Europäische Vergleichsstudie

Erfahrungen aus Europa zu den Rahmenbedingungen kommunaler Prävention

Seit dem Start von „Kein Kind zurücklassen!“ wird erforscht, wie gute Bedingungen für den Aufbau kommunaler Präventionsketten beschaffen sein können. Ziel dieser Initiative ist es, allen Kindern und Jugendlichen bestmögliche Chancen für ein gelingendes Aufwachsen und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen - und das unabhängig von ihrer Herkunft. Ergänzt werden bereits vorliegende Ergebnisse aktuell um Erfahrungen aus elf europäischen Ländern.

05.11.2020

Wie kann kommunale Prävention gestärkt werden, so dass Kinder gut aufwachsen und ihre Potenziale entfalten können? Diese Frage wird nicht nur in Deutschland diskutiert. Daher lohnt ein Blick über den deutschen Tellerrand, denn in den anderen europäischen Staaten zeigen sich ähnliche Problemlagen – aber auch unterschiedliche Lösungsansätze. Diese mögen nicht in jedem Fall eins zu eins auf Deutschland übertragbar sein, öffnen jedoch den Blick für Alternativen, über deren Anpassung an das deutsche Umfeld zu diskutieren lohnt.

Herangehensweise

Akteure und Institutionen in anderen Ländern Europas, die (präventiv) Kinder, Jugendliche und Familien unterstützen und begleiten, können nicht eins zu eins mit der Herangehensweise in deutschen Kommunen verglichen werden. Vor diesem Hintergrund haben das Deutsche Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung in Speyer, die Fernuniversität Hagen und die Wirtschaftsuniversität Wien analysiert, wie andere europäischen Länder kommunale Prävention für Kinder und Familien umsetzen. Neben einem Überblick über die sozialstaatlichen Strukturen in Dänemark, Finnland, Frankreich, England, Irland, Litauen, den Niederlanden, Schweden, Spanien und der Tschechischen Republik wurde auf Unterstützungsangebote in den unterschiedlichen kindlichen Lebensphasen geschaut, insbesondere, wenn sich Probleme in der physischen, psychischen oder sozialen Entwicklung abzeichnen. In Österreich, Frankreich und den Niederlanden konnte über Experten-Interviews vertieftes Wissen zu Verständnis und Herangehensweise an präventionsrelevante Zusammenhänge erhoben werden.­­­­­

In den untersuchten Ländern finden sich unterschiedliche Impulse für den weiteren Ausbau kommunaler Präventionsleistungen in deutschen Städten und Gemeinden. Zwei Erkenntnisse der Studie betreffen jedoch nicht nur Deutschland, sondern alle untersuchten Länder: 

  1. Es fehlt ein gemeinsames Verständnis, was Prävention ist und bewirken soll, und
  2. Kommunen und Regionen sollten in die präventionsrelevante Gesetzgebung verlässlich eingebunden sein, um die Umsetzung vor Ort von Anfang an im Blick zu haben.

Besonderheiten in Deutschland

Der Aufbau des deutschen Sozialstaats erschwert die Gestaltung kommunaler Präventionsketten entlang des Lebensverlaufes eines Kindes. Grund dafür ist die Fragmentierung der Zuständigkeiten, sowohl in den Kommunen als auch über die föderalen Ebenen hinweg. Eine auf das Kind und die Familie abgestimmte Unterstützung aus den Bereichen Gesundheit, (frühkindliche) Bildung, Erziehung und Soziales in der kommunalen Umsetzung ist jedoch relevant, wenn Teilhabechancen für alle Kinder und Jugendlichen ermöglicht werden sollen.

Der Ausbau der Schulen als Lebensort für Kinder und Jugendliche mit lebendigen Verbindungen in den Sozialraum, unterstützt von der Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitssektor, könnte umfassend und nachhaltig auf viele Problemlagen einwirken. Schule so gestaltet würde insbesondere vulnerable Familien multiprofessionell besser begleiten.

Wie in den Studien aus KeKiz Phase I schon belegt, ist der Gesundheitsbereich ein zentraler Akteur im Präventionsgeschehen, insbesondere bei der Ansprache schwer erreichbarer Zielgruppen. Auch im vorliegenden europäischen Vergleich arbeiteten die Wissenschaftler heraus, dass die deutsche Herangehensweise unerwünschte stigmatisierende Effekte nicht vollständig nivellieren kann. 

Präventionsleistungen werden in erster Linie über das Jugendamt angeboten. Das Jugendamt ist jedoch auch zu Inobhutnahmen berechtigt, also zur Herausnahme von gefährdeten Kindern aus ihren Familien. Dieses Recht kann sich negativ auf die Inanspruchnahme von präventiven Angeboten auswirken, weil neben dem Aspekt der Unterstützung immer auch eine mögliche Sanktion mitschwingt.

Eine andere Möglichkeit, Präventionsleistungen nachhaltig vor Ort zu verankern, ist, Prävention als Pflichtleistung gesetzlich festzuschreiben und zu finanzieren. Litauen beschreitet diesen Weg. Auf nationaler Ebene ist gesetzlich festgelegt, dass jede Kommune über eine Kommission verfügt, die sich ganzheitlich um das Wohlergehen von Kindern kümmert. Die Kommission setzt sich zusammen aus Verantwortlichen der Sektoren Gesundheit, Bildung, Polizei und Verwaltung sowie Akteuren der Zivilgesellschaft. Alle Schulen müssen parallel ebenfalls Kommissionen vorhalten, besetzt mit Lehrern und Sozialpädagogen sowie Akteuren aus der Kommune, um Kinder möglichst ganzheitlich begleiten zu können.

Darüber weisen die Studienergebnisse darauf hin, dass Prävention als Pflichtleistung gesetzlich festgeschrieben werden sollte. Denn insbesondere in denjenigen Ländern, die eine flächendeckende und langfristige Unterstützung benachteiligter Kinder und Familien vorhalten, ist dies der Fall. Außerdem wird eine entsprechende langfristige Finanzierung für kommunale Prävention sichergestellt. 

Herausforderungen für Europa

Präventionsrelevante Akteure in den Kommunen benötigen auf europäischer Ebene stärkere Anreize und mehr Unterstützung für Koordinationsmechanismen, damit diese zu den gewünschten Ergebnissen führen. Weiter wäre hilfreich, eine bessere Kenntnis zur Verfügbarkeit von präventiven Angeboten sowie ein vertieftes Verständnis zu Funktion und Administration weiterer präventionsrelevanter Zuständigkeiten bei Adressaten und professionellen Akteuren zu fördern. 
Im Laufe von Gesetzgebungsprozessen muss um eine gute Balance zwischen der Durchsetzung präventionsrelevanter Leistungen im Abgleich mit den konkreten Bedarfen vor Ort gerungen werden. Auch die Finanzierung stellt in allen Ländern die Kommunen immer wieder vor große Herausforderungen. Oft sind Leistungen nicht hinreichend ausgestattet oder Budgets können nicht bedarfsgenau verwendet werden, weil sie auf einen bestimmten Leistungskanon beschränkt sind.

Die Child Guarantee und der europäische Sozialfonds

2021 plant die Europäische Kommission die Verabschiedung einer Child Guarantee. Die Child Guarantee soll gute und ausreichender Ernährung, angemessenen Wohnraum, Zugang zu hochwertiger frühkindlicher und weiterführender Bildung sowie zu hinreichender Gesundheitsversorgung für alle Kinder in Europa sicherstellen. Die Forderungen der Child Guarantee - insbesondere bezüglich der sozialen Infrastruktur für Kinder und Jugendliche vor Ort - zahlt auf das Anliegen von „Kein Kind zurücklassen!“ für mehr Teilhabechancen für alle Kinder ein. Aus diesem Grund vernetzt sich KeKiz mit zentralen Akteuren in Deutschland und Europa, um mit den Studienergebnissen zur Verabschiedung der Child Guarantee beizutragen und für bessere kommunale Präventionsstrukturen in Deutschland zu werben.

Auch die Förderung koordinierter, präventiver Leistungen, bspw. über den Europäischen Sozialfonds+, könnte das Verständnis in Politik und Gesellschaft für präventives Handeln und den damit einhergehenden Chancen auf erfolgreiche gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe erweitern. Bei der aktuell zu gestaltenden Förderrichtlinie des ESF+ befürworten wir eine administrative Ausgestaltung von Infrastruktur und Institutionen vor Ort im Sinne der Child Guarantee. Das würde auf eine kommunale Vernetzung nach präventions-förderlichen Maßstäben einzahlen und die Erprobung finanziell unterstützen.

Über das Projekt

Seit 2012 engagieren sich die Landesregierung Nordrhein-Westfalen und die Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit 18 Modellkommunen in der Initiative "Kein Kind zurücklassen!" (KeKiz). Ziel dieser Initiative ist es,  allen Kindern und Jugendlichen bestmögliche Chancen für ein gelingendes Aufwachsen und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen - und das unabhängig von ihrer Herkunft.

Ab 2016 werden die Ergebnisse des Modellvorhabens landesweit verbreitet und einzelne Forschungsfragen auf Basis der Erkenntnisse aus der Modellphase intensiver verfolgt. Während das Land NRW sich in der zweiten Phase des Projekts vor allem um den kommunalen Rollout in NRW bemühen wird, arbeitet die Bertelsmann Stiftung  weiter daran, durch wissenschaftliche Analysen und Fallstudien evidenzbasiertes Handlungswissen zu generieren. Darüber hinaus wird die Stiftung den bundesweiten Transfer der Ergebnisse vorantreiben.

Die jetzigen Themenschwerpunkte befassen sich mit den drei folgenden Fragen:

  1. Wie und wann gelingt kommunale Prävention?
  2. Wie werden Hilfen zur Erziehung wirksam gestaltet?
  3. Wie kann eine kleinräumige, wirkungsorientierte Berichterstattung in Kommunen aufgebaut und genutzt werden?

Redaktion: Kerstin Boller

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