Hilfen zur Erziehung

Das Verhältnis von Kinderschutz und Hilfen zur Erziehung – Tendenzen und Auswirkungen

Die gesamtgesellschaftliche Bedeutungssteigerung des Kinderschutzes hat auch vielfältigste Auswirkungen auf die Kinder- und Jugendhilfe. Mit dem Bedeutungszuwachs des Kinderschutzes sind aber auch Herausforderungen verbunden. Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ hinterfragt in ihrem Positionspapier das Verhältnis von Kinderschutz und Hilfen zur Erziehung und zeigt notwendige Reflexions- sowie Handlungsbedarfe auf.

01.11.2019

In den letzten beiden Jahrzehnten ist eine gewachsene gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Verantwortung für den Kinderschutz zu verzeichnen. Der Gesetzgeber reagierte unter anderem mit der Einführung und nachfolgenden Konkretisierung der Schutzvorschriften in § 8a SGB VIII sowie der Verabschiedung des Bundeskinderschutzgesetzes. Die gesamtgesellschaftliche Bedeutungssteigerung des Kinderschutzes hat auch vielfältigste Auswirkungen auf die Kinder- und Jugendhilfe. Positive Auswirkungen spiegeln sich unter anderem in der erhöhten Sensibilisierung der sozialpädagogischen Fachkräfte für den Schutz von Kindern und Jugendlichen wider. Mit dem Bedeutungszuwachs des Kinderschutzes sind aber auch Herausforderungen für eine Aufgabenwahrnehmung der Kinder- und Jugendhilfe, die die Rechte der Kinder und Jugendlichen sowie ihrer Familien achtet und sensibel gegenüber Schutz- und Hilfebedürfnissen ist, verbunden. Die AGJ hinterfragt in ihrem Positionspapier „Das Verhältnis von Kinderschutz und Hilfen zur Erziehung – Tendenzen und Auswirkungen“ damit verbundene, teilweise etablierte Vorgehensweisen, Instrumente und Rahmenbedingungen, um daran anknüpfend, notwendige Reflexions- und Handlungsbedarfe aufzuzeigen und einzufordern.

Das vollständige Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ „Das Verhältnis von Kinderschutz und Hilfen zur Erziehung – Tendenzen und Auswirkungen“ (PDF, 157 KB) steht als Download auf den Seiten der AGJ zur Verfügung.

Zusammenfassung und Handlungsbedarf

Zusammengefasst stellt die AGJ in ihrem Positionspapier Folgendes zum Verhältnis von Kindesschutz und gelingenden Hilfen zur Erziehung fest oder benennt Reflexions- oder Handlungsbedarfe:

Das Verhältnis von Kinderschutz und Hilfen zur Erziehung reflektieren

In nahezu allen Belangen hat sich der Schutz von Kindern in Deutschland weiterentwickelt. Gestützt von gestiegener gesellschaftlicher Sensibilität, rechtlicher Entwicklung und verstärkter wissenschaftlicher Thematisierung erscheint die Praxis der Jugendämter, der Leistungserbringer und der sonstigen Akteure auch außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe eine bessere Gefährdungsabwendung und Reduktion des Dunkelfeldes zu ermöglichen.

Das Verhältnis von Kinderschutz und Hilfen zur Erziehung ist wissenschaftlich, politisch und in der Umsetzung vor Ort kontinuierlich zu reflektieren. Dies gilt für die Frage der notwendigen Abgrenzung zwischen Hilfen zur Erziehung und Kinderschutzfällen einerseits, aber auch für notwendige Kontinuitäten des Hilfeauftrages andererseits. Die Kinder- und Jugendhilfe steht auch für eine Anerkennung schwieriger Lebenslagen von Familien. Sie hat in solchen Konstellationen eine unterstützende Rolle und nicht nur eine korrigierende, substituierende Funktion, wenn in deren Folge die Erziehungsbedingungen problematisch oder gar gefährdend sind.

Es bedarf einer Vergewisserung und Klarstellung der Ausgestaltung und Gemeinsamkeiten von Hilfen zur Erziehung sowohl in Verbindung mit als auch ohne Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung: Sozialarbeit zum Wohl des Kindes stellt Fürsorge- und Schutzbedürfnisse der Kinder in einem weit verstandenen Sinn in das Zentrum der Hilfen zur Erziehung und der Hilfeplanung. Das Bieten von Unterstützung und Werben für Hilfe bleibt die entscheidende Orientierung des fachlichen Handelns auch im Bereich des eng verstandenen Kinderschutzes – auch Interventionen gegen den Willen der Adressatinnen und Adressaten dienen letztlich der Hilfe. Adressatinnen und Adressaten sollen auch in Fällen von Kindeswohlgefährdung beteiligt werden – in Fällen, in denen der Schutz nicht gewährleistet ist, findet lediglich eine Einschränkung der Beteiligung in den schutzgefährdenden Bereichen des Alltags statt und verschiebt sich der Zeitpunkt der vollständigen Beteiligung in allen Bereichen. In der Zusammenarbeit mit den Sorgeberechtigten stehen Veränderungsprozesse bei den Adressatinnen und Adressaten im Vordergrund des fachlichen Handelns und nicht eine Kooperationsbereitschaft, die sich an der Unterordnung unter Sichtweisen und Regelwerke der Fachkräfte bemisst.

Der eigenständige Auftrag der Hilfen zur Erziehung (und damit auch der Hilfeplanung) im Hinblick auf die Verbesserung der familiären Situation zum Wohl des Kindes und der/des Jugendlichen soll im fachlichen Handeln der zentrale Fokus sein. Dabei ist das Anknüpfen an die Lebenswelt der Familien, deren Motivationslage und Vorstellungen eine zentrale Grundlage für eine sozialpädagogisch qualifizierte Arbeit. Dies gilt unabhängig einer möglichen Gefährdung, aktuell oder in der Vorgeschichte.

Kinder- und Elternrechte sowie Regelwerke

Kinder- und Elternrechte sind jederzeit zu wahren, auch in für Fachkräfte komplexen und unklaren Situationen. Es bedarf von Seiten der Fachkräfte einer klaren, prozessual transparenten und rechtlich einwandfreien Kommunikation mit Eltern, Kindern und Jugendlichen über Hilfebedarfe und Grenzen ihrer freiwilligen Inanspruchnahme bei Kindeswohlgefährdung. Die entscheidende Instanz für Maßnahmen gegen den Willen der Personensorgeberechtigten ist alleinig das Familiengericht, das diese nur in Betracht zieht, wenn nach seiner Ansicht eine Kindeswohlgefährdung vorliegt.

In der Praxis des Kinderschutzes sind rechtlich fundierte Regelwerke unverzichtbar, jedoch nicht ausreichend um fachlich reflektiertes Handeln zu sichern. Es muss verstärkt darüber nachgedacht werden, wie Regeln im Kinderschutz so gestaltet werden können, dass sie zu Reflexion, Abwägung, Aushandlung und Dokumentation von Entscheidungsgründen einladen, statt scheinbare Automatismen (wenn A, dann B) auszulösen. Regeln, Anweisungen und Leitlinien sind nicht nur im Hinblick auf ihre rechtliche Fundierung zu prüfen, sondern auch auf ihre pädagogischen Grundlagen und Wirkungen hinsichtlich des Handelns der Fachkräfte zu untersuchen.

„Latente Kindeswohlgefährdung“ und „Schutzkonzepte“

Die Verwendung der Kategorisierung „latente Kindeswohlgefährdung“ sollte fachlich und empirisch hinterfragt werden, da der Begriff „latent“ vermittelt, eine Kindeswohlgefährdung sei bereits „vorhanden“ aber nicht unmittelbar „sichtbar“ bzw. „erfassbar“. Oftmals wird in der Praxis mit diesem Begriff jedoch eine nicht näher definierte Spanne bezeichnet, die vor Erreichen der Schwelle des Vorliegens einer Kindeswohlgefährdung liegt. Es ist demnach eher ein Bereich „drohender Kindeswohlgefährdung“ gemeint, der so aber keine rechtliche Entsprechung hat. Gemäß § 8a SGB VIII müssen Fachkräfte klären, ob zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Gefährdung vorliegt oder nicht, was gegebenenfalls auch von Familien- oder Verwaltungsgerichten so eingefordert wird. Unsicherheiten seitens des Jugendamts bei der Einschätzung der momentanen Situation sollten durch im Zeitverlauf ggf. stetig wiederholende Überprüfungen begegnet werden. Über die Einordnung von Situationen als „latent“ darf diese Handlungspflicht nicht verloren gehen.

Die Praxis der “Kinderschutzkonzepte“ im Kontext der Einzelfallhilfen ist kritisch zu hinterfragen. Schutzkonzepte können am Ende einer Gefährdungsprüfung nach § 8a SGB VIII ein Vereinbarungsformat sein, das dann integraler Teil der Hilfeplanung ist. Sowohl Hilfeplan als auch dessen möglicher Bestandteil „Schutzkonzept“ müssen partizipativ, reflexiv und ausgehandelt entstehen. Der Hilfeplan ist eine Voraussetzung für gelingendes Arbeiten mit den Adressatinnen und Adressaten, sowie für eine erfolgversprechende Aufgabenwahrnehmung durch freie Träger.

Fachkräftegewinnung und Qualifizierung

Fachkräfte sollen bei der Bewältigung emotionaler Belastungen unterstützt werden. Dies kann etwa durch eine (zeitweilige) Entlastung der Fachkräfte erfolgen. Möglichkeiten der Supervision sollten selbstverständlich sein. Verlässliche Strukturen zur Krisenbewältigung – etwa im Falle medialer Berichterstattung oder eines Strafprozesses – schaffen Sicherheit, dass eine betroffene Fachkraft im gegebenen Fall nicht allein gelassen wird. Leitungskräfte haben dabei eine bedeutende Funktion. Sie sollen ihre Fachkräfte in Krisensituationen Rückendeckung geben und notwendige Unterstützungsangebote bereitstellen. 

Die Erwartungen an die Kinder- und Jugendhilfe (Kinderschutz-)Aufgaben fachlich verantwortlich zu erfüllen sowie bestehende bzw. zukünftige Rechtsansprüche zu gewährleisten, kann nur mit entsprechenden Personalressourcen verwirklicht werden. Zum einen hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe im Rahmen seiner Gesamt- und Planungsverantwortung die erforderlichen und geeigneten Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen, um die Erfüllung der Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe ausreichend zu gewährleisten. Dies schließt eine entsprechende Anzahl von Fachkräften ein. Zum anderen ist es, mit Blick auf den wachsenden Personalbedarf, dringend geboten, die Fachkräftegewinnung neu auszurichten und verstärkt die Kinder- und Jugendhilfe als Arbeitsfeld der Zukunft in die gesellschaftliche Wahrnehmung zu rücken. Hierfür ist eine politische Gesamtstrategie zur Fachkräftegewinnung bzw. Personalentwicklung auf qualitativer und quantitativer Ebene notwendig. Aus Sicht der AGJ ist die Bildung von regionalen Verantwortungsgemeinschaften – gerade für kleinere Jugendämter – eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung und Bereitstellung entsprechender Rahmenbedingungen und Ressourcen, um bestehende bzw. zukünftige (regional spezifische) Herausforderungen entsprechend gezielt anzugehen.

Die Fachkräfte müssen weiter qualifiziert werden, um ihre Handlungssicherheit in den Hilfen zur Erziehung mit und ohne Kinderschutzbezug zu erhöhen. Zu nennen sind hier:

  • Kontinuierliche Förderung und Weiterbildung im Fallverstehen / sozialpädagogischer Diagnostik
  • Qualifizierungen im Bereich der Einschätzung der Entwicklungsverläufe bei Kindern sowie
  • Erweiterung der Kenntnisse über Vernachlässigungssituationen, ihre Folgen und erprobte Hilfeansätze als auch
  • Förderung der qualifizierten Unterscheidung von einer vordergründig verstandenen „Kooperationsbereitschaft“ von Eltern und deren Veränderungsfähigkeiten und -bereitschaft.

Kooperationen

Die Kooperation zwischen Trägern der öffentlichen Jugendhilfe und Trägern der freien Jugendhilfe müssen im Rahmen von Leistungsvereinbarungen eindeutig geregelt sein. Gerade in schwierigen Fällen muss Klarheit darüber bestehen, welche Aufgaben des Fallverstehens bzw. der Diagnose ein Dienst oder eine Einrichtung übernimmt.

Gesetzliche Kooperationsverpflichtungen sind bisher nur im SGB VIII verankert. Die AGJ hält daher korrespondierende Vorschriften in den jeweils anderen Gesetzesbüchern für sinnvoll. Auch wenn sich damit die spezifische Rolle der Kooperationspartner (z. B. strukturell, im Einzelfallbezug, bzgl. Datenschutzvorgaben) nicht ändern würde, wäre hierdurch ein wesentliches Manko, dass der Praxis bei der Umsetzung des § 81 SGB VIII begegnet, behoben.

Unabhängige Partizipations- und Beschwerdemöglichkeiten

Sie sind nicht nur als Mittel der Stärkung von Adressatinnen und Adressaten zu gewährleisten, sondern als pädagogisches Prinzip in allen Phasen der Entscheidungsfindung für eine Hilfe als auch während des Hilfeprozesses. Das gilt auch in Fällen von (vermuteter) Kindeswohlgefährdung.

Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung

Die Hilfen zur Erziehung sollten aus Sicht der AGJ nicht nur unter dem „Label“ des Kinderschutzes fort- und weiterentwickelt werden (z. B. Förderung vertieften Fallverständnisses auch jenseits von „Kinderschutz“). Eine Sensibilisierung auch der Politik für Hilfe-Orientierung als entscheidendes Prinzip der Hilfen zur Erziehung sei erforderlich. Es bedarf verstärkter Forschung und Projekte für den Bereich der Hilfen zur Erziehung jenseits des Kinderschutzes. Dabei soll auch angeknüpft werden an frühere Forschung, zum Beispiel zur Hilfeplanung.

Quelle: Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Redaktion: Kerstin Boller

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