Kindheitsforschung
Kinder kritzeln, zeichnen und malen – Warum eigentlich?
Der Frankfurter Kunstpädagoge Georg Peez warnt Erwachsene davor, Kinder beim Kritzeln und Zeichnen zu korrigieren: „Das ist pädagogisch nicht angemessen. Denn Fünf- bis Sechsjährige wollen kein naturalistisches Abbild der Umgebung zeichnen. In dieser Phase erfinden Kinder Sinnzeichen und setzen sie in Beziehung zu einander und diesen wichtigen Entwicklungsprozess unterbinden wir mit Kritik.“
11.07.2011
In der neuesten Ausgabe des <link http: www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de dok pdfsweb _blank external-link-new-window>Wissenschaftsmagazins „Forschung Frankfurt“ (2/2011) berichtet der Kunstpädagoge über seine gemeinsam mit Kollegen gemachten Fallstudien zu Kinderzeichnungen von den ersten Lebensmonaten bis zur Grundschulzeit.
Kleinkinder zwischen neun und zwölf Monaten verschmieren mit Vorliebe Brei oder Spucke auf dem Tisch; das sind die Ursprünge des Malens und Zeichnens. Sinnlich, interessiert und durchaus lustvoll erkundet das Kind zunächst mit den Fingerspitzen, später mit der ganzen Hand die Konsistenz des Materials. „Die Sensomotorik dominiert bei allen beobachteten Schmieraktivitäten – insbesondere des Wischens mit horizontal orientierten Hin-und-Her-Bewegungen und des Schlagens mit vertikal orientierten Auf-und-Ab-Bewegungen. Erst durch die Motorik, also die Bewegungen der Finger und Hände, lässt sich das Schmiermaterial von den Kindern erfühlen. Hierbei animieren die taktilen Reize das sensuelle Erleben des Kindes“, beschreibt Peez. Im Laufe der Zeit, wenn die sensomotorische Dynamik zunimmt, gewinnt das Kleinkind an Sicherheit: Es erkennt seine Schmierspuren. „Dies ist ein fundamentaler, erster bildnerischer Akt. Das Hinterlassen von Spuren setzt sich dann nach dem ersten Geburtstag immer häufiger im Kritzeln mit dem Stift fort – schlicht deshalb, weil es kulturell akzeptierter ist als das Schmieren“, erläutert der Wissenschaftler der Goethe-Universität.
Das Kritzeln entwickelt sich: Aus Hin-und Her-Bewegungen entstehen Schwingkritzel, dann folgen Kreis- und Kreuzkritzel. In dieser Phase entdeckt das Kind grundlegende Prinzipien der Raumordnung. Übrigens bewegen Erwachsene, die erstmalig ein Malprogramm am Computer nutzen, die Maus oder den drucksensitiven Stift ganz ähnlich, hat Peez beobachtet. Am Ende dieser Phase – etwa mit zweieinhalb Jahren – beginnt das Kind mit seinen Kritzeleien etwas zu assoziieren. So wird ein Kreis plötzlich als Teller benannt oder als Mond, als Hamburger oder auch als Autoreifen angesehen. „Entscheidend ist, dass die inzwischen entwickelte kognitive Fähigkeit es dem Kind ermöglicht, ein Symbol zu schaffen. Das heißt, das Kind sieht einen Kritzel als etwas anderes an und benennt es entsprechend. In der Forschung zu Kinderzeichnungen sprechen wir vom sinnunterlegten Kritzeln“, sagt der Kunstpädagoge und ergänzt: „Diese Fähigkeit ist entscheidend für fast jede kulturelle Tätigkeit. Aus Bildsymbolen entwickelten sich beispielsweise Schriftzeichen und Buchstaben. Ohne diese kognitive Fähigkeit, die sich im dritten Lebensjahr zeigt, könnten wir keine Schrift lesen.“
Von „sinnunterlegten Kritzeln“ ist es dann nicht mehr weit, selbst Symbole schaffen zu können. Dies gelingt immer besser, wenn das Kind die Bewegung der eigenen Hand zunehmend kontrollieren kann. Zunächst sind es sehr rudimentäre Zeichen, mit der Zeit werden diese Zeichen aber immer komplexer. Diese Symbole oder Zeichen erfindet und erarbeitet sich jedes Kind selbst – und das ganz unvoreingenommen und selbstverständlich – „freilich immer im Austausch mit der Umwelt und eingebettet in die Kultur. Sind die Sinnzeichen in frühen Jahren in Form von einzelnen Menschen und Gegenständen noch äußerst prägnant und klar, so werden sie im Grundschulalter immer detailreicher. Komplexe Szenerien werden erfunden“, so Peez.
Warum verlieren die meisten Menschen diese Unvoreingenommenheit, wenn sie in die Pubertät eintreten? „Die Bedeutung des Sinnzeichens nimmt immer mehr ab und weicht dem Anspruch, etwas naturalistisch, visuell ‚richtig’ abzeichnen zu können. Die Ansprüche sind oft höher als das eigene Können, die Unzufriedenheit mit der eigenen Zeichnung wächst.“ Jugendliche geben häufig das Zeichnen auf, andere eignen sich eine andere bildnerische Sprache an, sie erschaffen Sinnzeichen beziehungsweise Symbole mit Graffiti.
Quelle: Goethe-Universität Frankfurt am Main
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