Sozialforschung

SVR-Gutachten: Sachverständigenrat vermisst zuwanderungspolitische Gesamtstrategie

Das Jahresgutachten "Deutschlands Wandel zum modernen Einwanderungsland" des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) bewertet die Migrations- und Integrationspolitik der letzten fünf Jahre.

08.05.2014

Mit dem vorgestellten Jahresgutachten legt der Sachverständigenrat eine bilanzierende Bewertung der Migrations- und Integrationspolitik der letzten fünf Jahre vor. Ein positives Fazit ziehen die Wissenschaftler bei der Zuwanderungssteuerung, vor allem bei der Arbeitsmigrationspolitik ist ein Paradigmenwechsel zu verzeichnen. „Deutschland hat sich hier vom ‚Außenseiter‘ zum ‚Musterschüler‘ entwickelt: Die gesetzlichen Zuzugsmöglichkeiten für Fachkräfte und Hochqualifizierte sind 2012 weitgehend gelockert worden und gehören nun zu den liberalsten in den westlichen Industriestaaten“, sagte Prof. Dr. Christine Langenfeld, Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). In wenigen Jahren sei hinsichtlich der Gesetzgebung ein Wandel von einem restriktiven zu einem liberalen Einwanderungsland erfolgt.

Trotz dieser insgesamt positiven Bewertung der Migrationspolitik bleibt aus Sicht des SVR ein Manko: Ein Dialog über eine zuwanderungspolitische Gesamtstrategie ist bislang noch nicht erfolgt. Es fehlt eine Migrationspolitik aus einem Guss, die auf qualifizierten Analysen zukünftiger Entwicklungen in den Bereichen Demografie, Ökonomie und Soziales basiert und die unterschiedlichen Wanderungsmotive (Arbeit, Studium, Flucht, Familiennachzug) nicht isoliert, sondern in der Gesamtschau betrachtet und steuert. „Ein Nationaler Aktionsplan Migration (NAM) könnte einen Beitrag zu einer solchen ganzheitlichen Migrationspolitik leisten“, erläuterte Langenfeld. „Der NAM wäre die einwanderungs- und integrationspolitische Visitenkarte Deutschlands und auch Grundlage für ein zuwanderungspolitisches Kommunikationskonzept. Die bemerkenswerten Neuerungen in der Migrationspolitik sind im Ausland noch viel zu wenig bekannt. Die Regelungen gehören nicht unter den Ladentisch, sondern endlich in das Schaufenster des Landes“, so die SVR-Vorsitzende.

Licht, aber auch viel Schatten erkennt der SVR im Integrationsbereich. „Einigen gelungenen Initiativen stehen nach wie vor Baustellen und verpasste Chancen gegenüber“, sagte Langenfeld. Im Schlüsselbereich Bildung fällt die Bilanz des SVR eher ernüchternd aus: Bei Schülern mit Migrationshintergrund zeigen sich immer noch deutliche Leistungsrückstände, auch wenn sie inzwischen in internationalen Leistungstests (PISA, IGLU, TIMSS) besser abschneiden. „Der Institution Schule gelingt es noch zu wenig, die Startnachteile von Schülern mit Migrationshintergrund auch nur annähernd auszugleichen“, betonte Langenfeld. „Diese Herausforderung muss noch entschiedener angegangen werden. Es muss besser gelingen, Chancengleichheit für Schüler mit Migrationshintergrund sowie Schüler aus sozial schwachen Familien herzustellen“, sagte Langenfeld. Hierfür muss der Unterricht stärker individualisiert gestaltet werden, um Schüler entsprechend ihrer Stärken und Schwächen fördern zu können. Um dieses Ziel zu erreichen, empfiehlt der SVR, Lehrer in der Aus- und Weiterbildung besser auf den Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft vorzubereiten. Der Ausbau qualitativ hochwertiger Ganztagsangebote an Schulen muss vorangetrieben und die Sprachförderung an Kitas und Schulen besser aufeinander abgestimmt werden. Überdies bedarf es im föderalen Deutschland einer validen und einheitlichen Ermittlung des Sprachförderungsbedarfs.

Einheitliche Umsetzung des Anerkennungsgesetzes noch nicht erreicht

Eine gemischte Bilanz zieht das unabhängige Expertengremium beim Anerkennungsgesetz, das seit zwei Jahren in Kraft ist. Damit besteht erstmals ein Rechtsanspruch auf eine Prüfung, ob ein im Ausland erworbener Berufsabschluss gegenüber einem deutschen Abschluss gleichwertig ist. Dies soll Zuwanderern eine ihrer Qualifikation entsprechende Integration in den Arbeitsmarkt erleichtern. „Das Gesetz selbst ist ein Meilenstein, allerdings hakt es noch bei der Umsetzung“, sagte Langenfeld. Das Ziel, bundesweit möglichst einheitliche und effiziente Regelungen für die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse zu schaffen, ist noch nicht erreicht. Die Verabschiedung der Landesanerkennungsgesetze verlief schleppend, in zwei Ländern steht dies immer noch aus (Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt). Einzelne Bundesländer beharren auf bereits geltenden Regelungen für die Anerkennung von Berufen, die in ihre Zuständigkeit fallen, statt mögliche Verbesserungen umzusetzen. Zudem ist unklar, inwieweit die Bundesländer die Anerkennung eines Abschlusses wechselseitig akzeptieren. „Dies muss sichergestellt sein. Alles andere wäre widersinnig und das übergeordnete Ziel, die Anerkennungsverfahren umfassend zu verbessern und zu vereinfachen, würde konterkariert“, sagte Langenfeld.

Institutionelle Gleichstellung des Islam: Erfolge und Rückschläge

Bei einer anderen zentralen integrationspolitischen Herausforderung, der institutionellen Gleichstellung des Islam, sieht der SVR Fortschritte, aber auch Rückschläge. Die Anstrengungen der Politik haben an vielen Stellen Früchte getragen: Fortschritte konnten vor allem bei der Etablierung von islamischem Religionsunterricht als ordentlichem Lehrfach an Schulen und dem Ausbau islamischer Theologie an den Universitäten erzielt werden. Zugleich zeigt die aktuelle Debatte um die Besetzung eines Lehrstuhls für islamische Theologie und die Reichweite wissenschaftlicher Autonomie, dass ein offener und kritischer Diskurs über die Weiterentwicklung des Islam und seine Stellung im pluralen Staat dringend nötig ist. „Auch wenn Deutschland bei der institutionellen Gleichstellung des Islam vorangekommen ist, bleibt von Seiten des Staates, aber auch der islamischen Verbände noch viel zu tun“, sagte Langenfeld. Die islamischen Verbände müssen Anstrengungen zur Gründung einer oder mehrerer islamischer Religionsgemeinschaften mit transparenten Strukturen weiter vorantreiben

SVR-Integrationsbarometer: Mehrheit für eine ‚Gleichstellung ohne Sonderrechte‘

Insgesamt ist Deutschland in den letzten Jahren bei der anspruchsvollen Aufgabe vorangekommen, auf der einen Seite die institutionelle Gleichstellung des Islam voranzutreiben und auf der anderen Seite gleichzeitig zu vermeiden, religiöse Sonderrechte zu etablieren. Diese Politik der ‚Gleichstellung ohne Sonderrechte‘ findet Unterstützung in der Bevölkerung. Das zeigt das SVRIntegrationsbarometer, das sich in diesem Jahr erstmals der Frage der institutionellen Gleichstellung des Islam widmet: „Eine religiöse Gleichbehandlung wird mehrheitlich befürwortet, einer ‚Sonderbehandlung‘ aus religiösen Gründen wird aber mit Skepsis begegnet“, lautet das Fazit der SVRVorsitzenden. Die Mehrheit der Bevölkerung ist bereit, den Islam institutionell mit anderen Religionen gleichzustellen: Eine knappe Mehrheit der rund 5.660 Befragten mit und ohne Migrationshintergrund befürwortete islamischen Religionsunterricht an Schulen (51,3 mit bzw. 55,1 % ohne Migrationshintergrund). Etwa zwei Drittel (63,3 bzw. 68,9 %) sprechen sich dafür aus, dass islamische Theologie an deutschen Universitäten gelehrt wird. Religiös begründete Wünsche nach einer Sonderbehandlung stoßen hingegen auf Skepsis: Eine Befreiung vom Sport- bzw. Schwimmunterricht aus religiösen Gründen wird deutlich abgelehnt (68,0 % mit bzw. 75,9 % ohne Migrationshintergrund), ebenso wie eine Erlaubnis für muslimische Lehrerinnen, an staatlichen Schulen Kopftuch zu tragen (54,8 % mit bzw. 63,1 % ohne Migrationshintergrund).

Das SVR-Integrationsbarometer zeigt ebenfalls, dass es noch Anstrengungen, Zeit und ein kluges Handeln der beteiligten Akteure erfordert, bis der Islam als ein selbstverständlicher Teil der religiösen Vielfalt Deutschlands betrachtet wird. Die Bewertung des Satzes „Der Islam ist ein Teil Deutschlands“ ergibt jedenfalls eine knappe, aber dennoch mehrheitliche Verneinung. 53,2 % der Befragten ohne Migrationshintergrund lehnten die Feststellung „Der Islam ist ein Teil Deutschlands“ „eher“ oder „voll und ganz“ ab, immerhin 45,2 % stimmten der Aussage zu. Ein umgekehrtes Bild ergab sich bei den Befragten mit Migrationshintergrund: Hier bejahte eine knappe Mehrheit (54,0 %), dass der Islam „eher“ oder „voll und ganz“ ein Teil Deutschlands ist. Aber auch hier verneinten dies 44,0 Prozent. Langenfeld warnte davor, aus diesen Zahlen voreilige Schlüsse zu ziehen: „Wer glaubt, daraus eine generelle islamskeptische oder gar islamfeindliche Haltung der Bevölkerung ableiten zu können, der irrt. Wer jedoch die Augen vor diesem Thema verschließt und meint, es müsse in der Weiterentwicklung der institutionellen Gleichstellung und in den interreligiösen Beziehungen nichts geschehen, der irrt ebenfalls.“ Die Ergebnisse des Integrationsbarometers seien ein wichtiges Signal, das nicht ignoriert werden dürfe.

SVR fordert Weiterentwicklung des Dublin-Mechanismus

Mit dem im Sommer 2013 auf europäischer Ebene verabschiedeten Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) sind vor allem verbesserte Regelungen für Asylverfahren und Schutzstandards festgelegt worden. Sie können zu mehr Rechtssicherheit für Flüchtlinge führen und die Grundlage für eine einheitliche europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik bilden. „Die gleichmäßige Durchsetzung dieser Standards in allen EU-Staaten bleibt allerdings weiterhin eine große Aufgabe“, sagte Langenfeld. Zudem hätten sich die Mitgliedstaaten an das zentrale flüchtlingspolitische Problem einer ungleichen Verteilung von Asylsuchenden auf die einzelnen EU-Mitgliedstaaten nicht herangewagt: Zwar ist – wie eine Auswertung des SVR-Forschungsbereichs zeigt – die in der Öffentlichkeit weit verbreitete Annahme falsch, dass südeuropäische Länder grundsätzlich von hohen Flüchtlingszahlen betroffen sind und die Länder des Nordens aufgrund ihrer geografischen Lage weniger Flüchtlinge aufnehmen. In manchen Staaten weichen die Rhetorik der Überforderung und die Realität von Aufnahme und Betreuung also weit voneinander ab. Fakt ist aber auch, dass einige Länder weitaus mehr Flüchtlinge als andere aufnehmen. Der SVR fordert daher eine gerechtere Lastenteilung. Hierfür müsse das sog. Dublin-Prinzip ergänzt werden, wonach grundsätzlich der Staat der Ersteinreise für die Durchführung des Asylverfahrens verantwortlich ist. Mit einem Verfahren für eine faire Lastenteilung könnte Staaten in einer objektiven Überforderungssituation geholfen werden. Für Flüchtlinge in akuten Krisensituationen fordert der SVR zudem einen temporären Schutzstatus, der Flüchtlingen den komplizierten Weg über das Asylverfahren erspart und eine koordinierte und unbürokratische Aufnahme einer großen Zahl von Schutzsuchenden durch die EU-Mitgliedstaaten ermöglicht.

Modernes Staatsangehörigkeitsrecht noch nicht verwirklicht

In die Kategorie der verpassten Chancen gehört zweifellos der von der Bundesregierung vereinbarte Kompromiss zum Staatsangehörigkeitsrecht. Damit wird zwar, wie vom SVR seit langem gefordert, die Optionspflicht abgeschafft. Allerdings wirft die Regelung zwei neue Probleme auf: Zwischen dem Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt einerseits und durch Einbürgerung andererseits entsteht eine nicht nachvollziehbare Asymmetrie. Ausgerechnet Zuwanderern, die sich einbürgern lassen wollen und die dazu nicht nur ein gesichertes Einkommen und Deutschkenntnisse – also ‚Integrationserfolge‘ – nachweisen, sondern auch einen Einbürgerungstest bestehen müssen, bleibt die doppelte Staatsangehörigkeit verwehrt. Für den Erwerb durch Geburt soll der ‚Doppelpass‘ hingegen unter bestimmten Voraussetzungen möglich werden. Außerdem bleibt mit dem Kompromiss das Problem einer unbegrenzten Vererbung der Staatsangehörigkeit des Herkunftslandes ungelöst. Die Folge sind politisch und rechtlich problematische Mehrfachstaatsangehörigkeiten. Einen Lösungsweg bietet das vom SVR propagierte Modell einer „doppelten Staatsangehörigkeit mit Generationenschnitt“. „Es schlägt“, so die SVR-Vorsitzende, „drei Fliegen mit einer Klappe“: die Optionspflicht wäre abgeschafft, die doppelte Staatsangehörigkeit für die Übergangsgenerationen und bei Einbürgerung möglich und verhindert würde eine unbegrenzte Weitergabe der Staatsangehörigkeit über das ius sanguinis (Abstammungsprinzip) und damit eine Anhäufung von Mehrfachstaatsangehörigkeiten. „Die Koalitionspartner sollten noch in dieser Legislaturperiode die Kraft zu einer umfassenden Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts aufbringen“, empfahl Langenfeld.

Insgesamt kommt der SVR zu dem Ergebnis, dass Deutschland nach vielen Jahren einer migrations- und integrationspolitischen Lethargie weiter Tritt gefasst hat und sich auf dem Weg zu einem modernen Einwanderungsland befindet. Hier ist die Politik weiterhin gefordert, die anstehenden Fragen mutig, zielorientiert und umfassend anzupacken. Bei der Integrationspolitik wäre mehr Dynamik geboten: Vor allem bei der Bildungsintegration, im Staatsangehörigkeitsrecht und auch bei der institutionellen Gleichstellung des Islam besteht weiterhin politischer Handlungsbedarf. Die Voraussetzungen dafür sind jedenfalls gegeben: Das SVR-Integrationsbarometer zeigt weiterhin ein pragmatisch-positives Integrationsklima und damit die Chance und die Offenheit, auf dem eingeschlagenen Weg weiter voranzugehen. Der Bedarf an unabhängiger Politikberatung in den Themenfeldern Integration und Migration ist ungebrochen hoch. Denn das Gutachten zeigt, dass mit Blick auf die demografische Entwicklung und die Veränderung der Gesamtgesellschaft durch Einwanderung die Integrations- und Migrationspolitik weiterhin zentrale Politikfelder bleiben werden.

Das Jahresgutachten sowie einige Grafiken sind <link http: www.svr-migration.de content>hier herunterzuladen.

Quelle: Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration vom 29.04.2014

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