Kindheitsforschung

2. World Vision Kinderstudie: Die Kluft zwischen arm und reich wird größer

Die Kindheitsforscherin Prof. Dr. Sabine Andresen und der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Klaus Hurrelmann haben zusammen mit TNS Infratest Sozialforschung, München, zum zweiten Mal 2500 Kinder in Deutschland über ihre Lebenssituation und ihr Wohlbefinden befragt.

02.06.2010

Cover der 2. Kinderstudie

Die Studie erfolgte im Auftrag der Kinderhilfsorganisation World Vision Deutschland, deren erste Kinderstudie im Jahr 2007 erschienen ist. Die Untersuchung erfolgte mit dem Ziel, den sechs- bis elfjährigen Kindern eine Stimme zu geben, ihnen zuzuhören, ihre Sichtweisen kennen zu lernen und daraus Handlungsempfehlungen für Politik und Gesellschaft abzuleiten.
Erstmals wurden mit der 2. World Vision Kinderstudie auch Sechs- bis Siebenjährige in eine Repräsentativerhebung einbezogen. Die Studie zeigt deutlich, dass bereits so junge Kinder ihre Realität und Umwelt sehr klar sehen und daraus Perspektiven für ihre Zukunft ableiten können. Die große Mehrheit dieser Kinder ist mit ihren Lebensverhältnissen in Familie, Freizeit, Freundeskreis und Schule zufrieden und fühlt sich wohl. Ihre Haltung gegenüber dem, was im Leben auf sie zukommt, stellt sich erwartungsvoll und daher positiv dar.

Vier-Fünftel-Kindergesellschaft

Auf der anderen Seite liefert die Studie einen neuerlichen Beleg dafür, dass bereits bei Kindern ab dem Grundschulalter die sozialen Unterschiede wirken und die Herkunft maßgeblich den eigenen Alltag prägt. Einige Kinder sehen für ihr Leben schon in sehr jungen Jahren keine Perspektive mehr und fühlen sich in ihren Rechten beschnitten. Klaus Hurrelmann bezeichnete es als erschreckend, dass sich schon in Deutschland eine Vier-Fünftel-Kindergesellschaft herausbilde: „Die Kinder aus dem benachteiligten unteren Fünftel sehen ihre Zukunft negativ und trauen sich keine erfolgreiche Schullaufbahn zu. Es fehlt ihnen an Rückhalt, an Anregungen und an gezielter Förderung. In der Konsequenz ist der Alltag dieser Kinder bei einem größeren Teil einseitig auf Fernsehen oder auf sonstigen Medienkonsum ausgerichtet. Jungen sind hierfür besonders anfällig. Demgegenüber sind die Mädchen widerstandsfähiger und lernbereiter. Hier deutet sich ein großer Umbruch im künftigen Geschlechtsverhältnis an.“ Christoph Waffenschmidt, Vorstandsvorsitzender von World Vision Deutschland betonte: „Wir dürfen nicht zulassen, dass Kinder aufgrund ihrer sozialen Herkunft beruflich und sozial ins Abseits geraten. Es muss in unser aller Interesse liegen, selbstsichere, lebensfrohe und kluge Kinder heranzuziehen, die als Erwachsene eine Stütze für unseren Staat, die Wirtschaft und die Gesellschaft sind.“  

Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, Christoph Waffenschmidt, Prof. Dr. Sabine Andresen, Ulrich Schneekloth Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, Christoph Waffenschmidt, Prof. Dr. Sabine Andresen, Ulrich Schneekloth / Foto: World Vision Institut für Forschung und Entwicklung

Armut und Teilhabe

Die 2. World Vision Kinderstudie bestätigt die klassischen Risikofaktoren für ein Aufwachsen in Armut: Niedrige soziale Herkunftsschicht, ein alleinerziehendes Elternteil sowie fehlende Integration der Eltern in den Arbeitsmarkt. Bezieht man sich auf die Herkunft der Kinder, so wird deutlich, dass fast die Hälfte der Kinder der Unterschicht einen Migrationshintergrund hat: Schichtzugehörigkeit und Migrationshintergrund bedingen sich.
Über drei Viertel (78 Prozent) der Kinder im Alter von 6 bis 11 Jahren gehen in ihrer Freizeit einer regelmäßigen Gruppenaktivität z. B. in einem Verein nach. Von den Kindern aus der untersten Herkunftsschicht betreiben nur 42 Prozent diese Form der Freizeitgestaltung. Je gehobener die Schicht, desto häufiger auch die Teilhabe.

Schlüsselfaktor Selbstwirksamkeit

Eine zentrale Erkenntnis aus der Studie lautet, dass Kinder selber gestalten und auch eigene Wege gehen wollen. Dabei bieten sich je nach der Schichtzugehörigkeit unterschiedliche Gestaltungsspielräume. Während Armut und fehlende häusliche Ressourcen zu geringeren Teilhabemöglichkeiten führen und das Fehlen von Rückhalt, Anregungen und gezielter Förderung bedingen, können Kinder aus den gehobenen Schichten von Anfang an ihre besseren Chancen nutzen. Auch sie sehen sich im Alltag mit Risiken konfrontiert und verspüren Bewährungsdruck. Jedoch stehen ihnen von vornherein mehr Wege offen, weshalb sie leichter lernen, selbst zu entscheiden, wie sie ihr eigenes Leben angehen. Sie können dadurch weitaus besser das erforderliche Selbstbewusstsein gegenüber den zum Teil ganz unterschiedlichen Herausforderungen in Familie, Schule, Freizeit und Freundeskreis entwickeln.
Im Erfahren von Selbstwirksamkeit, der Herausbildung von Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein sowie personalen und sozialen Kompetenzen liegt nach Ergebnissen der 2. Kinderstudie der Schlüssel, um Kindern Potenziale für die Gestaltung eines „guten Lebens“ zu eröffnen. Zentral bedeutsam ist aus Sicht der Autoren, Kindern das Gefühl einer Wertschätzung ihrer eigenen Meinungen und Ansichten zu vermitteln. Dabei geht es um ganz alltägliche Mitwirkungs- und Partizipationserfahrungen: in den Alltag einbezogen werden, um mitwirken zu können, nach der eigenen Meinung gefragt werden und dabei zu erleben, dass diese auch ernst genommen wird – darauf komme es an.
Die große Mehrheit der Kinder in Deutschland hat eine äußerst positive Meinung von ihren Müttern und Vätern und lobt deren Bereitschaft, sie mitbestimmen zu lassen. Demgegenüber ist die Zufriedenheit mit den Grundschulen spürbar geringer. Dort möchten die Kinder genauso viel Einfluss auf die Gestaltung des Alltags ausüben, fühlen sich aber durch enge Vorgaben zu eingeschränkt.

Eine Zusammenfassung der Ergebnisse der 2. World Vision Kinderstudie findet sich hier.

Quelle: Word Vision Deutschland

ik

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