Sozialforschung

Wie Sorgearbeit aufgewertet und gerechter verteilt werden kann – das „Optionszeitenmodell“

Forschende des Deutschen Jugendinstituts (DJI) und der Universität Bremen empfehlen, dass alle Menschen ein Recht auf eine etwa neunjährige Auszeit im Berufsleben bekommen, um Kinder zu betreuen, Alte zu pflegen und sich selbst fortzubilden. Für die Umsetzung dieses „Optionszeitenmodells“ müssten verschiedene Voraussetzung geschaffen werden.

09.04.2020

Die Corona-Krise rückt in den Fokus, was lange zu wenig Beachtung in Politik und Wirtschaft gefunden hat: die berufliche und private Sorgearbeit. Kinderbetreuung, Reinigungsarbeiten, Pflege von kranken und alten Angehörigen wird in Deutschland immer noch überwiegend von Frauen verrichtet – im Privaten ganz ohne Bezahlung. Dies hat viele negative Folgen: Frauen, die ihre Erwerbsarbeit reduzieren, haben Nachteile auf dem Arbeitsmarkt und bei ihrer beruflichen Entwicklung sowie Einbußen bei Gehalt und Absicherung im Alter. Zudem wünschen sich Väter mehr Zeit für die Familie, während Mütter bei der Vielfalt an Aufgaben verstärkt mit Zeitkonflikten kämpfen.

Das „Optionszeitenmodell“

Dass Frauen und Männer neben ihrer Erwerbstätigkeit für andere sorgen können und diese Arbeit besser auf den Schultern beider Geschlechter verteilt wird, könnte ein neues sozialpolitisches Modell ermöglichen. Es wurde von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Deutschen Jugendinstituts (DJI) und der Universität Bremen in einem Forschungsprojekt entwickelt, das vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gefördert wurde.

Das „Optionszeitenmodell“ sieht vor, dass grundsätzlich allen Menschen in ihrem Erwerbsverlauf ein Zeitbudget von etwa neun Jahren zur Verfügung steht, das es ihnen ermöglichen soll, ihre Erwerbsarbeit zugunsten gesellschaftlich relevanter Tätigkeiten zu unterbrechen bzw. zu reduzieren und gleichzeitig während dieser Zeit finanziell abgesichert zu sein. Im Kern steht die Sorgearbeit, d.h. die Fürsorge für Kinder, Alte und Kranke, wobei diese nicht mit der Sorge leistenden Person verwandt sein müssen.

Voraussetzungen für eine Umsetzung des Modells

Das Zeitbudget wurde auf Grundlage von empirischen Daten zu Zeitverwendung und Zeitbedarf für einzelne Tätigkeiten berechnet. Die Optionszeiten sollen nach dem Vorschlag des interdisziplinären Teams aus Rechts- und Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern teils von Unternehmen, teils vom Staat und teils von den Arbeitenden selbst finanziert werden. Eine vom Parlament kontrollierte Instanz könnte das System verwalten.

„Das Optionszeitenmodell bedeutet den Abschied von der Norm der männlichen Erwerbsbiografie mit durchgängiger Vollzeitarbeit, die Unterbrechungen und Teilzeit als Abweichung kennzeichnet“, erklärt Dr. Karin Jurczyk, die das Forschungsprojekt „Selbstbestimmte Optionszeiten im Erwerbsverlauf“ am DJI und bis Ende 2019 auch die DJI-Familienabteilung leitete. Stattdessen sollten atmende Lebensläufe, also flexible Berufsbiografien, ermöglicht werden, damit beide Geschlechter dem zunehmenden Sorgebedarf in einer alternden Gesellschaft nachkommen können. Begleitet werden müsse das Optionszeitenmodell vom Ausbau guter Infrastruktur für Pflege und Kinderbetreuung sowie einer besseren Bezahlung der sozialen Berufe, betont Jurczyk: „Denn es geht nicht darum, Fürsorgearbeit wieder in die Hände der Familien zu verlagern, sondern um ein produktives Zusammenwirken von Staat, Markt und Gesellschaft“.

„Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht, die derzeit auf den drei chronologisch ablaufenden Phasen Bildung, Arbeit, Rente aufbauen, müssen an moderne Erwerbsbiografien angepasst werden, die ein kontinuierliches Fortbilden verlangen“, fordert der Jurist und Politikwissenschaftler Prof. em. Dr. Ulrich Mückenberger, Leiter des Forschungsprojekts an der Universität Bremen. Das Optionszeitenmodell berücksichtige deshalb nicht nur die Sorgearbeit, sondern auch Phasen der Weiterbildung und der persönlichen Selbstsorge.

Weitere Informationen

Von der Idee bis zum Forschungsprojekt

Erstmals in eine breitere Öffentlichkeit gebracht wurde das Konzept des Optionszeitenmodells mit dem siebten Familienbericht, der im Jahr 2006 unter dem Titel „Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit“ veröffentlicht wurde. Karin Jurczyk hat das Konzept dort stark gemacht. Sie war Mitglied der Sachverständigenkommission, die mit dem Verfassen des Berichts vom Bundesfamilienministerium beauftragt worden war. Später entwickelte Jurczyk gemeinsam mit Ulrich Mückenberger das Konzept weiter. Zentral dabei war eine Veranstaltung der „Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik“, deren Mitbegründer Mückenberger ist, im Jahr 2016. Danach arbeiteten die beiden Wissenschaftler das Konzept konkret im Rahmen des Forschungsprojekts „Selbstbestimmte Optionszeiten im Erwerbsverlauf“ aus. Dieses wurde von April 2017 bis Oktober 2018 im Rahmen des "Fördernetzwerks interdisziplinäre Sozialpolitikforschung" (FIS) vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gefördert.

Weitere Informationen zum Forschungsprojekt finden sich auf der Webseite des DJI.

Quelle: Deutsches Jugendinstitut e.V. vom 08.04.2020

Back to Top