Zwischenruf des AFET

Erziehungshilfe in den Phasen der Corona-Pandemie dialogisch gestalten

Der AFET-Bundesverband für Erziehungshilfe richtet mit einem Zwischenruf den Blick auf die Gestaltung der Hilfen zur Erziehung in der Phase nach dem Abklingen der Pandemie. Besonders die Beziehungen der öffentlichen und freien Träger sowie die Herausforderungen im Kontext Digitalisierung spielen dabei eine zentrale Rolle.

19.05.2021

Die Coronapandemie traf im März 2020 die Erziehungshilfen ähnlich wie andere Hilfe- und Versorgungssysteme auf unterschiedlichsten Ebenen. Um die Abläufe in den Erziehungshilfeeinrichtungen fortzusetzen, den Kindern und Jugendlichen in stationären Settings Sicherheit zu bieten und den Kinderschutz weiterhin zu gewährleisten, haben die öffentlichen und freien Jugendhilfeträger die Herausforderungen des ersten Lockdowns – trotz zahlreicher Unsicherheiten und häufig trotz unklarer oder fehlender Umsetzungsvorgaben – angenommen.

Es wurden rasch neue Rahmenbedingungen für Notlösungen geschaffen, um zum Beispiel ein Mehr an Unterstützung bei schulischen Lerninhalten aufgrund von Schulschließungen und Homeschooling anzubieten, die Zunahme an Betreuungszeiten etwa im Lockdown und durch die ausgefallenen Aufenthalte der Kinder und Jugendlichen bei ihren Eltern an Wochenenden zu kompensieren und der veränderten Freizeitgestaltung kreativ zu begegnen. In den ambulanten Angeboten gingen ebenfalls vielfältige Umstellungen vonstatten, um die Betreuung weiter zu gewährleisten.

Während der Pandemiejahre 2020/2021 hat der AFET als Erziehungshilfefachverband einen breiten Einblick in die Praxis der erzieherischen Hilfen als Handelnde in der Krise gewinnen können.[1] Er stellt fest, dass die Erziehungshilfe in den jeweiligen örtlichen Kontexten differenziert agiert und reagiert hat – sowohl in Bezug auf die Leistungsgewährung und -erbringung als auch hinsichtlich der Kooperationen mit anderen Akteuren. Es wurden umfangreiche Maßnahmenpakete in den jeweiligen Einrichtungen und durch die Jugendämter umgesetzt.

Gute Kooperationsbeziehungen zwischen öffentlichen und freien Trägern sind bestärkt worden, während sich umgekehrt bei einer Zusammenarbeit, die im Vorfeld bereits als wenig gelungen anzusehen war, bestehende Differenzen weiter verschärft haben (HINKEN, 2020). Ein ähnlicher Befund lässt sich in der Praxis der Leistungserbringer der erzieherischen Hilfen feststellen: Pädagogische Fachkräfte, die in einem guten Verhältnis zu den Kindern, Jugendlichen und Eltern stehen, die sich engagiert und emphatisch zeigen sowie partizipativ agieren, wurden in der Krise von den Kindern und Jugendlichen besonders positiv wahrgenommen (JENKEL et al., 2020). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die öffentlichen wie freien Träger der erzieherischen Hilfen seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie im Umgang mit den Auswirkungen der Pandemie – im Sinne von lernenden Organisationen – weiterentwickelt haben.

Jetzt kommt es darauf an, wie die Post-Pandemie-Zeit gemeinsam geplant und bearbeitet werden kann. Deswegen richtet der AFET mit diesem Zwischenruf den Blick auf die Gestaltung der Hilfen zur Erziehung in der Phase nach dem Abklingen der Pandemie und er wendet sich an die Fachkräfte der freien und öffentlichen Träger und an die politischen Vertretungen auf der Bundes-, Länder- und kommunalen Ebene mit folgenden Forderungen:

Erziehungshilfen nach der Pandemie dialogisch weiterentwickeln!

Der AFET ist davon überzeugt, dass die dialogische Gestaltung der Hilfesettings und ein kontinuierlicher Austausch zwischen den örtlichen Jugendämtern und freien Trägern – gerade in Krisenzeiten – unabdingbare Voraussetzung ensind, um die Krise im Interesse aller (Kinder, Jugendlicher, Eltern, der Fachkräfte sowie freier und öffentlicher Träger) gut zu bewältigen.

Daher appelliert der AFET an alle Verantwortlichen die Kooperationsbeziehungen trotz der Krise aufrechtzuerhalten und auch nach Ende der Pandemie den Qualitätsdialog fortzusetzen.

Die gemeinsam entwickelten Ad-hoc-Lösungen zur Aufrechterhaltung der Leistungserbringung in den Lockdown-Phasen bedürfen jetzt einer Gesamtbewertung und Überprüfung, inwiefern sich diese Methoden als Mehrwert bisheriger Verfahren sowohl in der Zusammenarbeit als auch in der Gestaltung der erzieherischen Hilfen und in ihrer Infrastruktur verstetigen lassen können.

Diese gemeinsame Bewertung sollte unter der Voraussetzung der Erhaltung der bis dato gültigen fachlichen Standards in der Kinder- und Jugendhilfe vorgenommen werden.

Mögliche Entwicklungsthemen, die zukünftig im Rahmen dialogischer Prozesse zwischen den Jugendämtern und freien Trägern – auch unter Beteiligung der Hilfeadressat(inn)en – bearbeitet werden sollten, sind:

Gemeinsames Verantwortungsbewusstsein für die pandemiebedingten (Handlungs-)Folgen

Es bedarf einer Weiterentwicklung vom gemeinsamen Verantwortungsbewusstsein und Verständnis für die anstehenden Herausforderungen für die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe, die aus den Folgen der Pandemie für junge Menschen und ihre Familien in den erzieherischen Hilfen resultieren werden. Der AFET regt zu einem qualitativen Diskurs an, in dem es um die Fragen gehen soll, welche tatsächlichen Auswirkungen die Pandemie auf die Zunahme von häuslicher Gewalt, psychischen Erkrankungen oder von starken Ängsten bis zu Traumata bei Kindern und Jugendlichen als Folgen des Lebens in prekären Situationen im Lockdown[2] festzustellen sind und wie sich die Kinder- und Jugendhilfe zukünftig strukturell, möglicherweise anders, aufstellen müsste.

Viele Kinder und Jugendliche – insbesondere auch in den erzieherischen Hilfen – werden sicherlich von den Folgen der Krise betroffen sein.[3] Diese Kinder und Jugendlichen gilt es, fachlich-pädagogisch, ggf. therapeutisch zu begleiten. Die Rückkehr in Vereine oder den Sozialraum sind zu flankieren. Lern- und Bildungsprozesse sowie der Post-Pandemie-Alltag sind wieder neu zu lernen. Anschlüsse an die Regelsysteme sowie die Heranführung von Kindern an die Schule und den regelmäßig stattfindenden Präsenzunterricht müssen wiederhergestellt werden.[4] Das bedeutet, dass die Kooperationen zu Bildungs- und Betreuungssystemen wieder aufgenommen bzw. intensiviert werden müssen. Um die schulische Teilhabe für alle Schüler/-innen wieder zu ermöglichen, bedarf es ebenfalls konzeptioneller Anpassung der Schul- und Jugendsozialarbeit.

Digitale Methoden in der Hilfeplanung und Beratung

Die Digitalisierung von Arbeitsabläufen, auch im Rahmen der Hilfeplanung, hat in der Pandemiezeit deutlich an Bedeutung gewonnen. Der AFET hält es für sinnvoll zu prüfen, inwiefern die Hilfeplangespräche und der gesamte Prozess der Hilfeplanung durch Methoden wie z. B. die digitale Beratung von Kindern, Jugendlichen und Familien nach der Pandemiezeit oder digitale Elterntage flankiert werden könnten. Eine Telefonhotline für Kinder, Jugendliche und Eltern oder eine Videoberatung durch die Fachkräfte sind für bestimmte Konstellationen und Zielgruppen sinnvoll – auch unabhängig von der Krise. Sie dürfen aber nicht die Möglichkeit von Face-to-Face-Gesprächen ersetzen. Dasselbe gilt für die Hilfeplangespräche, die vorrangig in Präsenz stattfinden sollten.

Digitale Ausstattung und fachliche Kompetenzen

Um die Zugänge junger Menschen in stationären Erziehungshilfen vor allem zur Bildung in Form von Homeschooling zu ermöglichen oder Kontakte zu Kindern, Jugendlichen und Familien im Hilfekontext aufrechtzuerhalten, ergriffen die Träger unterschiedliche Maßnahmen. Im Laufe der Pandemiezeit zeigten sich sowohl Chancen als auch Grenzen der digitalen Ausstattung in den Dienststellen der Jugendämter und den stationären wie auch ambulanten Settings. An vielen Stellen fehlte den Fachkräften die digitale Kompetenz.

Es wurde vielerorts ein Paradigmenwechsel vollzogen, indem junge Menschen zu EDV - Expert(inn)en wurden.

Die Entwicklung und Sicherstellung des digitalen Arbeitens und der Ausstattung sind nicht mit einer Einzelanschaffung oder einem Crashkurs zur Anwendung der Hard- und Software abgeschlossen, sondern bedürfen langfristiger Konzepte und klarer Regelungen zwischen den öffentlichen und freien Trägern zur Finanzierung der nachhaltigen Bereitstellung bzw. Erneuerung der Hard- und Software und Qualifizierung der Fachkräfte.

Post-Pandemie-Strategie entwickeln

Der AFET bittet die politischen Entscheidungsgremien auf der Bundes- und Länderebene dringend um langfristige Lösungen für die Zeit nach dem Abklingen der Pandemie. Zunächst bedarf es einer bundesweiten Handlungsstrategie zur Rückkehr aus der Pandemie. Bei den zu treffenden Bundes- und Länderregelungen ist die Kinder- und Jugendhilfe als wesentliches Unterstützungs- und Versorgungssystem stärker zu berücksichtigen als das zu Zeiten der Pandemie geschah.

Der AFET regt dazu an, dass die politischen Gremien im Rahmen dieser Gesamtstrategie bereits jetzt konkrete Regelungen für insbesondere folgende Handlungsfelder verabschieden:

Digitalpakt für die Kinder- und Jugendhilfe vorantreiben

Das Unterrichten und Beraten sowie die sozialen Kontakte von Kindern und Jugendlichen mussten in der Pandemie- und Lockdownzeit fast ausschließlich digital erfolgen. Bei der Gestaltung von Homeschooling stand die Umsetzung des Digitalpakts Schule vielerorts auf dem Prüfstand. Schulen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe suchten nach Ad-hoc-Lösungen, wie sie Kinder, Jugendliche und Familien mit geringen materiellen Ressourcen vorübergehend z. B. mit Leihgeräten so ausstatten konnten, dass die schulische und soziale Teilhabe aufrechterhalten blieb. An vielen Stellen bestätigt sich der Bedarf an einem langfristigen Programm zur digitalen Versorgung aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland.

Der AFET hält deswegen das Aufheben der digitalen Ungleichheit im Zugang und in der Nutzung von digitalen Medien unter den jungen Menschen für einen wesentlichen Handlungsschritt im Rahmen der Post-Pandemie-Strategie und fordert einen Digitalpakt für die Kinder- und Jugendhilfe[5].

Versorgung vulnerabler Gruppen verbessern

Insbesondere die Bedarfe vulnerabler Zielgruppen sollen in der Post-Pandemie-Strategie eine deutliche Berücksichtigung finden. Es braucht vernetzte Versorgungs- und Unterstützungsstrukturen vor Ort, um die betroffenen Familien, Kinder und Jugendlichen entsprechend zu erreichen, sie nach der Pandemie „abzuholen“ und an die Systeme der Regelversorgung wie Kindertagesstätten, Schulen, Ganztag, Ausbildung oder notwendige Förder- und Therapiemaßnahamen heranzuführen. Es bedarf vor allem regelfinanzierter Förderprogramme und präventiver Hilfsangebote. Um die Selbstwirksamkeit dieser Kinder und Jugendlichen zu stärken, wird es die Aufgabe der Fachkräfte sowie politischer Gremien z. B. auf kommunaler Ebene sein, den Fokus auf die Kompetenzen der jungen Menschen zu richten und sie in die Entscheidungsprozesse auf dem Weg der Lösungsfindung einzubeziehen.

Zu einer Post-Pandemie-Strategie gehört ebenfalls eine Bundes- und Länderregelung zur Versorgung von neuen Gruppen mit besonderem Hilfebedarf, der sich bereits jetzt als Folge der lang andauernden Krise und Isolation von jungen Menschen mit psychischen und Suchtproblemen sowie von Familien mit geringen materiellen und sozialen Ressourcen abzeichnet.

Dem AFET ist bewusst, dass die Bewältigung der Coronapandemie von den Kommunen, den Ländern und dem Bund mit enormen organisatorischen und finanziellen Herausforderungen verbunden ist.

Allerdings dürfen die getroffenen Maßnahmen nach der Pandemie nicht zu Lasten der Schwächsten in der Gesellschaft ausgetragen werden.

Daher richtet sich schon heute der Appell des AFET an die politischen Akteure, die Post-Pandemie-Strategie als angemessen finanziertes Programm[6] so zu entwickeln, dass langfristig die Einschränkungen im sozialen Bereich vermieden und die Hilfsangebote aufrechterhalten werden, um allen Kindern, Jugendlichen und Familien gleichberechtigte Teilhabechancen zu sichern.

Der Vorstand
AFET - Bundesverband für Erziehungshilfe e.V.
Hannover, 06. Mai 2021

Quellenangaben

Hinken, Florian (2020): Zusammenarbeit von Jugendämtern und freien Trägern im Krisenmodus – Ergebnisse einer Trägerbefragung (Teil I), In: Dialog Erziehungshilfe 3/2020, S. 10-16 sowie (Teil II), In: Dialog Erziehungshilfe 4/2020, S. 33-38.

Jenkel, Nils; Güneş, Sevda Can; Schmid, Marc (2020): Die Corona-Krise aus der Perspektive von jungen Menschen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe (CorSJH) www.integras.ch/images/aktuelles/2020/20200902_CorSJH_DE.pdf

[1] Der AFET beteiligte sich an dem bundesweiten Fachaustausch mit seiner Informationsplattform zum Corona - Virus und seinen Auswirkungen auf die Kinder- und Jugendhilfe (https://afet-ev.de/corona; Abruf: 03.05.2021) und durch seine Mitarbeit an Positionspapieren wie „Covid 19-Strategie rund ums Kind entwickeln“ (https://afet-ev.de/assets/themenplattform/ForumTransfer---Covid-Strategie-rund-ums-Kind-21-02-28.pdf; Abruf: 03.05.2021) oder an dem Zwischenruf der Erziehungshilfefachverbände zum dringenden Handlungsbedarf bei Sicherstellung des Kinderschutzes in Zeiten von Corona (Covid-19) (https://afet-ev.de/themenplattform/zwischenruf-der-erziehungshilfefachverbaende-handlungsbedarf-bei-sicherstellung-des-kinderschutzes; Abruf: 03.05.2021).

[2] Nach aktuellen Angaben der Kinder- und Jugendpsychiatrien werden Kinder und Jugendliche in Deutschland deutlich häufiger als vor dem Lockdown in den dortigen Notaufnahmen vorstellig. www.welt.de/politik/deutschland/plus230442863/Erkrankungen-waehrend-Corona-Kinder-und-Jugendpsychiater-schlagen-Alarm.html, Abruf: 03.05.2021

[3] 80% der befragten Fachkräfte in den Jugendämtern prognostizieren eine Verschlechterung der Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen in den Bereichen der schulischen Teilhabe, in Übergängen in Ausbildung, im Freizeitverhalten und bei den Kontakten zu Gleichaltrigen. www.forum-transfer.de/fileadmin/uploads/Aktuelles/Jugendamtsbefragung-19-04-2021.pdf, Abruf: 03.05.2021

[4] Hierzu gibt es schon die ersten Problemanzeigen wie z.B. die Verdopplung der Schulabbrecherzahlen in den Jahren 2020 und 2021 als Folge der Pandemie (Jugendämter in Deutschland: Mehr Schulabbrecher erwartet - ZDFheute; Abruf: 03.05.2021).

[5] In Kürze veröffentlichen die Erziehungshilfefachverbände ihr gemeinsames Forderungspapier zu diesem Thema.

[6] Hierzu gibt es seitens der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter einen Vorschlag für einen „Post-Corona-Fonds Kinder- und Jugendhilfe“ von jährlich 5,6 Milliarden Euro bis 2027 www.dijuf.de/files/downloads/2021/PM_Corona-Umfrage_BAG_Landesjugend%C3%A4mter_2021-04-20.pdf ; Abruf: 03.05.2021. Darüber hinaus fordern Vertreter*innen der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ, der BAG Landesjugendämter und des Bundesjugendkuratorium ein Maßnahmenpaket von Bund, Ländern und Kommunen für alle Felder der Kinder- und Jugendhilfe. www.agj.de/fileadmin/files/pressemeldungen/210423_Zukunftspaket_final__003_.pdf; Abruf: 03.05.2021

Quelle: AFET – Bundesverband für Erziehungshilfe e. V.

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