Sozialforschung

Teilhabeatlas Deutschland: Ungleichwertige Lebensverhältnisse und wie die Menschen sie wahrnehmen

Es ist ein erklärtes Ziel der Bundesregierung, für „gleichwertige Lebensverhältnisse“ in allen Teilen des Landes zu sorgen. Die neue Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung und der Wüstenrot Stiftung zeigt, wie weit die Wirklichkeit von diesem Wunsch entfernt ist. Die Analyse aller 401 Landkreise und kreisfreien Städte offenbart erhebliche Differenzen in den gesellschaftlichen Teilhabechancen ihrer Bewohner.

23.08.2019

Es macht einen großen Unterschied, ob die Menschen an der Küste im Norden, im Westen an Rhein und Ruhr, im Alpenvorland im Süden oder im Osten an Unstrut und Oder leben. Wie gut die Menschen in Deutschland am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, hängt zu einem guten Teil davon ab, wo sie wohnen. „Besonders gut sind die Chancen in Baden-Württemberg, in Teilen Bayerns und im südlichen Hessen“, sagt Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. „Nördlich davon bieten nur vereinzelte Regionen ihren Bewohnern vergleichbare Teilhabechancen, im Osten lediglich der berlinnahe Landkreis Dahme-Spreewald.“

Drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung hängen die meisten ostdeutschen Regionen noch in vielen Bereichen zurück. In fast allen ländlichen Kreisen, aber auch in den meisten ostdeutschen Städten müssen die Menschen mit geringeren Teilhabechancen leben. Dieses Schicksal teilen sie aber mit den Bewohnern einiger westdeutscher Städte, vor allem im Ruhrgebiet, aber auch im Südwesten von Rheinland-Pfalz, im Saarland sowie in Niedersachsen und Schleswig-Holstein.

Das ist das Ergebnis einer neuen Studie des Berlin-Instituts und der Wüstenrot Stiftung. Die Studie untersucht, welche gesellschaftlichen Teilhabechancen die 401 deutschen Landkreise und kreisfreien Städte ihren Bewohnern bieten. Gemessen wurde die Teilhabe anhand einer Reihe von Indikatoren wie der Quote von Sozialleistungsempfängern, der Höhe der Einkommen, der Verfügbarkeit schneller Internetzugänge oder der Erreichbarkeit von Ärzten, Supermärkten und weiteren alltäglichen Dienstleistungen.

Teilhabeatlas zeigt gut versorgte und abgehängte Regionen

Im Ergebnis zerfällt die Republik in sechs Bereiche, die sich in ihren Rahmenbedingungen ähneln: drei städtische und drei ländliche „Cluster“ mit jeweils guten, mäßigen und geringeren Teilhabechancen. Die daraus erstellte Landkarte, eine Art „Teilhabeatlas“, zeigt, „wo die gut versorgten und wo im Extremfall die ‚abgehängten‘ Regionen Deutschlands liegen“, so Stefan Krämer, stellvertretender Geschäftsführer der Wüstenrot Stiftung. „Deutlich erkennbar wird, wie wichtig eine differenzierte, diese Unterschiede aufgreifende Handlungsstrategie ist, gerade auch in der Politik.“

Subjektive Wahrnehmung objektiver Bedingungen

Aber wie nehmen die Menschen diese tatsächlichen Lebensbedingungen wahr – gleich, besser oder schlechter, als es die objektiven Zahlen erwarten lassen? Um die gefühlten Teilhabechancen mit den erhobenen Daten abzugleichen, sind die Forscherinnen und Forscher in 15 Regionen aus allen sechs Clustern gereist und haben insgesamt fast 300 Einzelinterviews und Gruppengespräche geführt: mit Bürgern und Politikern, mit Verwaltungsmitarbeitern, Wirtschafts- und Medienvertretern sowie mit Menschen, die ehrenamtlich oder hauptberuflich im sozialen Bereich arbeiten. Das Ergebnis ist zwar nicht repräsentativ, gibt aber einen guten Einblick in das Lebensgefühl vor Ort.

„In den Gesprächen zeigte sich, dass die Menschen ihre Lebensbedingungen weitgehend realistisch einschätzen“, fasst Manuel Slupina zusammen, Mitautor der Studie: „Mit den Unterschieden bei den Teilhabechancen gingen sie recht nüchtern und pragmatisch um.“ Je nach Wohnort haben sie auch andere Erwartungen an ihr Umfeld. Die befragten Landbewohner sind sich meist des Nachteils bewusst, dass sie zum Arbeiten pendeln müssen und für manche Erledigungen auf die nächste größere Stadt angewiesen sind. Trotzdem äußerten sie, dass sie gern dort leben.

Was die Wahrnehmung beeinflusst

Haben Bewohner das Gefühl, dass sich ihre Region positiv entwickelt, schätzen sie ihre persönliche Lage eher optimistisch ein. „Gerade dort, wo die Menschen nach einer langen Durststrecke wieder einen Aufwärtstrend verspüren, blicken die Befragten meist positiv in die Zukunft“, so Slupina. Umgekehrt äußerten Befragte das Gefühl, abgehängt zu sein, wo sie den Niedergang als chronisch erleben und wenig Perspektiven sehen. Dabei sind es oft Veränderungen im unmittelbaren Umfeld, welche die Einschätzung prägen: Wenn der Dorfladen schließt oder das Krankenhaus auf der Kippe steht, empfinden viele dies als problematisch – selbst wenn sich die Region als Ganze positiv entwickelt.

Ob auf dem Land oder in der Stadt, ob in einer Boom- oder Schrumpfregion, überall berichten Gesprächspartner von einer besonderen Bindung zu ihrer (Wahl-)Heimat. Wer sich einem Ort verbunden fühlt, ist eher bereit, sich zu engagieren und zur Verbesserung der Lebensbedingungen beizutragen. Zahlreiche Vereine, Bürgerbusse oder Dorfläden zeugen davon. In den besuchten ländlichen Regionen in Ostdeutschland stehen jedoch viele Befragte dem Gedanken, selbst die Initiative zu ergreifen, skeptisch gegenüber und glauben nicht, mit ihrem Einsatz etwas bewirken zu können. Missstände zu beheben sei Aufgabe der Politik.

Die Rolle der Politik

Erklärtes Ziel der Bundesregierung ist, für „gleichwertige Lebensverhältnisse“ in allen Teilen des Landes zu sorgen. „Sie hat allerdings bis heute nicht definiert, wie Gleichwertigkeit überhaupt auszusehen hätte“, moniert Klingholz. Das mache es nahezu unmöglich, ungleichwertige Lebensverhältnisse zu benennen, geschweige denn, Gleichwertigkeit herzustellen.

Ohnehin entwickeln sich die Regionen wirtschaftlich und demografisch sehr unterschiedlich und bringen oft grundlegend verschiedene Voraussetzungen mit. „Mit dem Versprechen von Gleichwertigkeit weckt die Politik Erwartungen, die sie nicht erfüllen kann“, so Klingholz: „Dies führt unweigerlich zu Enttäuschungen und weiteren Frustrationen.“ Stattdessen solle sie die Realität anerkennen und ihre eigenen Möglichkeiten nüchtern einschätzen. Aufgrund der Vielfalt der Lebensbedingungen muss sie nach Lösungen suchen, die sich an den jeweiligen regionalen Möglichkeiten und Bedürfnissen orientieren, um den Menschen überall im Land eine gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.

Publikation

Die Studie steht gratis zum Download auf den Internetseiten des Berlin-Instituts zur Verfügung. Ausgewählte Grafiken und weiterführende Informationen stehen dort ebenfalls zur Verfügung.

Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung

Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ist ein unabhängiger Thinktank, der sich mit Fragen regionaler und globaler demografischer Veränderungen beschäftigt. Das Institut wurde 2000 als gemeinnützige Stiftung gegründet und hat die Aufgabe, das Bewusstsein für den demografischen Wandel zu schärfen, nachhaltige Entwicklung zu fördern, neue Ideen in die Politik einzubringen und Konzepte zur Lösung demografischer und entwicklungspolitischer Probleme zu erarbeiten. In seinen Studien, Diskussions- und Hintergrundpapieren bereitet das Berlin-Institut wissenschaftliche Informationen für den politischen Entscheidungsprozess auf. Weitere Informationen unter: https://www.berlin-institut.org

Wüstenrot Stiftung

Die Wüstenrot Stiftung arbeitet ausschließlich und unmittelbar gemeinnützig in den Bereichen Denkmalpflege, Wissenschaft, Forschung, Bildung, Kunst und Kultur. Zwei Aufgaben stehen im Mittelpunkt aller Aktivitäten der Wüstenrot Stiftung: der richtige Umgang mit kulturellem Erbe und die Suche nach Wegen, wie sich unser Gemeinwesen den Herausforderungen der Zukunft stellen kann. Als operativ tätige Stiftung initiiert, konzipiert und realisiert die Wüstenrot Stiftung selbst Projekte und fördert darüber hinaus die Umsetzung herausragender Ideen und Projekte anderer Institutionen durch finanzielle Zuwendungen. Weitere Informationen unter: https://www.wuestenrot-stiftung.de

Quelle: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung vom 22.08.2019

Redaktion: Kerstin Boller

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