Rückblick auf Transferdialog

Rechte von Careleaver*innen verwirklichen!

Die Reform des SGB VIII bzw. das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG 2021) haben inzwischen anerkannt, dass eine bessere, verbindliche Gestaltung des Übergangs junger Menschen, die in Wohngruppen/Heimen oder Pflegefamilien aufwachsen, ins Erwachsenenleben auf kommunaler Ebene realisiert werden muss. Es gilt in der Praxis zu handeln und die Rechte von Careleaver*innen zu verwirklichen ─ jetzt!

05.01.2022

Leaving Care – der Übergang junger Menschen, die in Wohngruppen/Heimen oder Pflegefamilien aufwachsen, ins Erwachsenenleben – ist mit besonderen persönlichen und strukturellen Herausforderungen verbunden. Der Weg aus der stationären Hilfe in die Eigenständigkeit ist häufig erschwert und von Brüchen gekennzeichnet. Oft erfahren junge Menschen dabei zu wenig Unterstützung – eine verlässliche Infrastruktur vor Ort ist vielfach nicht gegeben. Das KJSG hat die rechtlichen Weichen für den Übergang ins Erwachsenenleben gestellt. Wie man den Rechtsanspruch vor Ort umsetzen kann, war Thema eines digitalen Transferdialogs, auf den dieser Artikel zurückblickt.

Digitaler Transferdialog „Rechtsanspruch Leaving Care vor Ort verwirklichen“ 

Am 26.11.2021 fand der digitale Transferdialog „Rechtsanspruch Leaving Care vor Ort verwirklichen“ statt – als Auftakt für eine zweitägige Präsenzveranstaltung, die wegen der aktuellen Pandemieentwicklung erst am 30. und 31. Mai 2022 stattfinden wird. Careleaver*innen sowie Kolleg*innen aus kommunaler Praxis und der Forschung markierten Eckpunkte, die für die Begleitung von Carereceiver*innen und Careleaver*innen von zentraler Bedeutung sind.

„Deine Rechte als Careleaver“  

In dem sehenswerten Film „Deine Rechte als Careleaver“ sprechen junge Menschen über ihre ambivalenten Erfahrungen, die sie in Wohngruppen oder Pflegefamilien gemacht haben: Viele von ihnen berichten, dass sie bei der Planung und Gestaltung ihres Übergangs in die Selbstständigkeit nicht oder zu wenig mitsprechen konnten; Entscheidungen wurden häufig über ihren Kopf hinweg getroffen. Fast alle Careleaver*innen kennen das Gefühl, mit den eigenen Bedürfnissen nicht ernst genommen worden zu sein oder zu werden. Die Erreichbarkeit des Jugendamts haben sie mehrfach als unzureichend erlebt, und die Übergangsbegleitung in ein anderes Unterstützungssystem (z.B. SGB III) funktionierte mitunter gar nicht. Die jungen Menschen beschreiben aber auch positive Erlebnisse aus der stationären Hilfe: etwa dass sich Betreuungspersonen Zeit genommen, sich für ihre Anliegen eingesetzt haben und als unterstützende Menschen an ihrer Seite spürbar waren. Für die künftige Gestaltung des Leaving-Care-Prozesses betonen die Film-Protagonist*innen, wie wichtig das Recht auf Nachbetreuung ist. Zudem sind vor allem ihre Rechte auf Bildung und auf Partizipation besser umzusetzen, damit Careleaver*innen im Vergleich zu ihren Peers nicht benachteiligt werden. Sie wünschen sich, dass junge Menschen in stationären Hilfen mehr als bisher zu Möglichkeiten der Lebensführung informiert werden und dass ihre Situation als Careleaver*in in der Gesellschaft ohne Stigmatisierung anerkannt wird.

KJSG: rechtliche Neuregelungen und Umsetzung vor Ort

Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG 2021) hat die rechtlichen Weichen für den Übergang ins Erwachsenenleben gestellt: Klar ist, dass Heranwachsende einen Rechtsanspruch auf Hilfe für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII) haben, der nach dem Bedarf der jungen Menschen zu gewähren ist – wenn nötig bis zum 27. Lebensjahr. Rechtzeitig vor dem Ende der stationären Unterbringung steht die vorausschauende Übergangsplanung an, bei der das Jugendamt mit dem jungen Menschen zusammenarbeitet. Eine ausdrückliche Nachbetreuung wurde als Unterstützung mit dem Gesetz neu eingeführt (§ 41a SGB VIII), die in angemessener Weise und im notwendigen Umfang zu erfolgen hat. Die Kostenbeteiligung wurde reduziert und auf höchstens 25% der eigenen Einkünfte festgelegt. Damit ist eine Obergrenze definiert, wobei das Jugendamt jedoch nicht zu einer Kostenheranziehung verpflichtet ist. 

Jetzt muss die Praxis handeln und die neuen rechtlichen Regelungen vor Ort umsetzen – auch und gerade in Corona-Zeiten!  Insbesondere die Hilfeplangespräche, in denen der Leaving-Care-Prozess im Einzelfall vorgedacht wird, sind so weiterzuentwickeln, dass sie der Bedarfslogik folgen: Sie müssen sich ausdrücklich um die Belange der Careleaver*innen drehen, alle Lebensbereiche einbeziehen und dafür sorgen, dass keine Finanzierungslücken auf dem Weg ins Erwachsenenleben entstehen. Doch reicht es nicht, nur den gelingenden Übergang im Einzelfall zu betrachten. Kommunen müssen verlässliche Infrastrukturen gestalten, die jedem jungen Menschen die Teilhabe an allen Gesellschaftsbereichen ermöglichen. Eine am Bedarf orientierte Qualität des Leaving Care lässt sich nur mit einer starken Stimme der jungen Menschen gewährleisten!

Gute Praxis macht es vor

Drei Modellprojekte stellten sich vor: Die Fachstelle Leaving Care des Jugendamts Stuttgart, die Jugendhilfeplanung im Landkreis Hildesheim sowie die Kooperation zwischen dem SOS-Kinderdorf und dem Jobcenter in Saarbrücken. Die Praxiseinblicke vermittelten durchaus unterschiedliche Ansätze der Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und freien Träger oder auch zwischen freiem Träger und dem Jobcenter. Die Gelingensbedingungen scheinen sich aber mehr oder minder an den drei Standorten durchzuziehen:

  • Es besteht eine enge, verlässliche Kooperation verschiedener Akteure, die auf der gemeinsamen Überzeugung basiert, dass sich eine passende Unterstützung nur aus der Perspektive der jungen Menschen denken und gestalten lässt.
  • Dafür ist auf allen Seiten die Bereitschaft erforderlich, über den Tellerrand der eigenen Aufgabe und Zuständigkeit hinauszuschauen, das bisher Erreichte immer wieder reflexiv zu betrachten sowie verschiedene Hilfestränge systematisch miteinander zu verschränken. Das gilt für eine rechtskreisübergreifende Zusammenarbeit nach dem SGB II, III und VIII sowie der Eingliederungshilfe ebenso wie für die Kooperation zwischen verschiedenen Jugendhilfeträgern.
  • So lässt sich eine vernetzte Infrastruktur aufbauen, die junge Menschen im Leaving-Care-Prozess brauchen. Ausgangspunkt beim Aufbau einer solchen Struktur ist eine Bestandaufnahme bestehender Angebote für Careleaver*innen und daran anschließend die Frage, was es zusätzlich braucht für eine gute Begleitung des Selbstständigwerdens ─ vom Übergang über die Nachbetreuung bis zu einer Coming-back-Option.

Die konkret entwickelten Maßnahmen in den drei Kommunen spiegeln eine Vielfalt und eine fachliche Ausdifferenzierung wider, die hier nur kurz genannt werden kann:

  • Fachliche Standards für eine Übergangsplanung,
  • Bausteine für flexible Übergänge,
  • Patensysteme und eigens eingesetzte Wegbegleiter*innen,
  • Qualifizierung von Fachkräften mit dem Schwerpunkt Leaving Care,
  • Betreuungsgutscheine für Careleaver*innen auf Basis von Fachleistungsstunden,
  • Nachsorgegespräche des Jugendamtes drei Monate nach dem Auszug aus der Erziehungshilfe,
  • Qualitätsdialoge auf regionaler Ebene sowie das Einrichten einer kommunalen Fachstelle Leaving Care 

Zudem lassen sich Angebote gestalten, die die Beratung (Schulden- und Drogenberatung, Therapievermittlung), die berufliche Bildung oder das Wohnen in den Mittelpunkt stellen sowie Orte für Begegnung mit Gleichgesinnten zur Verfügung stellen. Wie die kommunale Infrastruktur auch im Einzelnen aussehen mag, sie muss verschiedene Sozialleistungsbereiche und Angebote eng miteinander vernetzen, sie muss aufsuchend tätig sein und junge Menschen mit ihren Vorstellungen intensiv einbeziehen, (personell) gut ausgestattet, stabil finanziert und bekannt gemacht werden. Nur in einer Verantwortungsgemeinschaft von Jugendhilfe, Jobcenter, Eingliederungshilfe, Gesundheitsdiensten oder dem Wohnungsamt lassen sich Übergangsstrukturen schaffen, auf die sich Careleaver*innen verlassen und die sie selbstverständlich als junge Erwachsene nutzen können, ohne sich als „hilfsbedürftig“ darstellen zu müssen. Eine gemeinsam getragene Verantwortung muss zum Leitbild für die Umsetzung des Rechtsanspruchs Leaving Care vor Ort werden.

Leaving Care – eine internationale Debatte 

Die Debatte um Leaving Care wird auch international geführt und ist durch einen regen Austausch gekennzeichnet. Daran beteiligen sich auch junge Menschen, die sich in Netzwerken organisieren. Die rechtlichen Neuregelungen in Deutschland können sich durchaus sehen lassen als Ansatz, um den Übergang besser an den Bedarfen von Careleaver*innen auszurichten. Und doch wird immer wieder deutlich, wie schwer es ist, die Lebensrealität von jungen Menschen tatsächlich in die fachliche Auseinandersetzung zu bekommen. Es zeigen sich einige systematische Schwächen in der Fachdebatte zum Leaving Care:

  • Die Beteiligung von jungen Menschen am Fachdiskurs erfolgt meistens über Careleaver-Organisationen. Sie leisten eine sehr wichtige Arbeit und sind aus der Übergangsdebatte nicht mehr wegzudenken – und doch repräsentieren sie nur einen kleinen Teil der Careleaver*innen. Die Mehrheit der Careleaver*innen erreicht diese Debatte nicht.
  • Um im Sinne von Diversity die Lebenslage Leaving Care tatsächlich in der Breite wahrzunehmen, wäre es notwendig, die Realität von viel mehr Careleaver*innen einzubeziehen. Niedrigschwellige Teilhabestrukturen müssen es ihnen ermöglichen, sich in eigener Sache einzubringen. Dazu zählen Gesprächsformate, die unmittelbar, offen, verständlich geführt werden und wirklich ernst gemeint sind, damit Heranwachsende daran überhaupt teilhaben wollen. 
  • Der Diskurs um Leaving Care ist von Erwachsenen, von Fachkräften und Forscher*innen dominiert. Sie sind erfahren darin, Careleaver*innen zu begegnen und sich mit ihnen auszutauschen. Die Herausforderung besteht jedoch darin, Prozesse und Strukturen aufzubauen, die der Logik von jungen Menschen folgen und nicht der professionellen Logik von Erwachsenen. Es geht um die Bedürfnisse von Careleaver*innen und nicht darum, dass Fachkräfte das Gefühl haben, gut zu arbeiten. Careleaver*innen sollten daher mehr selbst das Wort ergreifen können, während sich Professionelle eher demütig zurückhalten ─ in dem Wissen, dass sie manche Aufgaben für Heranwachsende nicht lösen können.

Befragungen von Careleaver*innen in vielen Ländern belegen, dass der Übergang aus der stationären Erziehungshilfe in die Selbstständigkeit ein schwieriges Thema ist – in verschiedener Hinsicht herausfordernd und emotional belastend. Dennoch ist Leaving Care nicht nur eine persönliche Befindlichkeit, sondern eine Lebenslage, die spezifische Probleme mit sich bringt. Die Herausforderungen von Careleaver*innen sind daher auch struktureller Art und stellen sich für alle in ähnlicher Weise. 

Auf die Lebenslage Leaving Care, mithin die Lebenssituation von Careleaver*innen in der Gesellschaft aufmerksam zu machen, ist eine wichtige Aufgabe von Fachkräften und eine große Herausforderung zugleich. Die Gesellschaft muss um den Status Leaving Care wissen und das Lebensthema von Careleaver*innen anerkennen. Erst wenn sich dahingehend etwas ändert, wird sich die Situation der jungen Menschen verbessern. Darauf müssen Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe hinwirken, sie sollten aus ihren Institutionen heraustreten und sich für die Rechte von Careleaver*innen auf politisch Ebene stark machen. 

Nicht zuletzt ist es grundlegend problematisch, dass Jugendhilfe-Angebote für Careleaver*innen oft prekär finanziert, zu kurzfristig gedacht und damit nicht nachhaltig sind. Es ist für junge Menschen fatal, wenn in Angeboten Verlässlichkeit versprochen, aber nicht gehalten wird. Funktionierende kommunale Übergangsstrukturen müssen deshalb niedrigschwellig und gut erreichbar, sicher finanziert und dauerhaft vorhanden sein.

Wir sind nicht allein – Careleaver*innen sprechen in eigener Sache

Careleaver*innen haben im Gespräch eine Reihe von relevanten Themen auf den Punkt gebracht und aus ihrer Sicht zentrale Botschaften an die Kinder- und Jugendhilfe sowie an die Politik gerichtet:

  • Mehr Interessenvertretungen schaffen: Jugend muss sich selbst vertreten und für sich selbst sprechen. Der Nationale Plan für mehr Jugendbeteiligung, den der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung vorsieht, wird begrüßt. Um sich auch politisch einbringen zu können, brauchen Jugendliche bereits in den stationären Einrichtungen Angebote zur politischen Bildung.
  • Junge Menschen endlich ernst nehmen: Entscheidungen dürfen nicht über den Kopf von Heranwachsenden hinweg getroffen werden! Kein junger Mensch soll in dem Gefühl aufwachsen, nicht verstanden zu werden. Und niemand darf auf Defizite reduziert werden, um Unterstützung zu bekommen. Alle Jugendlichen brauchen Unterstützung auf dem Weg ins junge Erwachsenenalter – nicht nur Careleaver*innen. Hilfe für junge Volljährige muss an deren Bedarfen, Stärken und Wünschen ansetzen, muss die Rechte der jungen Menschen achten und umsetzen, statt in Schablonen zu denken oder einen Maßnahmenkatalog anzuwenden. Fachkräfte müssen sich mehr öffnen für die Einschätzungen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, ihre Anliegen ernst- und sie als vollwertige Person wahrnehmen.
  • Information ist Macht: Junge Menschen sollen über ihre Rechte informiert werden und wissen, an wen sie sich wenden können, wenn diese nicht eingehalten werden. Careleaver*innen über ihre Rechte und weitere Unterstützungsmöglichkeiten über die Jugendhilfe hinaus zu informieren, zählt zu den Aufgaben von Fachkräften – nicht auf Anfrage, sondern als Bringschuld – und sollte zum fachlichen Selbstverständnis gehören. Nur wenn Heranwachsende gut informiert sind, können sie ihr Leben in die eigenen Hände nehmen.
  • Bildung für alle: Jugendliche und junge Erwachsene müssen auf ihrem Bildungsweg gut begleitet werden. Doch allzu oft wird jungen Menschen dazu geraten, schnell eine Ausbildung abzuschließen, damit sie so früh wie möglich finanziell auf eigenen Beinen stehen. Sie haben das Recht, den Bildungsweg einzuschlagen bzw. eine Berufswahl zu treffen, die ihren Vorstellungen und ihren Möglichkeiten entspricht. Sie sollen die für sie bestmögliche Ausbildung erhalten, damit sie ihr individuelles Bildungspotenzial entfalten können. Jugendhilfe muss das Beste für junge Menschen wollen: Gute Bildungsabschlüsse sind der Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe und zur selbstständigen Existenzsicherung.
  • Junge Menschen sind kein Kostenfaktor: Die Careleaver*innen begrüßen ausdrücklich den Plan der neuen Regierung, die Kostenheranziehung nach § 94 SGB VIII auf null zu senken – eine Forderung, für die sie sich lange eingesetzt haben. Darüber hinaus muss die Jugendhilfe dafür sorgen, dass für junge Erwachsene im Übergang keine Finanzierungslücken entstehen, etwa beim Wechsel zu einem anderen Kostenträger oder in eine neue Ausbildung.
  • Jugendhilfe muss mehr Verantwortung übernehmen! Das KJSG formuliert eine Reihe guter Regelungen, die vor Ort verbindlich umgesetzt werden müssen mit dem Ziel, Careleaver*innen auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit bestmöglich zu unterstützen. Dabei gilt es, die Unterstützung an ihrem Bedarf auszurichten und ihnen ein Leben nach den eigenen Vorstellungen als junge Erwachsene zu ermöglichen. Jugendhilfe muss sich für die Belange von Careleaver*innen zuständig fühlen, ihre Lebenslage anerkennen und verbessern helfen. Und sie hat dafür sorgen, dass der Begriff Leaving Care überall im politischen Diskurs auftaucht.

Eine Zusammenfassung von Dr. Kristin Teuber, Leiterin des Sozialpädagogischen Instituts von SOS-Kinderdorf e.V.

Redaktion: Annika Klauer

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