Hilfen zur Erziehung

ASD – mehr als Kinderschutz

Ziele, Aufgaben, Methoden, Werte und Orientierung im Hinblick auf die Kinder- und Jugendhilfe Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

01.11.2010

Der Allgemeine Soziale Dienst (ASD)1 erlebt - nicht zuletzt ausgelöst durch die öffentliche Debatte um den Kinderschutz - einerseits eine verstärkte Aufmerksamkeit, andererseits eine steigende Belastung durch zusätzliche Aufgaben (wie Umsetzung des FamFG, Umsetzung der Kontrolle der Früherkennungsuntersuchungen für Kinder, Entwicklung von Frühen Hilfen) oder sich verändernde Anforderungen. Der ASD ist als „Basisdienst“ für die Menschen vor Ort in den Kommunen verantwortlich für vielfältige soziale Hilfeleistungen und erfüllt darüber hinaus auch hoheitliche Aufgaben. Neben den Aufgaben im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe ist der ASD manchmal auch in den Bereichen der Sozial- und Gesundheitshilfe mit unterschiedlichen Aufgabenschwerpunkten zuständig. 

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ konzentriert sich im Folgenden auf die Aufgaben des ASD im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe. Sie möchte mit dem vorliegenden Diskussionspapier aktuelle fachliche Profilierungen im ASD herausarbeiten und einen Beitrag zur Fachdebatte über alte und neue Herausforderungen in diesem Bereich leisten und damit notwendige Veränderungen anstoßen.

I. Organisation und Aufgaben

Der ASD ist als Organisationseinheit in den unterschiedlichsten Leistungsbereichen der sozialen Arbeit und flächendeckend in allen Städten und Landkreisen in Deutschland zu finden. Er unterliegt der kommunalen Selbstverwaltung, seine Organisation und Aufgabenstellung orientiert sich an konzeptionellen, rechtlichen, personellen, finanziellen, strukturellen und nicht zuletzt politischen Gegebenheiten bzw. Zweckmäßigkeitsaspekten in der jeweiligen Kommune.
In den letzten Jahrzehnten hat der ASD, soweit er Teil eines kommunalen Jugendamtes (oder fachaufsichtsrechtlich ihm zugeordnet) ist, ein besonderes Profil entwickelt: er ist als Basisdienst, soweit es um die Abgrenzung zu speziellen Diensten geht, keineswegs auf die Sozialadministration beschränkt, sondern hat in hohem Maße (sozial-)pädagogische Fachkompetenz einzubringen. Er ist der zentrale Dienst für Familien in Krisen und verantwortet die Planung und Kontrolle von Hilfeprozessen. Der Facettenreichtum des Aufgabenprofils des ASD ist umfangreich: Neben der Beratung zur Förderung der Erziehung in der Familie, dem Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung und Maßnahmen zum Schutz von Kindern sowie den Hilfen zur Erziehung gehört auch die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, die Hilfe für junge Volljährige, die Adoptionsvermittlung, die Jugendgerichtshilfe und die Mitwirkung in Verfahren vor den Familiengerichten zu den (möglichen) Aufgaben eines ASD. Dieser ist präventiv tätig und beteiligt sich an der Entwicklung neuer Hilfe- und Schutzkonzepte sowie sozialräumlicher Arbeit. Dadurch nimmt er vielfach zentrale Steuerungsfunktionen des Jugendamtes wahr. In einigen Kommunen sind Aufgaben, die früher als Spezialdienste des Jugendamtes organisiert waren, inzwischen in den ASD integriert worden, mancherorts ist aber auch die umgekehrte Entwicklung feststellbar.

Hinter dieser Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Organisation und Aufgabenzuschnitte gibt es originäre und unverwechselbare Aufgaben, Prinzipien und Methoden des ASD (siehe Abschnitt II).
Nahezu alle ASDs arbeiten mit dem Sozialraumprinzip, d. h. jede sozialpädagogische Fachkraft deckt in einem räumlich definierten Bereich alle dem ASD zugeordneten Aufgaben ab. Darüber hinaus ist der ASD gekennzeichnet durch das Prinzip der „aufsuchenden Arbeit“ und der Vernetzung mit den wichtigsten Kooperationspartnern im jeweiligen Sozialraum und dies sind weit mehr, als der Kontext von Beratung und Erziehungshilfen auf den ersten Blick vermuten lässt (siehe Abschnitt II Punkt 9). In diesem Kontext hat die Fachkraft des ASD neben der eigenen Beratungsfunktion immer auch die eines Fallmanagers bzw. einer Fallmanagerin inne, der/die andere mobilisiert und deren Einsatz organisiert. Auch wenn zur Bearbeitung von Problemlagen und zur Unterstützung der Adressaten die Angebote anderer Dienste und Stellen herangezogen werden, bleibt die Letztverantwortung für die Hilfe beim ASD. Dieser ist gleichzeitig mit verschiedenen Kontrollaufgaben, insbesondere im Hinblick auf mögliche Kindeswohlgefährdungen, betraut.

II. Leistungen und Herausforderungen

Trotz der kommunalen Unterschiede bei Organisation, Personalausstattung und Aufgabenzuschnitten der ASDs lassen sich folgende bundesweit geltenden Herausforderungen im ASD beschreiben:

1) Qualität und Personal

Der ASD ist – abgesehen von den rein administrativen Aufgaben – der personalintensivste Bereich in den Jugendämtern. Ende 2006 wurden hier bundesweit rund 8.100 Beschäftigte gezählt2; dies entspricht, bezogen auf das Gesamtpersonal der Jugendämter, einem Anteil von 24% (rechnet man das Personal mit „reinen“ Verwaltungsaufgaben sowie im hauswirtschaftlich-technischen Bereich heraus, so sind es mit fast 36% sogar mehr als ein Drittel). Das Qualifikationsprofil der Fachkräfte streut innerhalb des ASD deutlich weniger als in anderen Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe. So sind immerhin fast 92% der Beschäftigten an einer Fachhochschule oder Universität ausgebildete Sozialarbeiter oder Sozialpädagoginnen.

Wirft man einen Blick auf das Alter der Beschäftigten, ist zu konstatieren, dass nur knapp 10% der hier tätigen Personen unter 30 Jahre alt sind und weniger als 20% sich in der Altersspanne zwischen 30 und 40 Jahren bewegen. Insgesamt ist das ASD-Personal in der Regel älter als in anderen Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe3. Die Altersstruktur und die hohe Fluktuation4, insbesondere der jüngeren Beschäftigten stellen besondere Herausforderungen für ASD-Leitungen dar, vor allem im Kontext von fachlicher Weiterentwicklung, Motivation der Fachkräfte, Teamentwicklung und Generationenkonflikt. Da 75% der Beschäftigten im ASD Frauen sind, stellt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch immer eine weitere Herausforderung dar.

Ausgehend von der steigenden Zahl an Überlastungsanzeigen im Bereich des ASD5 und den quantitativen und qualitativ ermittelten Einzelbelastungen kann eine überdurchschnittliche gesundheitliche, insbesondere psychische Belastung festgestellt werden, die bei einem Großteil der ASD-Fachkräfte zur Störung der „Work-Life-Balance“ führt6. Obwohl mancherorts - nicht zuletzt aufgrund der gewachsenen Bedeutung des Kinderschutzes - ein vereinzelt erheblicher Stellenzuwachs im ASD zu verzeichnen ist, entspannt sich die Personalsituation nicht immer7. Belastend sind vor allem die vielfach unvermeidlichen Entscheidungsunsicherheiten, insbesondere in Kinderschutzfällen, sowie die Unvorhersehbarkeit der zu lösenden Probleme. Darüber hinaus bestimmen immer mehr Koordinations- und Dokumentationsaufgaben ihre Arbeit, wobei für mittel- bzw. langfristige Beratungs- und Betreuungsarbeit weniger Zeit bleibt. Insgesamt ist eine belastende Verdichtung der Arbeit festzustellen.
Die ASD-Fachkräfte benötigen ein sehr breites Spektrum an (Handlungs-)Wissen (in pädagogischer, psychologischer und rechtlicher Hinsicht), sowohl bezogen auf schwierige Einzelfälle als auch auf gesellschaftliche Entwicklungen, die die Lebenslagen der Adressatinnen und Adressaten prägen. Es bedarf spezifischer Qualifizierung der ASD-Tätigkeit sowie entsprechender gezielter Personalentwicklungskonzepte und insbesondere Angebote für Berufseinsteigerinnen und -einsteiger. Notwendig ist ferner eine angemessene Wertschätzung und Anerkennung der schwierigen und verantwortungsvollen Arbeit durch Arbeitgeber und Vorgesetzte, aber auch durch Politik, Öffentlichkeit und Medien8.

2) Zunahme komplexer Problemlagen

Der ASD ist ein wichtiger Sensor der Kommunalverwaltung für die soziale Situation im Gemeinwesen. Dadurch ist er von aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen unmittelbar tangiert. Reformen in der Sozialgesetzgebung beeinflussen seine Aufgaben(bereiche) und seine Organisation(sstruktur) sowie die Methoden der Aufgabenwahrnehmung. So hatte der ASD in den letzten Jahren vielfache Neuerungen zu bewältigen und neue rechtliche Vorgaben in seine Praxis zu integrieren (z. B. § 8a SGB VIII, FamFG § 1666 BGB). Gleichzeitig steigen die Ansprüche sowohl der Adressaten als auch der gesellschaftlichen Auftraggeber an den ASD. Er soll den hoch komplexen Anforderungen bei gleichbleibender Zuverlässigkeit noch professioneller und schneller gerecht werden. Zudem steigen die Fallzahlen kontinuierlich und der finanzielle Spielraum wird - u. a. aufgrund der Finanzkrise - enger.

Abgesehen von der Herausforderung, mit Kinderarmut bzw. der wachsenden Armut von Familien und ihren Folgen, der Häufung sozialer Risiken, umzugehen, sind die Fachkräfte zusätzlich belastet durch „eine Zunahme besonders komplexer Hilfebedarfe“9. Hier sind exemplarisch zu nennen die wachsende Anzahl von Eltern mit psychischen Erkrankungen, mehrfach belastete Familien, die abgesehen von Hilfen zur Unterstützung bei der Erziehung ihrer Kinder einen erheblich weitergehenden Hilfebedarf haben, sowie der Umgang mit Migrantenfamilien und deren besonderen Problemlagen. Weiterhin ist eine Zunahme der Anzahl von Meldungen auf Verdacht von Kindeswohlgefährdung zu verzeichnen. Solche Meldungen führen bei den Fachkräften zu einem anspruchsvollen Abwägungsprozess der Gefährdungseinschätzung und einer emotional belastenden Entscheidungssituation und beinhalten ein hohes Maß an Verantwortung. Ob häusliche Gewalt und Aggression in Familien, ob Sucht oder Vernachlässigung, die Zuständigkeit des ASD für soziale Problemlagen von Kindern und Jugendlichen und ihrer Familien bleibt bestehen.

Das breite Aufgabenspektrum, die implizit und explizit zugeschriebenen, auch divergierenden Aufträge, die vielfältigen Problemlagen und oftmals widersprüchlichen externen sowie internen Erwartungen sowie das eigene Fachverständnis kennzeichnen in besonderem Maße die ASD-Arbeit. Damit die Fachkräfte diesen fachlichen und persönlichen Herausforderungen gewachsen sind, bedarf es einerseits kontinuierlicher struktureller Weiterentwicklungen in der Organisation. Andererseits ist eine systematische Reflektion fachlichen Handelns notwendig.

3) Rollenerwartungen und Profilbildung

Die verwaltungsinternen Aufträge an die Fachkräfte im ASD werden von unterschiedlichen Seiten erteilt und sind nicht selten widersprüchlich. Aufträge können zum Beispiel sein: einen bürgerfreundlichen niederschwelligen Zugang zu gewährleisten, umfassend über Leistungen zu beraten, Hilfesysteme zu aktivieren, vertrauensvolle Beratungsbeziehungen aufzubauen und immer die angemessene Beteiligung aller Akteure zu gewährleisten. Diese Aufträge können kollidieren mit Anforderungen an einen sparsamen Ressourceneinsatz, einen hohen Arbeitseinsatz, niedrigen Zeitbedarf und hohe Erfolgsquoten bei Beratung, Einleitung und Steuerung der Hilfen.

Auch die Erwartungen der Familien, Fachdienste und Kooperationspartner an den ASD und damit auch die Rollenerwartungen an die einzelnen Fachkräfte sind vielfältig, widersprüchlich oder auch von unrealistischen Hoffnungen oder Ängsten bestimmt. Prägend für das berufliche Selbstverständnis ist daher auch, in wie weit Möglichkeiten geboten und genutzt werden, eigene berufliche Haltungen, fachliche Interventionen und Entscheidungen regelmäßig zu reflektieren.

Der ASD als Fachdienst vor Ort braucht ein eigenes Konzept, sowie ein klares, nach innen und außen abgestimmtes und kommuniziertes Profil. Der kommunale Kontext verbunden mit dem (sozial- und jugendhilfe-)politischen Willen und den spezifischen Zielsetzungen in der Kommune bildet die Rahmung für ein solches Profil. In die Entwicklung des eigenen ASD-Konzepts sollten neben den verantwortlichen Leitungskräften immer auch die Fachkräfte eingebunden sein. Der Prozess der Konzeptdiskussion und -entwicklung bietet Chancen der Identitätsstiftung innerhalb des ASD und innerhalb der Verwaltung sowie der Reflexion und ggf. Korrektur eingefahrener Verfahren und Standards. Ein ASD mit einem formulierten und abgestimmten eigenen Profil erhöht für die Fachkräfte Orientierung und Klarheit bezogen auf die Aufgaben, die Aufträge und die Rollen und wäre somit auch Bestandteil einer laufenden Qualitätsentwicklung.

4) Ressourcenverantwortung und -steuerung

Die Fachkräfte des ASD bewältigen die oben beschriebenen vielfältigen Problemlagen und Aufgaben mit knappen personellen und teilweise finanziellen Ressourcen der Kommunen. Sie befinden sich nicht selten in einem Dilemma zwischen dem Hilfe- und Unterstützungsbedarf der Eltern, Kinder und Jugendlichen und dem Druck zur Kostenreduzierung. Es ist zu überprüfen, inwieweit sich dieses Spannungsfeld zwischen dem gesetzlichen Leistungsauftrag und den verfügbaren, begrenzten Ressourcen auf die fachlichen Lösungen und Entscheidungen der Fachkräfte nachteilig auswirkt. Weiter bedürfen die durch den ASD zu treffenden Entscheidungen über die Eignung und Erforderlichkeit von Leistungen nachvollziehbarer Argumente und Begründungen.
Eine besondere Herausforderung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ASD ist darüber hinaus die in einem Teil der Kommunen vorgenommene Zusammenlegung von Fach- und Ressourcenverantwortung. Falls der ASD als Organisationseinheit gleichzeitig Budgetverantwortung trägt, so muss er neben der fachlichen Ausgestaltung der Hilfen ggf. auch mit den Trägern der freien Kinder- und Jugendhilfe über Kostensätze verhandeln. Die mit dieser Steuerungsaufgabe geschaffenen Möglichkeiten des eigenverantwortlichen Umgangs mit Ressourcen werden von den Fachkräften des ASD in der Regel positiv bewertet. Um die damit einhergehende Rolle des „Verhandlungsführers“ auszufüllen, bedarf es einer gezielten Qualifizierung des ASD.

5) Unterstützung und Schutzauftrag

Zentrale und originäre Aufgaben des ASD sind einerseits die Beratung, Unterstützung und Entlastung der Adressatinnen und Adressaten (z. B. der Eltern bei den Aufgaben der Versorgung und Erziehung ihrer Kinder) und andererseits der Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Gefahren. Beide Aufgabenschwerpunkte sind gleichrangig und gleichermaßen als Hilfe zu verstehen10.

Die Schutzpflicht ist regelmäßig verbunden mit Kontrollkompetenzen. In den vergangenen Jahren sind wachsende Fallzahlen von vermuteten Kindeswohlgefährdungen, resultierend aus steigenden Belastungen familiärer Netzwerke mit Kleinkindern und den daraus entstehenden Konflikten zu verzeichnen. Mitverantwortlich für die gestiegenen Fallzahlen können aber auch verbesserte Zugangsmöglichkeiten zum Leistungsangebot der Kinder- und Jugendhilfe, einhergehend mit einer sich verändernden Wahrnehmung von Erziehungsdefiziten bei den am Hilfeprozess Beteiligten sein. Hierzu gehört sicherlich auch eine zunehmende Sensibilisierung des Jugendamtspersonals im Allgemeinen sowie der ASD-Fachkräfte im Besonderen. Darüber hinaus wird jedoch auch der Öffentlichkeit eine verstärkte Sensibilisierung und Verantwortungsübernahme bei Verdachtsfällen der Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung zugeschrieben, die sich in einem veränderten Meldeverhalten niederschlägt.

Mit Kenntnisnahme einer vermuteten Beeinträchtigung oder Gefährdung des Kindeswohls erfolgt durch die zuständige Fachkraft des ASD eine erste Gefährdungseinschätzung im direkten oder mittelbaren Kontakt mit dem Kind, den Sorgeberechtigten und anderen ggf. mit den Hilfeadressaten arbeitenden sozialen Unterstützungs- und Hilfesystemen. Auch nach Durchführung der ersten Schutz- und Hilfemaßnahmen bleibt die fallverantwortliche ASD-Fachkraft weiter unmittelbar für bestimmte Aufgaben zuständig (z. B. Durchführung des Hilfeplanverfahrens, Erstellung von Schutzkonzepten, Information des Familiengerichts und Stellung von Anträgen, Steuerung der Kooperationsprozesse bei Mehrfachhilfen).
Für die ASD-Fachkräfte stellt es oftmals eine besondere Herausforderung dar, den betroffenen Eltern, Kindern und Familien zu vermitteln, dass die von den Fachkräften eingeleiteten Interventionen ihrer Unterstützung und Hilfe dienen sollen. Dies gilt auch für Inobhutnahmen und Fremdplatzierungen. Die eigene Rollenklarheit und die Transparenz im Handeln sind hier notwendige Voraussetzungen, auch wenn die Aufgabenbereiche der Vermittlung von Hilfen und des Schutzes von Kindern nahezu fließend ineinander übergehen.

6) Fachkräfte als „Einzelkämpfer“ und Teamarbeiter

Trotz bestehender Teamstrukturen, Verfahrens- und Dokumentationsstandards ist die Fachkraft im ASD zunächst „Einzelkämpfer/in“ und alleinige/r verantwortliche/r Ansprechpartner/in für die jeweilige Familie. Die Zuständigkeiten sind innerhalb der Organisation in der Regel nach regionalen Kriterien festgelegt. Ein Wunsch- und Wahlrecht der Ratsuchenden in Bezug auf eine bestimmte Fachkraft besteht nicht.

Wann „ein Fall zum Fall wird“ und somit den jeweiligen Verfahrens- und Bearbeitungsstandards unterliegt, entscheidet die zuständige Fachkraft. Insbesondere im präventiven Bereich, bevor Hinweise auf Hilfebedarf vorliegen, spielen neben den fachlichen auch individuelle Einschätzungen der einzelnen Fachkraft eine wesentliche Rolle. Sie bestimmt, ob und wenn ja welche Hilfe-, Unterstützungs- und Teilhabemöglichkeiten eröffnet werden. Diese Professionalität muss durch die regelmäßige Auseinandersetzung im Team, im Rahmen einer Fachgruppe, oder auch im gesamten ASD mit aktuellen Fachdiskussionen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem eigenen Selbstverständnis und ggf. durch die Vereinbarung verbindlicher Standards und Verfahren unterstützt werden. Dies sind wichtige Elemente der Qualifizierung des fachlichen Handelns - neben einer regelmäßigen Supervision und Fortbildung für alle Fachkräfte.

Insbesondere im Rahmen von Hilfen nach §§ 27 ff. SGB VIII, im Rahmen des Schutzauftrags nach §§ 8a und 42 SGB VIII oder etwa bei Verfahren beim Familiengericht (§ 1666 BGB) sind in der Regel Reflexion und Beratung im (kollegialen) Team, die Einbeziehung weiterer Fachkräfte und / oder auch der Leitung verbindlich vorgesehen. Qualifizierte Fallberatung im Team erfordert eine systematische Vor- und Aufbereitung des „Falls“ durch die verantwortliche Fachkraft, ebenso abgestimmte fachliche Konzepte einer strukturierten Fallberatung und -entscheidung. In Krisensituationen und bei der Klärung gewichtiger Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls ist es erforderlich, eine zweite Fachkraft hinzuzuziehen. Dies erfordert bereits im Vorfeld eine gute Vorbereitung und Abstimmung hinsichtlich der jeweiligen Aufgaben.

Komplexe Familienkonstellationen, z. B. mit mehreren Hilfen, latenten Gefährdungssituationen für ein Kind, wenig bis keiner Mitwirkungsbereitschaft der Sorgeberechtigten, unklaren oder sehr ausgeprägten Problemlagen sowie psychischen Erkrankungen in der Familie erfordern die Einbeziehung weiterer Fachdienste aus unterschiedlichen Disziplinen (siehe Abschnitt II Punkt 9).

Die Komplexität der fachlichen Entscheidungen im ASD unterstreicht die besondere Bedeutung der Teamarbeit. Für eine fachlich-qualifizierte Teamkooperation einschließlich einer damit einhergehenden Diskussionskultur müssen die nötigen Zeitkontingente und Kompetenzen zur Verfügung stehen bzw. entwickelt werden.

7) Bürokratisierung und Dokumentationspflichten

Die Organisation des ASD muss dafür sorgen, dass nachvollziehbar ist, was zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis geleistet wurde. Der Ressourceneinsatz für erbrachte Leistungen im Verhältnis von Kosten und Aufwand sollte dargestellt werden, ebenso sollte nachvollziehbar sein, welche Standards vereinbart und zuverlässig eingehalten wurden. So wird eine fachliche Steuerung unterstützt und so kann über Verfahren des Fachcontrollings die Wirksamkeit der Maßnahmen und Hilfen überprüft und nachgehalten sowie im Rahmen von Jugendhilfeplanung auf die Angebotsausgestaltung bzw. auf die soziale Infrastruktur im Gemeinwesen Einfluss genommen werden. Gerade am Beispiel der in jüngerer Zeit bekannt gewordenen und vielfach diskutierten dramatischen Fälle von Kindeswohlgefährdung bis hin zum Tod von Kindern wird im Hinblick auf die größer gewordene Mobilität der Bürgerinnen und Bürger deutlich, dass für Fallübergaben an andere Dienste eine Dokumentation des Sachverhalts und des bisherigen Vorgehens absolute Notwendigkeiten sind.

Der von ASD-Fachkräften beklagte hohe zeitliche Aufwand für Dokumentationstätigkeiten weist darauf hin, dass die Entwicklung effektiverer Verfahren zur Dokumentation des fachlichen Handelns angezeigt erscheint, wobei die Transparenz sozialarbeiterischen Handelns ihren zentralen Stellenwert behalten muss11. Für eine EDV-gestützte reibungslose Dokumentation werden EDV-Programme benötigt, die speziell für diese Tätigkeit entwickelt und funktional abgestimmt sind. Ziel ist die Kompatibilität und Verzahnung der eingesetzten Programme, um unnötige Mehr- und Doppelarbeit zu vermeiden.

8) Beratung und Fallsteuerung

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Arbeit des ASD haben sich in den letzten Jahrzehnten gravierend verändert. Das früher oft vorhandene Verständnis von ASD-Arbeit als fallbezogene Korrektur abweichender Verhaltensmuster, mit im positiven Sinne fürsorgerischen Anteilen, um Menschen wieder erfolgreich in die Gesellschaft zu integrieren, ist kaum noch vorhanden. Dieser Normen- und Verhaltenskonsens ist gesellschaftlichen Lebensverhältnissen gewichen, die gekennzeichnet sind durch plurale Lebenssituationen, individualisierte Werte- und Normenvielfalt sowie die Notwendigkeit, sich ständig für neue Weichenstellungen in der eigenen Lebensplanung zu entscheiden. Damit ist das Risiko von Fehlentscheidungen verbunden, die die Wege eigener Lebensplanung verbauen und somit zur gesellschaftlichen Desintegration beitragen. Die Arbeit des ASD hat in diesem Zusammenhang den Auftrag, zu einem Begleiter bei der Erreichung der jeweils individuellen „Normalisierungsperspektive“ zu werden. Auf Grund der Komplexität der Problemlagen müssen die Fachkräfte in den Sozialen Diensten sich professionalisieren als kompetente und umfassend fachkundige engagierte Berater/innen für die jeweilige, individuell passende "Hilfe zur Selbsthilfe". Diese veränderte Professionalitätsanforderung an den ASD benötigt angemessene Handlungsansätze mit entsprechender methodischer Unterfütterung. So gewinnen beispielsweise Methoden des Case Management in Jugendämtern immer größere Bedeutung. Case Management erfordert das Verstehen der Problem- und Lebenssituation der Adressaten, umfassende fachliche Methodenkenntnisse, eine genaue Analyse der individuellen und Umweltressourcen der Menschen und die Bereitschaft, sich auf die vielfältigen individuellen Lebensentwürfe und -welten einzulassen, ohne dabei das eigene Profil und den persönlichen und fachlichen Standpunkt zu verlieren. Schon in der Ausbildung, aber auch in der Fort- und Weiterbildung sollte auf dieses veränderte Aufgabenprofil vorbereitet werden.

9) Kooperationen und Vernetzungen

Den ASD zeichnet als Basisdienst in der Kommune unter anderem eine gute Erreichbarkeit für die Familien im Quartier durch dezentrale Standorte, Außenstellen und die sog. „Gehstruktur“ aus. Dem ASD, der vor Ort präsent ist, kommt hier als „Aushängeschild“ des Jugendamtes eine besondere öffentliche Bedeutung zu.

Die spezielle Beratungsqualität der Fachkräfte im ASD umfasst insbesondere die Aktivierung weiterer Unterstützungssysteme und Ressourcen im Sozialraum. Diese erfordert vielfältige Vernetzungsstrukturen und Kooperationen im Quartier und der Kommune. Der ASD erhält als Kooperationspartner eine ständig steigende Bedeutung. So sind seine Kenntnisse und Kompetenzen gefragt bei der Gestaltung der sozialen Dienstleistungsinfrastruktur des Sozialraums, und er soll sich in die Entwicklung der einzelfallübergreifenden ‚Frühen Hilfen’ einbringen. Immer häufiger wird er zum Partner anderer Jugendhilfebereiche auch außerhalb der Erziehungshilfen (wie z. B. Kindertagesstätten, Angebote der Kinder- und Jugendarbeit und der Familienbildung), sowie zu Bereichen über die Jugendhilfe hinaus, wie der Schule und (Aus)Bildung, den allgemeinen Beratungsdiensten, dem Gesundheitswesen oder der Polizei und den Gerichten. Ein wirksamer Kinderschutz gelingt beispielsweise nur dann, wenn verschiedene Institutionen, die mit Kindern und Eltern in risikoreichen Lebenssituationen zu tun haben, eng miteinander kooperieren.

Die Gestaltung verbindlicher Kooperationen braucht Zeit und Ressourcen und ist nicht nebenbei zu leisten. Neben dem gegenseitigen Kennenlernen einzelner Personen aus den verschiedenen Hilfesystemen und eingespielten Kontakten zwischen ihnen bedarf es einer zentralen Koordinierung, die Vereinbarungen von verbindlichen Kooperationen und die Gestaltung der Schnittstellen zwischen den Systemen unterstützt und begleitet. Die fallübergreifenden Kooperationsstrukturen und -standards in den unterschiedlichen Zusammenhängen müssen auf Leitungsebene aufgebaut, gepflegt und weiterentwickelt werden. Dies beinhaltet immer auch den Austausch zwischen den Kooperationspartnern über die jeweiligen (gesetzlichen) Aufgaben, politischen Aufträge, die fachlichen Zielsetzungen und Perspektiven, sowie fachliche, strukturelle und relevante personelle Entwicklungen. Aus einem solchen Austausch entstehende Strukturen und Standards bilden die Grundlage für eine Zusammenarbeit, aber auch für die Bestimmung ihrer Grenzen, z. B. resultierend aus dem beruflichen Selbstverständnis oder aus Datenschutzgründen für die Fachkräfte im Einzelfall und auch für übergreifende Vernetzungsstrukturen.

Die beschriebenen Standards und Strukturen für Kooperationen und Vernetzungen haben Auswirkungen auf Profil und „Rolle“ der ASD-Fachkraft: einerseits sollte dem Interesse der Fachkräfte Rechnung getragen werden, Familien / Personen möglichst lange selber zu begleiten, andererseits sollen sie eine federführende Funktion und Rolle in der Fallsteuerung gegenüber speziellen hilfeerbringenden Diensten ausüben. Je nach Konzept und Leistungsprofil ergeben sich sowohl neue methodische Anforderungen (Fallsteuerung) als auch weitergehende Fragen nach der angemessenen Gestaltung des organisatorischen und strukturellen Rahmens.

Fazit:

Der ASD ist die kommunale Organisationseinheit, die hoch komplexen Anforderungen und Erwartungen gerecht werden und stets kompetent, schnell und zuverlässig im Hinblick auf die Erfüllung ihrer zahlreichen Aufgaben handeln muss. In der Gestaltung des Sozialraums spielt der ASD eine zentrale Rolle, in dem er eine passgenaue Infrastruktur sozialer Dienstleistungen initiiert oder mitentwickelt und somit eine umfassende „Zukunftsaufgabe“ innerhalb der Kommunalverwaltung einnimmt.

Infolge der aktuellen Kinderschutzdebatte ist der ASD in die mediale Öffentlichkeit gelangt und leider vielfach auf die ihm - neben den zahlreichen anderen Aufgaben - obliegende Erfüllung des Schutzauftrages bei Kindeswohlgefährdung reduziert worden. Eine kontinuierliche Fachdebatte, die dem ASD die notwendige Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegenbringt und sich mit fachlichen Anforderungen, erforderlichen organisatorischen Rahmenbedingungen, politischen Ansprüchen und Professionsfragen beschäftigt, ist daher unerlässlich. Es muss deutlich gemacht werden, dass nicht nur Kinderschutz und Einzelfallhilfen in den Zuständigkeitsbereich des ASD fallen, sondern sein Aufgabenprofil viele darüber hinausgehende Facetten und Handlungsbereiche umfasst.

Der ASD braucht Unterstützung durch Akteure, die in die Belastungssituationen vor Ort nicht verstrickt sind und die einen genauen Blick haben für die Anforderungen und Bedarfe der aktuellen fachlichen Arbeit. Das vielerorts bestehende Missverhältnis von Anforderungen und personeller sowie finanzieller Ausstattung muss überwunden werden. Darüber hinaus benötigt der ASD mehr Unterstützung durch Wissenschaft und Forschung, die die Rolle und Funktion des ASD unter sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen beleuchtet.

Berlin, 28. Oktober 2010
Geschäftsführender Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ


1 Häufig existiert der ASD auch unter vergleichbaren Bezeichnungen, wie z. B. Kommunaler Sozialdienst.

2 KOMDAT Heft 1+2/08, S. 12.

3 KOMDAT a.a.O., S. 12.

4 Siehe Seckinger, M. „Überforderung im ASD“, Sozial Extra 9/10,2008; S. 41 ff..

5 Seckinger M., Gragert N., Peucker C., Pluto L. „Arbeitssituation und Personalbemessung im ASD - Ergebnisse einer bundesweiten Online-Befragung“, Deutsches Jugendinstitut, München 2008.

6 Siehe Ergebnisse des Projektes „Arbeitsschutz und Gefährdungsbeurteilung in der Sozialarbeit (Allgemeiner Sozialer Dienst) der Stadt Mannheim“: Rudow, B. „Überlastung im Amt. Macht Soziale Arbeit krank?“ in: Sozialmagazin 4/2010, S. 19.

7 AGJ-Positionspapier „Personal in der Kinder- und Jugendhilfe – Herausforderungen und Perspektiven“, Berlin, November 2008, S. 3.

8 Rudow, B. „Überlastung im Amt. Macht soziale Arbeit krank?“, a.a.O., S. 19.

9 Seckinger M., Gragert N., Peucker C., Pluto L. „Arbeitssituation und Personalbemessung im ASD - Ergebnisse einer bundesweiten Online-Befragung“, Deutsches Jugendinstitut, München 2008.

10 Vgl. Schone, Reinhold, Kontrolle als Element von Fachlichkeit in den sozialpädagogischen Diensten der Kinder- und Jugendhilfe, Expertise im Auftrag der AGJ, Berlin 2008.

11 Seckinger M., Gragert N., Peucker C., Pluto L. „Arbeitssituation und Personalbemessung im ASD - Ergebnisse einer bundesweiten Online-Befragung“, Deutsches Jugendinstitut, München 2008.

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