Hilfen zur Erziehung

Bericht zur ConSozial: Welche Unterstützung brauchen Care Leaver?

Wie sieht die Lebenssituation von jungen Menschen aus, die die Hilfen zur Erziehung im Alter von 18 Jahren verlassen? Welche Gestaltungselemente gibt es im Übergang und was brauchen Care Leaver? Diesen Fragen widmete sich Diplom-Pädagoge Benjamin Strahl in seinem Vortrag auf der diesjährigen ConSozial.

01.11.2016

Anlässlich der ConSozial, die am 26. und 27. Oktober in Nürnberg stattfand, beleuchtete der wissenschaftliche Mitarbeiter der Universität Hildesheim, Benjamin Strahl, in seinem Kongressvortrag mit dem Titel "Endstation 18? Übergänge in und nach den Hilfen zur Erziehung" die Lebenssituation von Care Leavern in Deutschland, deren Rechtsansprüche sowie aktuelle Forschungsergebnisse aus dem gleichnamigen Projekt der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) und der Universität Hildesheim.

Jugendliche und junge Volljährige, die in öffentlicher Erziehungshilfe aufwachsen bzw. einen Teil ihrer Sozialisation dort erfahren haben, verlassen den Ort und die Bezüge, in denen sie aufgewachsen sind, oftmals mit dem Erreichen der Volljährigkeit oder kurz danach. Anders als die altersgleiche Bevölkerung, die in ihrer Herkunftsfamilie aufwächst, stehen sie bereits mit 18 oder 19 Jahren vor der Herausforderung, ihren Alltag selbstständig bewältigen zu müssen.

Für die Betroffenen, die schwierige Lebenssituationen zu bewältigen hatten, ist die Beendigung der Hilfen oft eine große Belastung. Das SGB VIII sieht vor, dass Hilfen zur Persönlichkeitsentwicklung und zur eigenverantwortlichen Lebensführung für junge Volljährige gewährt werden sollen, wenn und solange dies aufgrund der individuellen Situation notwendig ist (§ 41 SGB VIII). Im Regelfall sind Hilfen also zu gewähren, wenn dieser Bedarf vorliegt. Rechtlich gesehen muss eine Hilfe also nicht mit dem Erreichen der Volljährigkeit enden, in der Praxis ist dies jedoch oft der Fall. Regional existieren zudem große Unterschiede in der Häufigkeit der Hilfegewährung für junge Erwachsene, was stark von der Gewährungspraxis der einzelnen Jugendämter abhängt. Beispielsweise entscheiden einige Jugendämter, grundsätzlich keine Hilfen ab einem Alter von 18 Jahren zu gewähren.

Doch warum sollten Jugendliche, die zuvor in der Heimerziehung oder Vollzeitpflege untergebracht waren, plötzlich keinen Hilfebedarf mehr benötigen und erhalten? Gerade in einer Lebensphase der Orientierung, Selbstfindung und mit dem Hintergrund, dass sie keinen oder einen konfliktgeladenen Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie haben.

Bildungsbiografien sind nicht mehr linear

Junge Menschen, ganz gleich ob im Hilfesystem aufgewachsenen oder nicht, werden nicht von einem Tag auf den anderen erwachsen. Bildungsbiografien verlaufen nicht mehr linear und es gibt vielfältige und verschwimmende Vorstellungen vom Erwachsensein (vgl. <link http: lexikon.stangl.eu emerging-adulthood external-link-new-window zu emerging>Arnett "Emerging Adulthood", 2000).

Strahl spricht in diesem Zusammenhang von sogenannten Jojo-Übergängen: Es existiert mitunter keine stringente Abfolge im Bildungs- und Lebensweg. Übergänge können wiederkehren, beispielsweise wenn junge Erwachsene nach dem Studium aus finanziellen Gründen wieder im Elternhaus wohnen. Bildungslaufbahnen dauern heutzutage deutlich länger als 18 Jahre. <link http: ec.europa.eu eurostat web products-datasets yth_demo_030 external-link-new-window von>Daten von Eurostat zeigen, dass das Alter, in dem Kinder ihr Elternhaus verlassen sich nach hinten verschoben hat: Frauen ziehen im Durchschnitt mit 22,9 Jahren, Männer mit 24,6 Jahren aus. Eine merkliche Veränderung der Lebenssituation der jungen Generation zeigt sich darin, dass junge Erwachsene mittlerweile bis weit ins dritte Lebensjahrzehnt hinaus von ihrer Familie unterstützt werden. Auf Care Leaver trifft dies nicht zu, sie sind benachteiligt.

Care Leaver im Vergleich mit ihren Peers

Care Leaver haben weniger familiäre Unterstützung, sie können zudem nicht zurück in die stationären Hilfen, sie haben weniger emotionale Unterstützung, weniger soziale Netzwerke sowie eng begrenzte finanzielle Ressourcen. Auch die Aus- und Bildungschancen sind geringer.

Eric van Santen, wissenschaftlicher Referent im Projekt "Jugendhilfe und sozialer Wandel – Leistungen und Strukturen" am Deutschen Jugendinstitut in München veröffentlichte 2015 Ergebnisse aus seiner Forschung zur Lebensbewältigung von erwachsenen ehemaligen Heim- und Pflegekindern (Quelle: Sozio-oekonomische Panel (SOEP), Welle 2001-2012).

Van Santens Ergebnisse zeigen: Care Leaver sind im Vergleich zu Gleichaltrigen ohne eine Hilfegewährung häufiger

  • obdachlos
  • psychisch krank und suchtmittelabhängig
  • arbeitslos
  • mit dem Gesetz in Konflikt
  • früh (ungewollte) Eltern

Welche Unterstützung erhalten Care Leaver derzeit?

Übliche Gestaltungselemente im Übergang sind:

  • unterschiedliche Settings des betreuten Wohnens als Kern der Verselbstständigung
  • Kompetenztrainings: u.a. zu hauswirtschaftlichen Fähigkeiten/ Finanzen / Hygiene, Gesundheit
  • Schulbesuch / Übergänge in Ausbildung und Arbeit

Benjamin Strahl betont, dass diese Maßnahmen jedoch nicht ausreichen. Ergebnisse der Befragung von Care Leavern innerhalb des Gemeinschaftsprojektes der IGfH und der UNI Hildesheim zeigen:

  • Care Leaver fühlen sich nicht gut vorbereitet.
  • Auch die Care Leaver mit positiven Hilfeverläufen fühlen sich im Übergang z.T. zurückgewiesen.
  • Der extreme Wechsel aus stark reglementierter Lebenssituation in Wohngruppen und Heimen wird als Bruch erlebt.
  • Der Abschied von Betreuern und Vertrauenspersonen wird wenig thematisiert.
  • Emotionale Auswirkungen des Hilfeendes finden in der Übergangsbegleitung wenig Raum.
  • Beziehungskontinuität, Spielräume und die wirtschaftliche Situation sind wichtige Themen der Care Leaver im Übergang.

Was brauchen Care Leaver?

Folgende Forderungen sind für eine gute Praxis zusammenzufassen:

  • nicht mehrere Übergangsprozesse parallel einleiten!
  • Partizipation im Sinne von Selbstverantwortung und Selbstbestimmung fördern!
  • Netzwerke stärken und Gruppenangebote erweitern!
  • Reversible und flexible Übergänge aus Erziehungshilfen ermöglichen!
  • Bildung als Aufgabe der Erziehungshilfe besser verwirklichen!
  • Abschiede vorbereiten und Abschied nehmen lernen!
  • Orte des Zurückkommes schaffen!
  • Bindungen ermöglichen und erhalten: Ehemaligenarbeit und Patenschaften institutionalisieren!
  • Infrastruktur für Hilfen aus einer Hand verbessern!

Über den Referenten

Benjamin Strahl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim. Zuvor war er als Sozialpädagoge im stationären und teilstationären Bereich der Hilfen zur Erziehung tätig.

Weiterführende Informationen

  • <link http: www.careleaver.de external-link-new-window des verein careleaver>www.careleaver.de
  • <link http: www.careleaver-online.de external-link-new-window und tipps für care>www.careleaver-online.de
  • <link http: www.careleaver-kompetenznetz.de external-link-new-window des careleaver>www.careleaver-kompetenznetz.de

Literaturempfehlungen:

  • "Jugendhilfe – und dann?: Zur Gestaltung der Übergänge junger Erwachsener aus stationären Erziehungshilfen – Ein Arbeitsbuch“, von Britta Sievers / Severin Thomas / Maren Zeller, ISBN 978-3925146862
  • "Bildung zwischen Heimerziehung und Schule" von Stefan Köngeter / Katharina Mangold / Benjamin Strahl, ISBN 978-3779933632

Veranstaltungen und Materialien:

  • Fachtagung <link https: www.jugendhilfeportal.de hze artikel junge-erwachsene-in-der-jugendhilfe-fachtagung-in-duesseldorf external-link-new-window zur>"Junge Erwachsene in der Jugendhilfe" in Düsseldorf (Anmeldeschluss: 15. November 2016)
  • Dokumentation <link http: careleaver-online.de wp-content uploads dokumentation-care-leaver-hearing-final-web.pdf external-link-new-window leaver anhörung im>"Auf sich allein gestellt! Was kommt nach der Heimerziehung?" (PDF, 1,2 MB) der Care Leaver-Anhörung im BMFSFJ
  • Berichterstattung <link https: www.careleaver.de wp-content uploads pm_-djhp2016.pdf external-link-new-window zur>"Praxispreis des Deutschen Kinder- und Jugendhilfepreises 2016“ an Careleaver e.V.
  • Flyer <link https: www.jugendhilfeportal.de material jugendhilfe-und-dann-care-leaver-haben-rechte external-link-new-window informationsflyer>"Jugendhilfe – und dann?"
  • Broschüre <link https: www.jugendhilfeportal.de material durchblick-infos-fuer-deinen-weg-aus-der-jugendhilfe-ins-erwachsenenleben external-link-new-window>"Durchblick. Infos für deinen Weg aus der Jugendhilfe ins Erwachsenenleben" des Care-Leaver-Projekts der IGfH und der Universität Hildesheim
  • Diskussionspapier <link https: www.jugendhilfeportal.de material junge-volljaehrige-nach-der-stationaeren-hilfe-zur-erziehung-diskussionspapier-der-arbeitsgemeinschaf external-link-new-window zur care>"Junge Volljährige nach der stationären Hilfe zur Erziehung. Leaving Care als eine dringende fach- und sozialpolitische Herausforderung in Deutschland" der AGJ

Quelle: Benjamin Strahl auf der ConSozial 2016 am 27.10.2016 / IGfH / Universität Hildesheim

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