Dialog Erziehungshilfe

Jugend in Coronazeiten. Diskurse in Gesellschaft und Wissenschaft.

Die Coronakrise führt zu Verwerfungen in der Gesellschaft, unter anderem werden auch Diskrepanzen zwischen jungen Menschen und älteren Bürger*innen deutlich. Der Jugend wird eine Mitschuld an der Ausbreitung der Pandemie gegeben. Vereinzelt wird bereits von einem Generationenkonflikt gesprochen. Dieser Artikel von Reinhold Gravelmann zeichnet die Diskussionen nach, führt skizzenhaft Studienergebnisse an und rückt vor allem den Blick auf die Forschungslage, insbesondere in Bezug auf junge Menschen in der Heimerziehung.

29.03.2021

Ein Beitrag von Reinhold Gravelmann
Erstveröffentlichung: Dialog Erziehungshilfe 4/2020, S. 39-45

Jugend in Coronazeiten. Diskurse in Gesellschaft und Wissenschaft

Dieser Artikel zeichnet die Diskussion nach, in denen jungen Menschen Schuld in Bezug auf die Ausbreitung der Pandemie zugewiesen wird und die zugleich auf (zunehmende oder vereinzelte?) Konflikte zwischen jungen und älteren Menschen hindeutet. Bereits im August sprach der Jugendforscher Hurrelmann in einem Spiegelinterview von einen „Generationenkonflikt“ (Musall 2020). Seitdem hat die Kritik an den jungen Menschen eher zugenommen. Dem steht eine Realität gegenüber, die das Bild einer sich unsozial verhaltenden Jugend keineswegs bestätigt. Dies wird anhand von Statistiken und der Jugendforschung skizzenhaft dargestellt, um anschließend die Forschungslage zur Jugend in Coronazeiten anzuschauen. Dabei wird der Blick vor allem darauf gerichtet, wie es um benachteiligte junge Menschen und Jugendliche aus der Kinder- und Jugendhilfe bestellt ist.

Generationenkonflikt durch Covid19-Pandemie?

‚Die‘ Jugend soll lernen sich einzuschränken, Rücksicht auf die gefährdeten alten Menschen nehmen (lernen), sich im Feiern zurückhalten, sich nicht so anstellen...Kommentierungen vor allem älterer Menschen zu ‚der‘ Jugend. Das Party machen sei zurückzustellen, der Ernst des Lebens zu erkennen und anzunehmen und insgesamt sei alles halb so schlimm, früher sei vieles Schlimmer gewesen – so der Tenor in Kommentaren zu Medienberichten, die junge Menschen und ihre Bedürfnisse (u.a. „Party machen“) in den Fokus rückten. „Beschimpfungen auf jedem Niveau und Verteidigungsreden aller Art tobten durchs Netz“ (Brandt 24.10.2020, S. 2). Nicole Diekmann sieht die Debattenkultur „längst am Beatmungsgerät hängen“ und den „Wutfaktor weiter exponentiell wachsen“ (Diekmann 20.10.2020).

Neben Medienberichten können auch politische Kommentierungen zu Konflikten beitragen. Der Gesundheitsminister Österreichs Rudi Anschober fordert von der Jugend am 18. August via Twitter: "Reißt euch zusammen und übernehmt Verantwortung“ (Edhofer 07.09.2020). Die deutsche Bundeskanzlerin folgte im Oktober: "Gerade die Jugend ist es, an die wir jetzt auch appellieren müssen, lieber heute auf 'n paar Feten und Feiern und Partys zu verzichten, um morgen und übermorgen gut leben zu können" (www.handelsblatt.com/dpa-Meldung, 14.10.2020).

Durch die Debatte über die Covid-19-Pandemie werden bereits bestehende gesellschaftliche Spaltungen etwa in den USA oder Brasilien verschärft. In Deutschland sind diese Tendenzen ebenfalls feststellbar, wenngleich es sich eher um einen Riss als um eine Spaltung handelt (Rechtstrend in Teilen der Bevölkerung; die AfD in den Parlamenten, Coronaleugner*innen und Skeptiker*innen auf der Straße; Verschwörungstheoretiker*innen und Reichsbürger*innen machen sich lautstark bemerkbar, die Beschleunigung des sozialen Auseinanderdriftens der Gesellschaft etc.). Vielleicht gibt es mit Zuspitzung der Pandemiesituation auch eine zunehmende Spaltung zwischen jungen und älteren Menschen? Gewaltausbrüche wie in Stuttgart (vgl. Welzhofer 2020, Langer 2020) und Frankfurt (vgl. Garbe et al. 2020) sowie Partybilder von jungen Menschen zeigen Wirkung und führen zunehmend zu einem Bild einer rücksichtslosen jungen Generation.

Rücksichtlose Partygänger*innen?

  • „Absurd. Wegen einem halben Jahr weniger Party ruft man gleich eine neue Generation aus. (Anspielung auf die in der Studie betitelte „Generation Corona“, R.G.) Haben wir es nicht eine Nummer kleiner? (...) Trotz allem Gejammers geht es uns offensichtlich zu gut. Zum Glück ist die Nachkriegsgeneration Verzicht gewöhnt. Sonst lesen wir demnächst noch was über psychisch belastete Rentner, weil die Kreuzfahrten ausfallen“ (Internetkommentare zur Tagesschau 18.10.2020 *).
  • Ein anderer Kommentar: „Vielleicht wächst dadurch aber auch eine Generation heran, die lernt, Verantwortung zu tragen, dass das Leben nicht nur aus Egoismus und Feiern besteht, sondern auch mit Rücksichtnahme verbunden ist (ebd.).
  • Die Gegenwehr: „Fehlende Empathie der alten. Die Generation Woodstock die 1968 unterwegs war ist heute über 70. Das feiern hatten also auch die schon beherrscht. Auch wenn hier viele so tun als wäre ihre Jugend ganz schrecklich gewesen. Und man liest in dem Artikel auch ganz genau das die Jugend sich an die Regeln hält, auch wenn sie unzufrieden sind. Die ganzen Maskenverweigerer die mit gefälschten Attesten durch die Gegend laufen weil sie in der Maske das Ende der Demokratie sehen sind alle nicht mehr jugendlich und ein viel größeres Problem. Aber wenn fünf Jugendliche abends was trinken ist es eine corona Party. wenn Zehntausende demonstrieren gegen die Regeln ist es Demokratie“ (ebd.).
  • Und ein 19jähriger spricht in einem Kommentar in den Heute-Nachrichten davon, dass Feiern selbstverständlich kein Grundbedürfnis sei, aber für die durch Corona genommene Freiheit stehe. Junge Menschen trauerten nicht den verpassten Clubabenden nach, sondern den „verpassten Erfahrungen, Erlebnissen und Geschichten. Die uns niemand zurückgibt“ (Hagemann 2020).

Studien (die im Übrigen ebenfalls ein großes Presseecho fanden) zeigen deutlich, dass die jungen Menschen keineswegs verantwortungslos(er) handeln als Erwachsene. Laut Robert-Koch-Institut und der Jugendstudie der TUI-Stiftung ist das Verhalten der jungen Menschen nur minimal abweichend von dem der Erwachsenen. 83% gaben an sich an alle oder überwiegend alle Vorschriften zu halten (Spittler 2020, S. 2).

Eine Reporterin fasst treffend zusammen: „Die Jungen verstehen die Welt nicht mehr. Monatelang keine Freundinnen und Freunde treffen, keine Privatsphäre, keine Selbstbestimmung und heute gelten die Jungen, trotz Lockdown, Home Schooling und Deprivation bald als das Feindbild der Nation. Dabei sind Sozialkontakte für junge Menschen nicht nur einfach ein Zeitvertreib, sondern beeinflussen aus entwicklungspsychologischer Sicht die eigene Identitätsfindung maßgeblich“ (Edhofer 07.09.2020).

Kritik an der Jugend ist keineswegs ein neues Phänomen, ebenso wenig wie Generationenkonflikte: „Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen“ (Aristoteles, 384-322 v. Chr.); „Sie (die Jugend) hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte“(Sokrates, um 469 v. Chr.). Spittler spricht davon, dass Generationenkonflikte oft ein Frame sind, der eine inhaltliche Rahmung von sozialen Konflikten hin zu eher symbolischen Fragen verschiebt. Einen Generationenkonflikt zu konstruieren, der in In- und Out-Group  aufteilt, Gruppenidentität vermittelt und sowohl von Gegner*innen als auch Befürworter*innen einer Position zur Mobilisierung genutzt wird, habe die Funktion, Unterschiede zwischen den Generationen größer aussehen zu lassen als sie wirklich sind (Spittler 2020, S. 6). Auch die Familienministerin Giffey forderte, Alt und Jung nicht gegeneinander auszuspielen. Zugleich warb sie um Verständnis für jungen Menschen und warnte vor einer Pauschalkritik (dpa, 12.10.2020, ARD-Nachrichten, 11.11.2020).

Jugend aus dem Blick? Jugend im Blick?

Im Dialog Erziehungshilfe erschien in der Ausgabe 3/2017 ein Beitrag mit dem Titel „(Fast) Alles wird besser. Die Jugend in ein positives Licht gerückt“. Darin wurde aufgezeigt, dass junge Menschen in den letzten Jahren/Jahrzehnten einen großen (vielleicht sogar schon zu großen?) Wandel vollzogen haben, der mit der ‚wilden‘ Jugendphase des gesellschaftlichen wie individuellen Überschreitens von Grenzen und dem schlechten Ruf der Jugend bei einem Teil der älteren Generation, wenig zu tun hat. Es gibt massive Rückgänge bei der Jugendkriminalität und den Verurteilungen, die Gewalttaten unter Jugendlichen und durch junge Menschen nehmen deutlich ab, es gibt seit Jahren einen starken Rückgang beim Alkoholkonsum, das Rauchen von Zigaretten spielt mittlerweile eine fast marginale Rolle und sinkt auf einen historischen Tiefstand, es werden weniger harte Drogen konsumiert, es gibt eine hohe Erwerbsbeteiligung und ein großes Bildungsinteresse. Auch die Zufriedenheit in Bezug auf die Eltern/die familiäre Situation ist sehr hoch (vgl. Gravelmann 2017). Viele Klischees über ‚die‘ Jugend sind somit unzutreffend. So bestätigen auch die vorliegenden Studien zu Jugendlichen in der Coronapandemie, dass sie sich solidarisch zeigen, etwa indem sie sich an Lieferdiensten für ältere Menschen beteiligen oder diese ins Leben rufen, vor allem aber halten sich junge Menschen sich sehr weitgehend an die Vorgaben. Und das, obwohl die Einschränkungen durch die Coronamaßnahmen jüngere Menschen (abgefragt war hier die Altersspanne von 18-39 Jahren) deutlich mehr Probleme bereiten als älteren Menschen (vgl. Ehni 2020).

Da die Corona-Krise junge Menschen in einer sensiblen Entwicklungsphase trifft, die -wie der 14. Kinder- und Jugendbericht treffend zusammenfasst- durch die Kernherausforderungen Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositionierung geprägt ist (vgl. Dt. Bundestag 2013), sind ihre Auswirkungen besonders gravierend. Die für sich genommen schon großen Herausforderungen der Jugendphase, werden durch die Coronapandemie mit den damit verbundenen massiven Einschränkungen noch mal deutlich verschärft. Entsprechend sind Kommentierungen von Erwachsenen unsensibel und unangemessen, die mangelndes Verständnis für die Bedürfnisse und Sorgen der jungen Menschen zeigen.
Zudem sind junge Menschen von der Pandemie auch deshalb besonders betroffen, weil der Faktor Zeit in jungen Lebensphasen hoch bedeutsam ist. Corsten spricht von der „Rush Hour des Lebens“ (Monecke 2020).  Ein (Corona)Jahr im jugendlichen Alter hat eine „andere soziale, qualifikatorische, körperliche und persönliche Entwicklungsdynamik als im Erwachsenenalter“ (Andresen et al. 2020a, S. 1). Und auch in der Studie der TUI-Stiftung wird daher zu Recht darauf hingewiesen, dass die Einschränkungen auf jüngere bzw. ältere Altersgruppen keineswegs gleich wirken. Als Beispiel wird benannt, dass eine ausfallende Reise für junge Menschen eben oft nicht nur ein Urlaub ist, der ausfällt, sondern dass eine Lebens- und Bildungserfahrung ausbleibt, wenn etwa ein Auslandssemester oder ein Sprachkurs nicht stattfinden können und ausfallende Veranstaltungen mit Gleichaltrigen wie z.B. Zeltlager die Entwicklung einer eigenen Identität erschweren (Spittler 2020).

Eingeschränkter Forschungsblick auf „die“ Jugend

Den Wissenschaftler*innen gelingt es in ihren Studien nur unzureichend Jugend in ihrer Vielfalt zu erreichen und zu befragen. Der Blick in die wenigen Jugendstudien in der Coronazeit macht deutliche Schwächen sichtbar.

  • Das Verständnis dessen, was unter einer „Jugend-Studie“ zu verstehen ist, variiert stark: In der Studie von Corsten et al. sind Menschen im Alter von 18-30 Jahren in qualitativen Interviews online angesprochen worden. Während einerseits 30 jährige noch zur Jugend gezählt werden, werden junge Menschen unter 18 Jahren nicht angesprochen. Die TUI-Stiftung hat 16 bis 26 jährige aus Deutschland befragt und die JuCo-Studie des Forschungsverbundes „Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit“, der sich aus Forscher:innen des Instituts für Sozial- und Organisationspädagogik an der Stiftung Universität Hildesheim und des Instituts für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung an der Universität Frankfurt zusammensetzt, richtete sich an junge Menschen von 15-30 Jahren (wobei sich vorwiegend junge Menschen bis zum Alter von 21 Jahren beteiligten). Es müssten deutlich differenzierte Altersanalysen erfolgen, da zwischen den Lebenswelten von 15 und 30jährigen enorme Unterschiede bestehen. Die relevanten Themen sind bei 15 jährigen sicherlich gänzlich andere als bei jungen Erwachsenen.
     
  • Zugangswege und Ansprache sind ungenügend: Sehr deutlich wird dies bei der genannten Studie von Corsten et al. Es wurde unter anderem bei Instagram und bei Facebook nach Interviewpartner*innen gesucht, die sich an der Studie "Generation Corona? Biographische Zukunftsperspektiven und Distant Socializing in der ersten vollen Social-Web-Generation“ beteiligen (Corsten et al. 2020). Ein derartiger Aufruf zur Beteiligung wird wohl kaum bildungsfernere Jugendliche, Migrant*innen oder sozial randständige Jugendliche ansprechen. Die Wissenschaftler der JuCo-Studie formulieren selbstkritisch, dass bei ihrer Erhebung eine „markante Grenze der Vorgehensweise“ deutlich geworden ist, da es offensichtlich nicht gelingt benachteiligte  junge Menschen etwa aus der Kinder- und Jugendhilfe durch diese Art der Erhebung zu erreichen (Andresen et al. 2020, S.8).
     
  • Fehlende Repräsentativität: Studien müssen zwar nicht repräsentativ sein, um fundierte Ergebnisse erbringen zu können. Gerade wenn aktuelle Momentaufnahmen wie am Anfang der Corona-Pandemie schnell erfolgen sollen, ist Repräsentativität nicht immer unmittelbar herstellbar. Aber in der Folge bedeutet dies, dass das gewonnene Bild von „der“ Jugend selektiv und (sehr) ungenau ist. Lediglich die TUI-Stiftung hat die Teilnehmenden nach den Merkmalen Alter, Geschlecht und Bildungsstand repräsentativ entsprechend der tatsächlichen Verteilungen ausgewählt (TUI-Stiftung 2020, S.11). Ein gezielter Fokus auf spezielle Gruppen etwa der Kinder- und Jugendhilfe wurde nicht vorgenommen.
     
  • Soziale Selektion bei den Teilnehmer*innen an den Studien: Bei der Studie des Dt. Jugendinstituts (DJI) „Kindsein in Zeiten von Corona“, die sich allerdings explizit an Eltern mit Kindern bis zu einem Alter von 15 Jahren wandte, erfolgten zu 81 Prozent Rückmeldungen von Familien von denen mindestens ein Elternteil die allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife/Abitur hatte. Zudem waren 89% der Studienteilnehmer*innen weiblich (Langmeyer et al. 2020, S. 2). Die Forscher*innen konstatieren, „Wie in vielen anderen Online-Umfragen haben auch hier vor allem Eltern mit einem hohen formalen Bildungsabschluss teilgenommen, (...). Deshalb lassen sich die dargestellten Befunde nicht auf die Gesamtbevölkerung übertragen“ (ebd., S. 24). Auch die Forschenden der JuCo-Studie verweisen darauf, dass die Teilnehmenden zu einer recht homogenen Gruppe gehören und zwar handelte es sich vor allem um deutsch-sprachige junge, insbesondere weibliche Schüler*innen, die über eigene Zimmer und Rückzugsorte verfügen (vgl. Andresen 2020, S. 8). Um es mit Klaus Hurrelmann zu sagen: Es wurden diejenigen erreicht, die aufgrund ihres guten Bildungshintergrunds und ihrer guten Verankerung in den Elternhäusern, ziemlich unbeeinträchtigt mit der jetzigen Krise gehen werden (Hurrelmann im Interview mit Musall 2020).
     
  • (Not)Lösung explorative Interviews bzw. Fallbeispiele: Um benachteiligte junge Menschen überhaupt zu erreichen, wird methodisch oft auf explorative Interviews oder die Darstellung von Fallbeispielen von einigen wenigen jungen Menschen zurückgegriffen, um exemplarisch Erkenntnisse zu erhalten. Aber gerade bei Zielgruppen, die nicht zur sog. Bildungsbürgertum zählen, wäre es notwendig, die offensichtlich bestehenden Probleme der Erreichbarkeit dieser Menschen für größere, umfassendere Studien durch barrierefreiere Zugänge zu schließen (s. z.B. die CorSJH-Studie von Jenkel et al. 2020).

Unzureichende Forschungen im Feld der Kinder- und Jugendhilfe

Wo ist von den Hauptschüler*innen, deren berufliche Perspektiven bei reduziertem Ausbildungs- und Arbeitsplatzangebot deutlich eingeschränkt werden? Wo bleiben Studien über die Betroffenheit junger Geflüchteter? Wer untersucht die besonderen Lebenslagen etwa von Straßenkindern in Coronazeiten? Welche Studiendesigns sind geeignet, die veränderten Bedingungen in der stationären Erziehungshilfe wissenschaftlich in den Blick zu nehmen?

Warum tut sich Wissenschaft so schwer beim Zugang zu den Kindern und Jugendlichen im Feld der Kinder- und Jugendhilfe bzw. Erziehungshilfe? Warum gelingt es -nicht nur bei Corona-Studien- kaum „Randgruppen“ oder benachteiligte junge Menschen zu erreichen? Sind die Zugänge ungeeignet? Mangelt es an (auch sprachlicher) Barrierefreiheit? Fehlt der (schnelle) Zugang zum Feld? Sind finanzielle Aspekte ausschlaggebend? Eignet sich der (eingeengte) Forschungsfokus nicht für Schlagzeilen? Jedenfalls bestehen Forschungslücken, die es dringend zu schließen gilt. Ein spannender Ansatz wäre gerade in der Anfangszeit der Pandemie gewesen z.B. zu analysieren, wie verbreitet und wie lange anhaltend auch positive Effekte bei jungen Menschen in der Erziehungshilfe festzustellen waren, etwa weil der „Außendruck“ durch die Schule weggefallen ist (s. dazu z.B. Dialog Erziehungshilfe sowie CorSJH-Studie, 2020) und was ließe sich daraus für „normale“ Zeiten ableiten? Wie wirkt sich Corona auf den Alltag in den Einrichtungen aus und insbesondere auf das Beziehungsverhältnis von jungen Menschen zu den Fachkräften, Eltern oder Freund*innen aus? Oder es könnte erforscht werden, welche Auswirkungen bei jungen Menschen in der Jugendhilfe in Bezug auf psychische Beeinträchtigungen oder den Kernherausforderungen der Qualifizierung, der Verselbstständigung und der Selbstpositionierung feststellbar sind? Es sind viele interessante Forschungsperspektiven denkbar und wünschenswert.

Zumindest die Forscher*innen der JuCo-Erhebung kündigten nach der Auswertung der 1. Studie an, sie wollten daran weiterarbeiten, die Hemmschwellen zu senken und Barrierefreiheit bei Erhebungen zu erreichen (vgl. Andresen et al. 2020, S. 8). Bei der zweiten Erhebung zu Jugend und Corona, die Mitte November 2020 begann, gab es dann auch eine Umfrageversion in Leichter Sprache (vgl. Forum-Transfer, 13.11.2020).

Es bleibt abzuwarten, ob Studien folgen, die den Fokus gezielt auf benachteiligte junge Menschen richten.

Die Ausnahme, die die Regel bestätigt!?

Abschließend soll eine Studie benannt werden, die den Versuch unternommen hat, mit einer Befragung eine größere Anzahl junger Menschen aus der stationären Jugendhilfe zu erreichen. Diese Online-Studie mit dem Titel „Die Corona-Krise aus der Perspektive von jungen Menschen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe (CorSJH)“ wurde im September 2020 veröffentlicht (Jenkel et al. 2020). Sie stammt aus der Schweiz, umfasste aber auch junge Menschen ab 14 Jahren in stationärer Unterbringung in Deutschland, Luxemburg und Österreich. Insgesamt haben sich 238 junge Menschen beteiligt. Das Durchschnittsalter der Teilnehmenden betrug 16 Jahre; jeweils fast genau zur Hälfte gaben männliche (51,3%) und weibliche (43,3%) junge Menschen eine Rückmeldung. Auch wenn es gelungen ist, diese recht große Anzahl an jungen Menschen aus geschätzt 60-80 Einrichtungen zur Teilnahme zu gewinnen (ebd., S. 5-6), so schränken auch hier die Autor*innen ein, dass Effekte der Selbstselektion berücksichtigt werden müssen, denn man könne davon ausgehen, dass „vor allem die Motiviertesten und solche, die gerade nicht allzu stark belastet waren, ausreichend Zeit und Online-Zugang hatten, an der Studie teilgenommen haben“ (ebd., S.7). Zudem stellte der differenzierte Fragebogen mit über 100 Fragen ein Problem dar (ebd., S. 7).

Die Ergebnisse der Studie sind nichtsdestotrotz sehr interessant.

  • Es wird beleuchtet, welche Belastungsfaktoren besonders bedeutsam waren. Die Wissenschaftler*innen kommen zu dem Ergebnis, dass u.a. die Beschränkung der sozialen Kontakte zur Familie und Freunden als besonders problematisch gesehen wurde; zudem stellt sie eine Verstärkung sowohl psychisch als auch körperlich negativer Entwicklungen bei besonders vorbelasteten Jugendlichen fest. Belastend empfanden die jungen Menschen auch die Sorge um die Gesundheit und die Gesamtsituation ihrer Familie.
  • Die Studie zeigt auch auf, welche Faktoren sich positiv auf das Wohlergehen der jungen Menschen auswirken, als da wären z.B. familiäre Bindungen und Peerkontakte. Partizipation bei den erforderlichen Maßnahmen erwies sich als hilfreich. Zudem ergab die Befragung, dass die Erläuterungen der notwendigen Einschränkungen signifikant wirkungsvoller waren, wenn diese durch Leitungskräfte erfolgten. Der stärkste Wirkfaktor war jedoch die Beziehung zu den pädagogischen Fachkräften und ihr Umgang mit der Krise, der im Übrigen von den Jugendlichen sehr positiv wahrgenommen wurde.
  • Ein eher unerwartetes Ergebnis war, dass junge Menschen in der Heimerziehung sich von der Allgemeinbevölkerung in Bezug auf die psychische Gesundheit nicht unterscheiden. Die Belastungen durch die Coronakrise wirken offensichtlich auf alle Bevölkerungsgruppen. Interessant auch, dass die Mehrheit der jungen Menschen in der Heimerziehung sich auch im Vergleich zu anderen Jugendlichen nicht stärker belastet sieht (wobei hier die Autor*innen noch mal auf die vermutete selektive Positivauswahl der Befragungsteilnehmer*innen hinweisen).
  • Insgesamt folgert die Studie, dass engagierte Fachkräfte, eine gute Beziehungsarbeit, gute Settings mit hohen Partizipationsanteilen sowie kohärente Gruppen zu einem sicheren Ort beitragen und stabilisierend wirken.

Die Autor*innen fordern abschließend dazu auf, zu analysieren und zu reflektieren, was in der Coronakrise in den stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe gut gelungen ist und welche Herausforderungen nicht gut bewältigt wurden.

Fazit zu den Diskursen in Gesellschaft und Wissenschaft

Insgesamt scheint die öffentliche Debatte in Deutschland (noch) besonnen und auch die Sicht der jungen Menschen wird mittlerweile zunehmend in den Berichterstattungen aufgegriffen (vgl. z.B. Krafczyk 2020, Hagemann 2020) bzw. eingefordert (vgl. AGJ 2020, BAG Landesjugendämter 2020). Die Familienministerin Giffey forderte, Alt und Jung nicht gegeneinander auszuspielen. Zugleich warnte sie vor einer Pauschalkritik an jungen Menschen (dpa, 12.11.2020).

Die Notwendigkeit von mehr und zudem spezifisch akzentuierten Studien in stationären Settings und anderen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe im Kontext der Coronapandemie ist evident, insbesondere wenn es um das Erleben der Krise aus Sicht der jungen Menschen und um die Auswirkungen auf ihre Lebenssituation geht.

Letztlich ist es auch Aufgabe von Forschung und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe sich an öffentlichen Debatten zu beteiligen und zu (mehr) Verständnis für die jungen Menschen allgemein beizutragen und insbesondere Jugendliche in prekären Lebenslagen sichtbarer zu machen, damit sie bedarfsgerechtere Unterstützung erfahren können (vgl. Andresen et al. 2020a, S. 3; vgl. Holz & Richter-Kornweitz 2020). Es gilt, die Erwachsenenperspektive zu verlassen, die Interessen und Bedarfe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ernst zu nehmen, sie bei anstehenden Entscheidungen bei Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung einzubeziehen und die Auswirkungen für Kinder und Jugendliche zu reflektieren (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter 2020; vgl. AGJ 2020).

Literatur

(*) Alle Zitate sind in der Originalschreibweise mit Rechtschreibfehlern wiedergegeben.

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