Hilfen zur Erziehung

Ohne qualifizierte Jugendhilfeplanung keine inklusive Jugendhilfe?! AFET zur aktuellen Reformdebatte des SGB VIII

Am 17./18. September 2019 fand die vierte inhaltliche Sitzung der Bundes-AG „SGB VIII: Mitreden – Mitgestalten“: Mehr Inklusion / Wirksames Hilfesystem / Weniger Schnittstellen statt. Das BMFSFJ hatte den AG-Mitgliedern vor der Sitzung ein Arbeitspapier zum Thema zur Verfügung gestellt. Hierzu hat der AFET – Bundesverband für Erziehungshilfe e.V. einen Zwischenruf mit Forderungen an Verständnis, Arbeitsweise und Ausstattung von Jugendhilfeplanung auf dem Weg zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe veröffentlicht.

23.09.2019

Ohne qualifizierte Jugendhilfeplanung keine inklusive Jugendhilfe?!

I. Ausgangslage

Jugendhilfeplanung und Hilfeplanung – diese beiden Verfahren sind ein Kernstück des 1991 eingeführten neuen Leistungsrechts des Kinder-und Jugendhilfegesetzes. Wenn Bürgerinnen und Bürger, Mütter und Väter und teilweise und indirekt auch Kinder und Jugendliche einen einklagbaren Anspruch auf Leistungen der Bildung, Beratung und Hilfe haben, dann muss zweierlei ebenso gerichtsfest wie verbindlich geklärt werden können:

  1. Auf welche Leistung genau haben Menschen einen Anspruch in ihren Angelegenheiten? und
  2. Wie ist sichergestellt, dass alles Erforderliche, diese Ansprüche einzulösen auch ausreichend, rechtzeitig und qualifiziert zur Verfügung steht?

Die Antworten auf beide Fragen hängen eng zusammen, denn was nützt ein Anspruch auf Leistungen, wenn es diese nicht oder nur unzureichend gibt. Viele Leistungen des SGB VIII sind keine schlichten Geldleistungen (auch wenn sie viel Geld kosten), die nach allgemein vorgegebenen Normen ermittelt werden können. Sie müssen mit viel Sachverstand und Einfühlungsvermögen in jedem einzelnen Fall besonders erarbeitet und vereinbart werden. Die Vorschriften des § 36 und inzwischen auch § 36a SGB VIII schaffen den hierfür erforderlichen rechtlichen Rahmen.

Eine beteiligungsorientierte Jugendhilfeplanung ist jedoch die Voraussetzung dafür, dass eine soziale Infrastruktur überhaupt erst bedarfsgerechte Angebote ermöglicht. Jugendhilfeplanung und Hilfeplanung sind unmittelbar aufeinander verwiesen.

Damit dieses Konzept der Konkretisierung und Vereinbarung von Leistungsansprüchen mit berechtigten BürgerInnen auch funktioniert, müssen die zuständigen Gewährleister für diese Ansprüche, also die öffentlichen Träger, meist Städte und Kreise, ausreichend Vorsorge getroffen haben, um grundsätzliche alle erforderlichen und geeigneten Leistungen, wie Beratung, Unterstützung und Hilfen in ausreichender Zahl und Qualität zur Verfügung zu haben. Gleichzeitig geht es nicht nur um die quantitative Verfügbarkeit von Angeboten, sondern auch um die systematische Weiterentwicklung von Qualität. Die Vorschriften der §§ 79 und 80 SGB VIII sollen genau dies gewährleisten.

Praktisch gab es seit Einführung des SGB VIII viel Aufbruch und Entwicklung mit und durch Jugendhilfeplanung, aber auch viel Stillstand und zum Teil auch Rückschritt. An Herausforderungen, neuen Themen und Formaten hat es nicht gemangelt. Aber anderes als das Verfahren der Hilfeplanung, das trotz aller Mängel und Kritik als ein unumgänglicher Kernprozess für die Gestaltung eines wesentlichen und auch kostenintensiven Leistungsbereiches anerkannt ist, kann die Jugendhilfeplanung auf diese selbstverständliche Verankerung und die Erfüllung der hohen Anforderungen des § 80 SGB VIII in der Praxis kommunaler Kinder- und Jugendhilfe nicht verweisen.

Aktuelle Analysen benennen vor allem Probleme wie z.B.: eine Entwicklung und Etablierung der Jugendhilfeplanung ohne verbindliche Standards; eine Praxis unverknüpfter und nicht auf Beteiligung basierter Teilplanungen wie Kita oder Jugendförderpläne; abwechselnde Themenkonjunkturen (z.B.Tagesbetreuung, Kinderschutz, UMA, Inklusion...); unzureichende Datenkonzepte einerseits und ungenutzte Datenfriedhöfe andererseits sowie ein Aufgabenzuwachs z.B. mit Schulplanungen, der zu Überkomplexität und Profilerosion führt (zusammenfassend Daigler 2018, S. 5/6).

Zweifellos gibt es Jugendämter, die ihre Jugendhilfeplanung zu hervorragenden Arbeitsbereichen für die Gestaltung ihrer Arbeit entwickelt haben. In einzelnen Bundesländern bieten die Landesjugendämter viel Unterstützung für die örtlichen Planungsanstrengungen (z.B. durch Formate wie die Vergleichsringe).

Das gesetzliche Verfahren einer Jugendhilfeplanung als dieGrundlage örtliche Bedarfe und Konzepte einer für die Belange und Anliegen der Bürgerinnen und Bürger rund um die Herausforderungen, Aufwachsen gelingend zu gestalten, hat sich in vielen Kommunen und Landkreisen noch nicht etabliert.

II. Jugendhilfeplanung in der Reformdiskussion

In den aktuellen Überlegungen und Debatten um eine inklusive Reform des Jugendhilferechts wird auf die Jugendhilfeplanung an vielen Stellen Bezug genommen. In drei der vier bisher vorliegenden Arbeitspapiere im Rahmen des Dialogprozesses „Mitreden–Mitgestalten: Die Zukunft der Kinder-und Jugendhilfe “ befinden sich ausdrückliche Hinweise auf die Jugendhilfeplanung:

  • Umfangreiche Erläuterung der Pflichtaufgabe Jugendhilfeplanung als Voraussetzung für Gewährleistungspflicht...
  • auch über die Jugendhilfe hinaus: Frühe Hilfen, Schule, ...

Darüber hinaus beinhalten die Arbeitspapiere themenbezogene Hinweise bzw. Empfehlungen zur:

  • Sozialraumorientierung: Die Implementierung/Ausgestaltung niedrigschwelliger ambulanter Hilfezugänge wird explizit als wesentliche Aufgabe der Jugendhilfeplanunggeregelt.
  • Finanzierung und Trägerauswahl: Die Auswahlentscheidungen zugunsten von Kooperationspartnern aus dem Kreis der Träger der freien Jugendhilfe haben nach den jugendhilferechtlichen und allgemeinen Kriterien für eine ermessensfehlerfreie Entscheidung zu erfolgen. Das Ermessen ist an die Jugendhilfeplanung im Jugendhilfeausschuss gebunden.
  • strukturellen Weiterentwicklung der Heimerziehung: Die Jugendhilfeplanungsollte stärker dafür genutzt werden, regionale Infrastrukturen des Sozial- und Bildungswesens vor dem Hintergrund der Besonderheiten von Heimerziehung stärker aufeinander zu beziehen.
  • Inobhutnahme: Verbindlichere bzw. klarstellende Regelungen in Bezug auf die Abstimmung von Inobhutnahme-und Anschlusshilfestrukturen im Rahmen der Jugendhilfeplanung zur Sicherstellung einer besseren Kooperation und Koordination der Übergänge im Einzelfall.
  • Kooperation öffentlicher Träger und freier Träger: Die Durchführung einer bundesweit angelegten Untersuchung zur Quantität und Qualität von gemeinsamen Planungsprozessenzwischen öffentlichen und freien Trägern insbesondere im Bereich der Heimerziehung könnte eine wichtige Grundlage zur Beförderung der Kooperation schaffen.
  • Zur Qualitätssicherung: Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe wird im Rahmen seiner Planungsverantwortung (§ 80 SGB VIII) verpflichtet, Maßnahmen zur Sicherstellung der Bedarfsgerechtigkeit und Qualität von Hilfsangeboten mit niedrigschwelligen Hilfezugängen zu ergreifen.
  • inklusiven und beteiligungsorientierten Heimerziehung: Denkbar wäre beispielsweise die Aufnahme von selbstorganisierten Zusammenschlüssen von jungen Menschen und ihren Familien in die Jugendhilfeausschüsse, insbesondere zur Beteiligung an der Jugendhilfeplanung.
  • Stärkung der inklusiven Ausrichtung einzelner Aufgaben des öffentlichen Trägers der Jugendhilfe: Im Rahmen der Jugendhilfeplanung (§ 80 SGB VIII) sollen auch die Bedarfe von jungen Menschen mit Behinderungen und ihren Familien zu berücksichtigen sein.

III. Forderungen an Verständnis, Arbeitsweise und Ausstattung von Jugendhilfeplanung auf dem Weg zu einer inklusiven Kinder-und Jugendhilfe

Vor dem oben skizzierten Hintergrund sind sieben Forderungen wichtig:

  1. Ohne Planung keine qualifizierte Kinder-und Jugendhilfe, die verbindlich dafür sorgt, dass das Aufwachsen aller Kinder gelingen kann.
  2. Vier zentrale Fragen sind in den Prozessen der Jugendhilfeplanung in jeder zuständigen Kommune zu bearbeiten:

    - Welche Leistungen und Angeboten werden bei uns gebraucht – unter Berücksichtigung dessen, wie Kinder bei uns aufwachsen und Eltern ihre Verantwortung wahrnehmen?
    - Wie können wir kommunale Planungsprozesse so gestalten, dass von jungen Menschen ausgehend -unabhängig von Geschlecht, Migration, Behinderung etc. -Angebote vorgehalten werden?
    - Wie können wir diese Leistungen und Angebote konzipieren und organisieren?
    - Welche Finanzmittel müssen für die erforderlichen Leistungen erschlossen werden und wie kann dieser Finanzaufwand begründet und legitimiert werden?

  3. Jugendhilfeplanung folgt keinem technischen Verständnis von Plänen und Planung, also z.B. an vorgegebenen Regeln und objektiven Maßstäben orientiert, sondern es gilt vor allem Prozesse der Kommunikation, Verständigung und Verhandlung zu gestalten (siehe zuletzt Graßhoff, Hinken, Sekler 2019). Dazu gehören auch die aktuellenDiskussionen über kommunale Entwicklungen auf dem Weg zur Inklusion.
  4. Jugendhilfeplanung braucht deswegen ein klareres Profil und Vergewisserung über ihre Rolle im Kontext der diskutierten integrierten Gesamtplanung. Das setzt voraus, dass die Planungsverantwortlichen ihre kommunalen Planungsprozesse miteinander abstimmen und aufeinander aufbauen.
  5. Jugendhilfeplanung ist Kernthema für die Kooperation von öffentlichen und freien Trägern -sowohl in einem zweigliedrigen Jugendamt als auch in den vielfältigen Beziehungen der Konzeption, Organisation und Finanzierung. Daran sind zukünftig auch die freien Träger der Behindertenhilfe stärker einzubeziehen.
  6. Konkret bedeutet das eine stärkere Berücksichtigung von § 81 Nr. 1 SGB VIII, insbesondere der verbindliche Einbezug von Einrichtungen der Behindertenhilfe im Jugendhilfeausschuss und der Jugendhilfeplanung. Einerseits ist der Einbezug der Kompetenzen in eine inklusive Kinder-und Jugendhilfe unabdingbar. Andererseits sind Übergänge in den anderen Rechtskreis für junge Menschen an der Schwelle zum Erwachsenwerden frühzeitig zu gestalten.
  7. Jugendhilfeplanung erfordert hierzu einen tragfähigen Rahmen durch verbindliche gesetzliche Vorgaben, Unterstützung durch die Landesjugendämter (§ 85 SGB VIII) und ausreichende Ressourcen, insbesondere qualifizierte Fachkräfte!

Literatur: Diagler, Claudia, Hrsg. (2019): Profil und Professionalität der Jugendhilfeplanung (Springer VS), Wiesbaden Graßhoff, Gunther; Hinken, Florian; Sekler, Koralia: Utopie des Planbaren oder Machbarkeit von Jugendhilfeplanung in den Erziehungshilfen; in: AFET Dialog Erziehungshilfe, Heft 2/2019, S. 13-18.

Quelle: AFET –– Bundesverband für Erziehungshilfe e.V. vom 10.09.2019

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