwicklung gibt. Wann aber war das mal anders, wenn es um die Zukunft geht? Denn diese ist ja noch nicht geschrieben. Es gibt viele Rezepte und wir dürfen sie auch gestalten.

Im Mai startet IJAB zusammen mit der Nationalagentur Jugend für Europa in Zusammenarbeit mit Partnern aus Estland und Finnland die Online-Veranstaltungsreihe „MOVE IT – Youth Mobility in a digital era“. Das letztes Jahr noch als europäische Konferenz geplante Format musste zügig umgedacht und digitalisiert werden. Bei welchem Thema sollte das aber besser passen als bei digitaler Mobilität? Dabei handelt es sich um ein im Entstehen befindliches Themenfeld, so dass als Start der Reihe zuerst ein Online-Barcamp zum Austausch guter Praxis und aktueller Erfahrungen einlädt. Es folgen Web-Seminare zu den Themen „Virtueller Austausch“, „Blended Mobilities“ und „Virtual Reality“. Gemeinsam mit Praxis, Management und Politik der Internationalen Jugendarbeit sollen digitale Potenziale der Programme Erasmus+ und Europäisches Solidaritätskorps entdeckt und aufgedeckt werden. Online-Workshops zur Zukunft der Lernmobilität runden das Programm ab. Sobald die genauen Termine stehen, werden wir auf der IJAB-Webseite darüber informieren. Bringen Sie sich ein, entdecken Sie Neues und beteiligen Sie sich an MOVE IT!

P.S.: Zur Abwechslung hat sich der Autor dieses Textes das Ziel gesetzt, nie das C-Wort in die Tasten zu hauen. Geht doch!

Autor: Evaldas Rupkus, Mitarbeit: Sabrina Apitz

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