Kinder- und Jugendarbeit

Deutsch-Türkischer Austausch in vielfältigen und polarisierten Gesellschaften

Hat der Jugendaustausch zwischen Deutschland und der Türkei angesichts der politischen Turbulenzen der letzten Monate eine Zukunft? In Berlin fand vom 25. bis 28. Juni die Konferenz "Different Views - New Narratives" statt und beantwortete die Frage mit einem Ja. Die Veranstaltung bot ein offenes Forum der Begegnung und Partnerschaft für die Zivilgesellschaften beider Länder.

16.07.2018

Montagnachmittag in der Jugendherberge am Ostkreuz in Berlin. 120 Menschen drängen sich im Konferenzraum. Es ist der Tag nach den Präsidentschaftswahlen in der Türkei. Viele der nach Berlin angereisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer von „New Narratives“ wirken übernächtigt. Bis lange nach Mitternacht haben sie die Wahlergebnisse am Fernseher verfolgt. Jochen Butt-Posnik und Gülesin Nemutlu, die die viertägige Veranstaltung moderieren, sprechen den „elephant in the room“ an. Gemeint sind der schwindende Spielraum türkischer NGOs und die Belastung der deutsch-türkischen Beziehungen. Wie soll man mit solchen Rahmenbedingungen im Rahmen einer Konferenz zum deutsch-türkischen Jugendaustausch umgehen? Kann man über alles offen sprechen? Die kommenden Tage werden zeigen: Man kann. Dass „New Narratives“ in so offener Atmosphäre stattfand, kann man nicht hoch genug schätzen. Dass die Konferenz unter den genannten Rahmenbedingungen überhaupt stattfand, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Willen formulierten, Projekte fortzuführen und neue Kooperationen auf den Weg zu bringen, ist ein großer Erfolg.

Austausch in einer globalisierten Welt

Der erste Abend der Konferenz gibt Gelegenheit zum Kennenlernen und zur Selbstvergewisserung, warum man hier zusammengekommen ist. IJAB-Referentin Christiane Reinholz-Asolli erinnerte daran, dass dem 1994 geschlossenen Resortabkommen zwischen dem deutschen und türkischen Jugendministerium rassistisch motivierte Anschläge in Deutschland vorausgingen, bei denen Menschen zu Tode kamen. Das Abkommen war vom gemeinsamen Willen getragen, Vorurteile zu überwinden. An dieser Aufgabenstellung hat sich nichts geändert, aber die Welt ist heute eine andere. Sie ist kleiner geworden. „In einer globalisierten Welt teilen deutsche und türkische Jugendliche viele Probleme“, stellte Ibrahim Demirel von der türkischen Nationalagentur fest. Und sein deutscher Kollege Manfred von Hebel ergänzte: „In besorgniserregender Weise beschäftigt Europa sich damit, Grenzen aufzurichten, die längst eingerissen schienen“. Was in den vier Tagen der Konferenz besprochen wird, weist über das bilaterale deutsch-türkische Verhältnis hinaus.

Quelle: Christian Herrmann 

Was brauchen junge Menschen, um aktiv werden zu können?

Im anschließenden Projektmarkt präsentieren sich Organisationen, die bereits deutsch-türkische Austauschprojekte durchführen. Sie treffen auf neugierige Gesprächspartner – junge Leute, die als Austauschschüler/-innen oder Studierende deutsch-türkische biografische Bezüge haben und aktiv werden möchten. Manchmal haben sie sich kleinen NGOs angeschlossen, oft aber sind sie ohne organisatorischen Zusammenhang. „First step: Find yourself an NGO“, sagt ihnen Moderator Butt-Posnik. Was brauchen sie darüber hinaus? Während der Konferenztage füllen sie hauptsächlich die Workshops, die sich praktischen Dingen widmen. Dazu gehören Tanztheater, Sprachanimation, Game Design, Leitung von Jugendaustauschen und Partizipation. Die Präsenz der vielen jungen Menschen macht deutlich: Capacity building, Empowerment und das Zusammenbringen von Partnern sind wichtige Zukunftsaufgaben im deutsch-türkischen Austausch.

Vielfältige Lebenswelten, polarisierte Gesellschaft

Wie wachsen junge Menschen in Deutschland und der Türkei auf? Dieses Hintergrundwissen ist wichtig, um Angebote zielgruppengerecht anbieten zu können und um Themen aufzugreifen, die junge Menschen beschäftigen. Christine Uhlmann vom SINUS-Institut stellt die SINUS-Jugendstudie vor. Alle vier Jahre führt das Institut die Jugendstudie durch, erfasst soziokulturelle Unterschiede und bildet sie modellhaft ab. Die Studie fragt nach Werten, Lebenseinstellung, Lebensweise, Bildung und sozialer Lage. Dabei wird ein vielfältiges Spektrum von Lebensentwürfen und Lebenswelten deutlich. "Die Jugend" lässt sich nicht über einen Kamm scheren. Wer Angebote für sie entwickeln will, muss sie auf ganz unterschiedliche Bedürfnisse zuschneiden und jugendliche Lebenswelten ganzheitlich verstehen – bis hin zu den Musikvorlieben.

„Mir bluten die Ohren“, sagt Prof. Özgehan Şenyuva von der Universität Ankara, als der letzte Musikclip aus Uhlmanns Keynote verklungen ist. „Wer wissen will, wie Jugendliche in der Türkei aufwachsen, muss verstehen, wie die türkische Gesellschaft sich entwickelt hat“, fährt Şenyuva fort. Eine hoch-polarisierte Gesellschaft hat Şenyuva ausgemacht, in der es jedoch auch „Inseln der Einigkeit“ gibt. Die aber haben wenig Beruhigendes. Viele seien sich einig in der Ablehnung des Westens, Europas und von Migranten. Der unter Erdogan gewachsene Mittelstand sei im Grunde prekär, denn er lebe im Bewusstsein, den neuen, relativen Wohlstand jederzeit wieder verlieren zu können. Das „Leben auf dem dünnen Eis“ generiere nostalgische Sehnsüchte nach den vermeintlich besseren Zeiten des Osmanischen Reichs.

Als exklusives türkisches Phänomen sieht Prof. Özgehan Şenyuva seine Analyse nicht. Vergleichbares lasse sich in vielen Ländern beobachten und sei eine gemeinsame Herausforderung. Aber er hat auch eine gute Nachricht: Die Türkei ist eines der Top-Länder beim Europäischen Freiwilligendienst. Von den ehemaligen Freiwilligen sitzen einige im Raum und wollen mehr.

Von Katze Tombi lernen

Drei Millionen Menschen sind vor dem Krieg in Syrien in die Türkei geflohen und halten sich dort dauerhaft auf. Ayşe Beyazova Seçer von der Boğaziçi Universität hat mit Flüchtlingskindern gearbeitet und versucht zu verstehen, wie ein Raum geschaffen werden kann, „in dem wir alle atmen können und in dem wir uns respektiert fühlen“. Flucht, Migration und Inklusion sind in Deutschland und der Türkei gleichermaßen große Themen.

„Alle in der Türkei kennen die Geschichte von Katze Tombi“, erzählt Ayşe Beyazova Seçer. Die Katze lebte im Garten einer Schule und machte es sich zur Gewohnheit, die Kinder im Unterricht zu besuchen. Die meiste Zeit schlief sie – die Kinder waren ruhig und aufmerksam, denn niemand wollte die Katze wecken. Die Schulleitung beschloss, dass Tombi gehen muss. Eltern, Medien und schließlich das Bildungsministerium intervenierten, Tombi durfte zurück. “Von Tombi können wir viel lernen“, sagt Beyazova Seçer. „Inklusives Lernen braucht Zugänge zu Bildung, Flexibilität, Zusammenarbeit und einen Blickwechsel. Daraus entsteht eine inklusive Kultur.“
Was zu tun bleibt

Was seine Erwartungen an die Konferenz seien, war Jan Taşçı von der Deutsch-Türkischen Jugendbrücke zu Beginn der Konferenz gefragt worden. „Die Konferenz war erfolgreich, wenn wir es schaffen, ein paar Schritte Abstand von unserem Alltag zu nehmen, in den Austausch miteinander zu kommen, unsere Notizbücher voll von Ideen sind, wir eine lange Liste möglicher Partner haben und wir neue Motivation schöpfen können“, war seine Antwort. Vieles davon hat „New Narratives“ einlösen können. Zu den zukünftigen Aufgaben wird es gehören darüber nachzudenken, wie die vielen jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer unterstützt werden können, ihren eigenen Weg zu finden und wie der hohe Bedarf an Partnern im Austausch befriedigt werden kann. War noch irgendwas? Ach ja, der „elephant in the room“. Der war am Ende ein eher kleiner Elefant.

Hintergrund

„Different views and new narratives – (Re)Thinking Bridges between Young People in Germany and Turkey” wurde von der Deutsch-Türkischen Jugendbrücke, den Nationalen Agenturen Erasmus+ JUGEND für Europa Deutschlands und der Türkei und IJAB gemeinsam veranstaltet. Das deutsch-türkische Online-Magazin MAVIBLAU wird eine Dokumentation erstellen.

Weitere Informationen zur Jugendpolitischen Zusammenarbeit mit der Türkei stehen auf der Webseite von IJAB zur Verfügung.

Quelle: IJAB - Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e.V., Christian Herrmann

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