Sozialforschung

Von harmlosen Predigten bis zum tödlichen Anschlag – Untersuchungen zur salafistischen Jugendszene

Ein selbst gebastelter Islam in einer WhatsApp-Gruppe hat junge Menschen systematisch radikalisiert. Eine Forschungsgruppe der Universitäten Osnabrück und Bielefeld hat das vollständige Chatprotokoll einer djihadistischen Gruppe analysiert und nun veröffentlicht. Die Studie ist eine der ersten empirischen Untersuchungen zur djihadistischen Jugendszene in Deutschland.

14.07.2017

Das Chat-Dokument enthält insgesamt 5.757 Postings von zeitweilig bis zu zwölf Gruppenmitgliedern. Die Postings zeigen die Kommunikation und Gruppendynamik unmittelbar vor einem geplanten Anschlag von jungen Menschen aus „normalen Verhältnissen“. Diese „natürlichen Daten“ vermitteln Informationen zu einer Vielzahl von Aspekten, die für die Radikalisierung wichtig sind: Die Gruppenstrukturen, ihre Hierarchie, die Dynamik und der Druck der Gruppe auf ihre Mitglieder, wie auch die Entwicklung einer so genannten „Lego“-Ideologie, die immer stärker die Gemeinsamkeiten und das Selbstbild der jungen Menschen prägt.

Kommunikation und Gruppendynamik

Die Studie des Forschungsnetzwerks Radikalisierung und Prävention (FNPR) der Universitäten Osnabrück und Bielefeld zeigt, dass die Gruppenmitglieder offenkundig nur über rudimentäre oder gar keine Islamkenntnisse verfügen. Selbst die Gestaltung einfachster ritueller Alltagshandlungen – wie zum Beispiel die Verrichtung des Pflichtgebets – ist Teilen der Gruppenmitglieder nicht bekannt. „In Gänze betrachtet konstruiert die Gruppe nach dem Baustein-Prinzip einen Gruppenkult, der in all seinen zentralen Aussagen auf Willkür beruht und als krude und einfältig bezeichnet werden kann“, stellt Dr. Michael Kiefer von der Universität Osnabrück fest. Er und sein Kollege Bacem Dziri haben auf der Grundlage einer islamtheologischen Analyse gezeigt, wie zentrale Figuren in der Gruppe geschickt eine Copy-und-Paste-Ideologie aus Koranversen und Botschaften djihadistischer Führer zusammengeschnitten haben. Zentral dabei ist von Anfang an die Gewaltorientierung.

Radikalisierung als Jugendkultur

„Die selbst erzeugte und nahezu perfekt durchorganisierte Radikalisierung der Gruppe sollte vor dem Hintergrund einer kritischen Jugendphase verstanden werden“, ergänzt Viktoria Roth aus Bielefeld. Jugend ist eine wichtige Phase des Übergangs zum Erwachsensein. Die Gesellschaft hat für diese Phase zentrale Entwicklungsaufgaben, wie zum Beispiel die Loslösung vom Elternhaus. „Das nutzen ideologisch hoch motivierte Personen aus, um Jugendliche in ihre extremistische Gruppe zu ziehen“, betont Fabian Srowig von der Universität Bielefeld. Die salafistisch geprägte Radikalisierung und ihre im Chat kommunizierten logistischen und spirituellen Anschlagsvorbereitungen sind Schritte auf dem Weg zum Erwachsensein. Was die Gruppe eint, ist vor allem die naive und romantisierende Vorstellung gemeinsam auf den Schlachtfeldern des Djihad zu stehen und dabei zum Mann zu werden.

Radikalisierungsprävention benötigt Wissenbasierung

In seinen abschließenden Empfehlungen fordert das Forschungsteam insbesondere eine Ausweitung der Feldforschung. „Die systematische und wissenschaftlich unabhängige Fallanalyse kann der Prävention helfen, weil sie frühe Ursachen entdecken kann“, meint Prof. Dr. Andreas Zick. „Bevor sich junge Menschen radikalisieren, werden Grundsteine dafür in der frühen Sozialisation gelegt“, fügt der Direktor des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld hinzu. Ferner benötigt die Radikalisierungsprävention eine solide Wissensbasierung. „Immer noch arbeiten zu viele Projekte in experimentellen Anordnungen. Es fehlt ein profundes Wissen über Radikalisierungsprozesse bei Jugendlichen“, mahnt Dr. Michael Kiefer vom Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück.

Weitere <link https: idw-online.de de news677983 external-link-new-window zur studie mit weiterführenden>Informationen über Studie und Autor/-innen stehen beim Informationsdienst Wissenschaft zur Verfügung. 

Quelle: Universität Osnabrück vom 10.07.2017

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