Hilfen zur Erziehung

AGJ-Positionspapier: Landesweite Beteiligungsgremien für junge Menschen in stationären Einrichtungen ermöglichen und fördern

Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ möchte mit dem vorliegenden Positionspapier den bundesweiten Ausbau und die Verstetigung landesweiter Interessenvertretungen von jungen Menschen aus stationären Angebotsformen befördern. Das Papier gibt einen Einblick in die Struktur, Konzeptmerkmale, inhaltliche Arbeit und Ziele der im Aufbau befindlichen und bereits bestehenden Interessenvertretungen in einzelnen Bundesländern. Weiter werden wesentliche Gelingensbedingungen nachhaltiger und wirkungskräftiger Interessenvertretung identifiziert.

02.06.2020

In den Bundesländern Bayern, Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz haben sich auf Landesebene Interessenvertretungen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in stationären Angebotsformen der Kinder- und Jugendhilfe gebildet, über die sie sich für ihre Rechte, Interessen und Bedarfe einsetzen können. Das Anliegen, landesweite Interessenvertretungen junger Menschen in stationären Hilfen zur Erziehung zu initiieren, wurde in den vergangenen Jahren insbesondere durch Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus den stationären Hilfen sowie von Care Leavern an die Verantwortlichen für die Hilfen zur Erziehung auf Landesebene herangetragen. Die AGJ begrüßt ausdrücklich, dass junge Menschen in Angeboten der stationären Hilfen zur Erziehung in den o.g. Bundesländern bereits von den verantwortlichen Akteur(inn)en in Politik, Verwaltung, bei Trägern und in Einrichtungen unterstützt werden, sich im Rahmen von strukturellen Interessenvertretungen auf Landesebene aktiv für ihre Rechte und Anliegen einzusetzen.

Das Positionspapier der AGJ mit dem Titel „Junge Menschen ernst nehmen! Die Vorzüge institutionalisierter Beteiligung und gelebter Beteiligungskultur auf Landesebene für junge Menschen in stationären Einrichtungen der Erziehungshilfe erschließen“ (PDF, 106 KB) setzt sich mit der Bedeutung der strukturellen Beteiligung und Selbstvertretung von jungen Menschen aus stationären Angebotsformen der Erziehungshilfe auseinander und gibt einen Einblick in die Struktur, Konzeptmerkmale, inhaltliche Arbeit und Ziele der im Aufbau befindlichen und bereits bestehenden Interessenvertretungen. Ebenso werden wesentliche Gelingensbedingungen nachhaltiger und wirkungskräftiger Interessenvertretung identifiziert.

Die AGJ fordert die Akteurinnen und Akteure auf landespolitischer Ebene, in der Kinder- und Jugendhilfe und in anderen Gesellschaftsbereichen auf, in ihrem jeweiligen Verantwortungs- und Zuständigkeitsbereich die Entwicklung, den Aufbau und die Verstetigung von landesweiten Beteiligungsgremien zu ermöglichen, zu unterstützen und zu fördern.

Die (strukturelle) Selbstvertretung junger Menschen als Recht und pädagogisches Prinzip

Kinder und Jugendliche haben Rechte! Hierzu gehört das Recht auf Beteiligung[2] an allen sie betreffenden Entscheidungen auf eine Art und Weise, die ihrem jeweiligen Alters- und Entwicklungsstand gerecht wird. Dieses Recht auf Mitsprache und Beteiligung (Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention – KRK) hat die fachöffentliche Debatte um die Mitbestimmung von jungen Menschen wesentlich befördert. Es ist als Grundprinzip der KRK bei der Auslegung und Anwendung aller Kinderrechte zu beachten und bringt ein Verständnis von jungen Menschen als aktive Mitglieder und Mitgestalter der Gesellschaft zum Ausdruck.[3]

Die verbindliche Umsetzung der Mitsprache und Beteiligung von Kindern und Jugendlichen als Recht und pädagogisches Prinzip ist in der Kinder- und Jugendhilfe eine wesentliche Grundvoraussetzung, um dem gesetzlichen Anspruch junger Menschen auf Förderung ihrer Entwicklung und Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit entsprechen zu können. Das SGB VIII hebt das Recht auf Beteiligung an mehreren Stellen deutlich hervor.

Lebendige Beteiligung und Selbstvertretung junger Menschen

Gerade in Angeboten der stationären Erziehungshilfe[4] ist die Verwirklichung einer lebendigen Beteiligung und Selbstvertretung junger Menschen von besonderer Bedeutung. Junge Menschen werden i.d.R. in stationären Einrichtungen der erzieherischen Hilfen betreut, weil sich ihre Familien in komplizierten Lebens- und Problemlagen befinden. Die stationäre Unterbringung ist i.d.R. längerfristig angelegt und greift im Leistungskanon der Hilfen zur Erziehung am intensivsten in die Lebenswelten und Entwicklungsverläufe von Kindern und Jugendlichen und ihren Familien ein.[5] Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe stellen somit für viele junge Menschen wichtige Lebensorte dar, in denen sie einen wesentlichen Teil ihres Alltags verbringen, in denen aber auch aufgrund ihrer strukturellen Verfasstheit (bspw. Wohnen in einer „zufälligen“ Gruppe mit hauptberuflichem Betreuungspersonal, Fluktuation/Wechsel der Mitbewohner/-innen und Fachkräfte; Arbeitszeiten/Schichtdienst der Fachkräfte und Mitarbeitenden) Spannungsverhältnisse erzeugt werden, die sich auf das Alltagsleben der betreuten jungen Menschen auswirken. Darüber hinaus werden Einrichtungen der stationären Erziehungshilfen häufig als relativ abgeschottete Systeme wahrgenommen, in die Außenstehende nur wenig oder kaum Einblick haben, was wiederum machtmissbrauchenden Strukturen Vorschub leisten kann. Um dem entgegentreten zu können, sind das Wissen und Kennen der eigenen Rechte sowie der Beteiligungs- und Beschwerdemöglichkeiten (auch außerhalb von Einrichtungen) für junge Menschen wichtige Schutzmechanismen.[6]

Ziel aller Bemühungen zur Förderung der Partizipation junger Menschen muss sein, Beteiligungsrechte nicht nur gesetzlich verankert zu wissen, sondern sie kontinuierlich im Hilfeprozess und im alltäglichen Leben von Kindern und Jugendlichen – also insbesondere auch in der stationären Einrichtung als ein bedeutsamer Lebensort – durchzusetzen und zu verwirklichen. Nur auf diesem Weg werden Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen tatsächlich Entscheidungsräume eröffnet. Gerade die Erfahrung von jungen Menschen das
(Alltags-)Leben weitreichend mitzugestalten und von Erwachsenen ernst genommen zu werden, trägt dazu bei, das eigene Leben zukünftig selbständig in die Hand nehmen zu können.

Voraussetzung: beteiligungsorientierte und beschwerdeoffene Haltung der Träger sowie der Leitungen und Fachkräfte

Für die Schaffung beteiligungsorientierter Strukturen sind zuvorderst die erwachsenen Akteurinnen und Akteure (bspw. Fachkräfte) verantwortlich, die bereit sein müssen, einen Teil ihrer Entscheidungsmacht an junge Menschen abzugeben.[7] Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist eine beteiligungsorientierte und beschwerdeoffene Haltung der Träger sowie der Leitungen und Fachkräfte der Einrichtungen.[8] Die Träger der öffentlichen und der freien Jugendhilfe stehen in der Verantwortung, dass die in Abhängigkeit der jeweiligen stationären Einrichtungen entwickelten Beteiligungs- und Beschwerdekonzepte als Qualitätsmerkmal und Teil der Organisationsentwicklung strukturell verankert, tatsächlich gelebt und stetig weiterentwickelt werden (u.a. Qualifizierung von Fachkräften, regelmäßig stattfindende Qualitätsentwicklungsgespräche innerhalb der Einrichtungen).[9]

Download

Das vollständige 17-seitige Positionspapier „Junge Menschen ernst nehmen! Die Vorzüge institutionalisierter Beteiligung und gelebter Beteiligungskultur auf Landesebene für junge Menschen in stationären Einrichtungen der Erziehungshilfe erschließen“ (PDF, 106 KB) steht zum Download auf den Seiten der AGJ zur Verfügung.

Neben den eingangs dargelegten Überlegungen zur (strukturellen) Selbstvertretung junger Menschen als Recht und pädagogisches Prinzip enthält das Papier Ausführungen zu folgenden Inhaltspunkten:

  • Struktur, inhaltliche Schwerpunkte und gemeinsame Ziele der landesweiten Interessenvertretungen
  • Gelingensfaktoren für den Aufbau und die kontinuierliche Verstetigung landesweiter Interessenvertretungen
  • Besondere Herausforderungen für den Aufbau und die kontinuierliche Verstetigung von landesweiten Interessenvertretungen

Abgerundet wird das Papier durch Forderungen und Positionierungen der AGJ unter den Überschriften "Verantwortung wahrnehmen – Zugänge schaffen, Ressourcen bereitstellen und sichern", "Kooperationen und Vernetzung fördern" und "In die Zukunft denken – Beteiligungsstrukturen für alle stationär untergebrachten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen öffnen".

Ansprechperson für dieses Positionspapier in der AGJ ist die zuständige Referentin des Arbeitsfeldes VI „Hilfen zur Erziehung, Familienunterstützende und Sozialpädagogische Dienste“: Monique Sturm

Quelle: Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Fußnoten
[2] Im Papier werden die Begriffe Partizipation und Beteiligung synonym verwendet. Partizipation bzw. Beteiligung wird dabei verstanden als der komplementäre Prozess eines wirksamen Einbezugs in Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse der Lebensgestaltung durch (politisch) verantwortliche Akteure als auch die aktive Mitwirkung an den jeweiligen Prozessen.
[3] Eine gelebte Mitsprache und Beteiligung von Kindern und Jugendlichen setzt Standards, wie bspw. alters- und entwicklungsgerechte Methoden, Informationen und Transparenz voraus, die in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 12 zur KRK näher dargelegt sind.  
[4] Auf den Begriff „Heimerziehung“ wird in diesem Positionspapier, trotz der Verwendung in § 34 VIII, verzichtet, da dieser von den betroffenen jungen Menschen und Eltern oftmals als stigmatisierend empfunden wird (vgl.: Günder, R.: (2015): Praxis und Methoden der Heimerziehung. Entwicklungen, Veränderungen und Perspektiven der stationären Erziehungshilfe, 5., überarbeitete und ergänzte Auflage, Freiburg im Breisgau, S. 65). Im Papier wird daher auch nicht der teils noch gängige Begriff „Landesheimbeiräte“ verwandt.
[5] Ausnahmen hiervon können z. B. sein: kurzfristige Notaufnahme (betroffener junger Mensch kehrt nach Beseitigung des Notzustandes wieder in die Familie zurück) oder ein für kurze Zeit geplanter Aufenthalt in einer stationären Einrichtung mit dem Ziel der vorbereitenden Vermittlung in eine Pflegefamilie.
[6] Vgl.: AGJ-Positionspapier (2019): Das Verhältnis von Kinderschutz und Hilfen zur Erziehung – Tendenzen und Auswirkungen, S. 16. Online abrufbar unter: www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2019/Kinderschutz_und_Hilfen_zur_Erziehung.pdf
[7] Vgl: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg., 2015): Qualitätsstandards für die Beteiligung in den erzieherischen Hilfen, In: Qualitätsstandards für Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Allgemeine Qualitätsstandards und Empfehlungen für die Praxisfelder Kindertageseinrichtungen, Schule, Kommune, Kinder- und Jugendarbeit und Erzieherische Hilfen, S. 7. Online abrufbar unter: www.bmfsfj.de/blob/94118/c49d4097174e67464b56a5365bc8602f/kindergerechtes-deutschland-broschuere-qualitaetsstandards-data.pdf
[8] Ergebnisse des Forschungsprojektes „BIBEK – Bedingungen und Implementierung von Beschwerdeverfahren in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe“ (2011-2012) weisen darauf hin, dass vor allem in Einrichtungen, in welchen Mitarbeitende als auch die Organisationsstruktur die „Erlaubnis zur Beschwerde“ ausdrücken, bestehende Beschwerdeverfahren tatsächlich von Kindern, Jugendlichen und Fachkräften genutzt werden. Vgl. hierzu:  P. Sandermann, U. Urban-Stahl (2017): Beschwerde, Ombudschaft und die Kinder- und Jugendhilfe. Begriffliche, konzeptionelle, organisationale und diskursive Differenzierungen. In: C. Equit, G. Flößer, M. Witzel (Hg): Beteiligung und Beschwerde in der Heimerziehung. Grundlagen, Anforderungen und Perspektiven. Frankfurt/Main, S. 35 ff..
[9] Vgl: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg., 2015): Qualitätsstandards für die Beteiligung in den erzieherischen Hilfen, In: Qualitätsstandards für Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Allgemeine Qualitätsstandards und Empfehlungen für die Praxisfelder Kindertageseinrichtungen, Schule, Kommune, Kinder- und Jugendarbeit und Erzieherische Hilfen, S. 46 ff..Quellcode

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