Kindheitsforschung

Eine Stadt unter der Lupe: Wie Kinder sich entwickeln

Entwicklungsunterschiede besser verstehen: In einer Langzeitstudie hat ein Team der Universität Hildesheim sieben Jahre lang erfasst, wie Kinder sich entwickeln – von der Kita über die Grundschulzeit bis in die weiterführende Schule. Einblicke in das "Koko"-Forschungsprojekt an der Universität Hildesheim.

14.01.2016

Wissenschaft ist ein kleines Stofftier, ein Affe – so könnte man das kurz zusammenfassen. Emma ist jetzt elf Jahre. Sie ist mit der Forschung aufgewachsen. Beim Start eines groß angelegten Forschungsprojektes von Psychologinnen der Universität Hildesheim ging Emma noch in den Kindergarten, mittlerweile besucht sie die 6. Klasse einer Hildesheimer Schule. Und sie ist ziemlich stolz, bei der Forschung mitzuhelfen, sagt Emma, während sie "Koko" in den Arm drückt. "Koko", das ist ein kleiner Affe aus Stoff, der "eigentlich immer dabei war", sagt Emmas Mutter Kerstin Taubitz. "Auf Briefköpfen, während der Untersuchung saß das Plüschtier am Tisch."

Emma und ihre Mutter haben die Uni-Arbeitsgruppe um Professorin Claudia Mähler besonders unterstützt. Sie gehören zu den Familien aus der Region, die über sieben Jahre Einblicke in die kindliche Entwicklung gegeben haben. "Wir machen mit, sonst geht die Forschung nicht weiter", begründet Kerstin Taubitz die langfristige Teilnahme an der Studie.

Seit sieben Jahren untersucht eine Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Claudia Mähler im Forschungsprojekt "KOKO" die Entwicklung von Kindern vor allem im kognitiven Bereich. Über einen Zeitraum von sieben Jahren wurde die Entwicklung von insgesamt 200 Kindern seit ihrem dritten Lebensjahr im Raum Hildesheim erfasst. Erst gingen sie in den Kindergarten, dann haben die Wissenschaftlerinnen den Übergang in die Schule und die Grundschulzeit begleitet bis die Kinder nun in weiterführenden Schulen angekommen sind.

"Uns hat vor allem interessiert, welche frühkindlichen kognitiven Fähigkeiten es genau sind, die am Ende einen Einfluss darauf haben, ob ein Kind in der Schule gut zurechtkommt und eine gute Schulleistung zeigt", sagt die Psychologin Dr. Jeanette Piekny. Welche Fähigkeiten sollte man in welcher Weise und vor allem zu welchem Zeitpunkt fördern?

Sollte man ein Kleinkind in den mathematischen Vorläuferfertigkeiten jeden Tag fördern – zum Beispiel gemeinsam Mengen vergleichen? Oder bringt das erst etwas, wenn man das Rechnen täglich in der Schule anwendet? Nach sieben Jahren hat die Hildesheimer Arbeitsgruppe herausgefunden: "Schon die frühe Beschäftigung mit Zahlen ist für sehr lange Zeit entscheidend für die Rechenfähigkeiten im Grundschulalter. Solche Hypothesen prüfen wir – wir hätten ja genauso gut als ein Ergebnis herausfinden können: Es macht überhaupt keinen Unterschied, ob man das mit vier Jahren kann oder nicht", sagt Piekny.

"Unsere Daten zeigen: Die Unterschiede, die zwischen den Kindern in diesen Kompetenzen bestehen, sind bereits im Alter von vier Jahren sehr groß. Es ist nicht so, dass Vierjährige alle nichts können, was vielleicht manche Leute denken", so Piekny. Der eine kann erkennen, was mehr oder weniger ist. Manche Kinder können schon Ziffern erkennen, Mengen abzählen, Mengen zusammenzählen – andere können das weniger gut. "Interessant ist, dass diese Unterschiede vergleichsweise stabil bleiben und sich in die Grundschulzeit hineinziehen", sagt Jeanette Piekny. Es sei nicht so, dass die Mehrheit der Kinder alles aufholt und dann mit sechs Jahren auf dem gleichen Stand eingeschult wird.

Auch im phonologischen Bereich, der die Lese- und Rechtschreibfähigkeiten entscheidend beeinflusst, haben die Wissenschaftlerinnen früh Unterschiede gefunden, die über längere Zeit erhalten bleiben und spätere Unterschiede erklären. "Die Zeit zwischen drei und sechs Jahren ist für die späteren Schulleistungen immens bedeutsam. Dieser Altersbereich wurde über lange Zeit unterschätzt. Das erfordert ein riesiges Umdenken in Politik und Bildungseinrichtungen", sagt Piekny. Die Startchancen in der ersten Klasse seien sehr unterschiedlich. Es sei "bedeutsam, was Erzieherinnen den Tag über mit Kindern tun", ergänzt die Wissenschaftlerin Dr. Kirsten Schuchardt.

Ergebnisse aus der Forschung wieder zurückzuspielen in die Praxis sei "eine der wichtigsten Aufgaben überhaupt", sagt Claudia Mähler. "Wenn Kinder tatsächlich auf der Strecke bleiben oder ein Risiko in der Entwicklung besteht, ist es wichtig, zu intervenieren. Und das können nur diejenigen machen, die die Kinder am meisten sehen. Das sind die Eltern, denen wir regelmäßig Rückmeldungen geben, und das sind die Erzieherinnen", sagt die Professorin. Deshalb gehen die Wissenschaftlerinnen in Kitas und bieten Fortbildungstage für Erzieherinnen und Erzieher an.

Die Hildesheimer Wissenschaftlerinnen werten die vielen Daten, die sie in dem "KOKO"-Projekt gesammelt haben, derzeit aus. "Wir haben uns bisher auf die frühe Kindheit konzentriert. Wir möchten nun erfassen, wie die Entwicklung im Schulalter verläuft, das müssen wir jetzt unbedingt betrachten", sagt Mähler. "Da werden wir eine ganze Menge zu tun haben." Ergänzend zu den kognitiven Kompetenzen konnte ihr Team in den letzten zwei Jahren auch die sozial-emotionalen Kompetenzen, die Anpassungsfähigkeiten und Bewältigungskompetenzen untersuchen und somit den Fokus der Forschung erweitern.

Kurz zusammengefasst: Forschungsprojekt "KOKO"

Psychologinnen der Universität Hildesheim haben 200 Kinder über sieben Jahre zunächst in Hildesheimer Kindergärten untersucht und die unterschiedlichen Entwicklungsverläufe während der Grundschulzeit dokumentiert. Die Studie KOKO ("Differentielle Entwicklungsverläufe Kognitiver Kompetenzen") zeigt, dass die "schulischen Vorläuferfertigkeiten" eine wichtige Rolle spielen bei der Vorhersage von Schulleistungen.

Dazu gehören die phonologische Bewusstheit und numerische Kompetenzen: Kann ein Kind hören, dass im Wort "Auto" kein "i" enthalten ist? Erkennt es Laute und Reime? Entwickelt es ein Verständnis für Mengen und Zahlen, etwa für "mehr" oder "weniger"? Auch die Funktionstüchtigkeit des Arbeitsgedächtnisses spielt eine wichtige Rolle.

Die Fähigkeiten kann man früh erkennen und schon im Vorschulalter fördern. Einige Kindergärten trainieren die phonologische Bewusstheit ("Hören, Lauschen, Lernen") im letzten Kindergartenjahr. "Es schadet keinem Kind. In Mathematik sind die Förderungen in Kitas nicht verbreitet", so Mähler. Ihr Team leistet derzeit Aufklärungsarbeit in Kindergärten, um mathematische Vorläuferkompetenzen zu trainieren.

Kontakt für Familien und Schulen:
Eltern, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer können in der Forschungsambulanz "Kind im Mittelpunkt" Rat suchen. Es gibt tägliche Telefonsprechstunden (montags bis donnerstags, 13 bis 14 Uhr, 05121-883-11012), in denen individuelle Termine abgestimmt werden können.

Weitere Informationen online:

"Wie entwickelt sich mein Kind?"
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Quelle: Uni Hildesheim vom 07.01.2015

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