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Die Coronakrise führt zu Verwerfungen in der Gesellschaft, unter anderem werden auch Diskrepanzen zwischen jungen Menschen und älteren Bürger*innen deutlich. Der Jugend wird eine Mitschuld an der Ausbreitung der Pandemie gegeben. Vereinzelt wird bereits von einem Generationenkonflikt gesprochen. Dieser Artikel von Reinhold Gravelmann zeichnet die Diskussionen nach, führt skizzenhaft Studienergebnisse an und rückt vor allem den Blick auf die Forschungslage, insbesondere in Bezug auf junge Menschen in der Heimerziehung.
Ein Beitrag von Reinhold Gravelmann
Erstveröffentlichung: Dialog Erziehungshilfe 4/2020, S. 39-45
Dieser Artikel zeichnet die Diskussion nach, in denen jungen Menschen Schuld in Bezug auf die Ausbreitung der Pandemie zugewiesen wird und die zugleich auf (zunehmende oder vereinzelte?) Konflikte zwischen jungen und älteren Menschen hindeutet. Bereits im August sprach der Jugendforscher Hurrelmann in einem Spiegelinterview von einen „Generationenkonflikt“ (Musall 2020). Seitdem hat die Kritik an den jungen Menschen eher zugenommen. Dem steht eine Realität gegenüber, die das Bild einer sich unsozial verhaltenden Jugend keineswegs bestätigt. Dies wird anhand von Statistiken und der Jugendforschung skizzenhaft dargestellt, um anschließend die Forschungslage zur Jugend in Coronazeiten anzuschauen. Dabei wird der Blick vor allem darauf gerichtet, wie es um benachteiligte junge Menschen und Jugendliche aus der Kinder- und Jugendhilfe bestellt ist.
‚Die‘ Jugend soll lernen sich einzuschränken, Rücksicht auf die gefährdeten alten Menschen nehmen (lernen), sich im Feiern zurückhalten, sich nicht so anstellen...Kommentierungen vor allem älterer Menschen zu ‚der‘ Jugend. Das Party machen sei zurückzustellen, der Ernst des Lebens zu erkennen und anzunehmen und insgesamt sei alles halb so schlimm, früher sei vieles Schlimmer gewesen – so der Tenor in Kommentaren zu Medienberichten, die junge Menschen und ihre Bedürfnisse (u.a. „Party machen“) in den Fokus rückten. „Beschimpfungen auf jedem Niveau und Verteidigungsreden aller Art tobten durchs Netz“ (Brandt 24.10.2020, S. 2). Nicole Diekmann sieht die Debattenkultur „längst am Beatmungsgerät hängen“ und den „Wutfaktor weiter exponentiell wachsen“ (Diekmann 20.10.2020).
Neben Medienberichten können auch politische Kommentierungen zu Konflikten beitragen. Der Gesundheitsminister Österreichs Rudi Anschober fordert von der Jugend am 18. August via Twitter: "Reißt euch zusammen und übernehmt Verantwortung“ (Edhofer 07.09.2020). Die deutsche Bundeskanzlerin folgte im Oktober: "Gerade die Jugend ist es, an die wir jetzt auch appellieren müssen, lieber heute auf 'n paar Feten und Feiern und Partys zu verzichten, um morgen und übermorgen gut leben zu können" (www.handelsblatt.com/dpa-Meldung, 14.10.2020).
Durch die Debatte über die Covid-19-Pandemie werden bereits bestehende gesellschaftliche Spaltungen etwa in den USA oder Brasilien verschärft. In Deutschland sind diese Tendenzen ebenfalls feststellbar, wenngleich es sich eher um einen Riss als um eine Spaltung handelt (Rechtstrend in Teilen der Bevölkerung; die AfD in den Parlamenten, Coronaleugner*innen und Skeptiker*innen auf der Straße; Verschwörungstheoretiker*innen und Reichsbürger*innen machen sich lautstark bemerkbar, die Beschleunigung des sozialen Auseinanderdriftens der Gesellschaft etc.). Vielleicht gibt es mit Zuspitzung der Pandemiesituation auch eine zunehmende Spaltung zwischen jungen und älteren Menschen? Gewaltausbrüche wie in Stuttgart (vgl. Welzhofer 2020, Langer 2020) und Frankfurt (vgl. Garbe et al. 2020) sowie Partybilder von jungen Menschen zeigen Wirkung und führen zunehmend zu einem Bild einer rücksichtslosen jungen Generation.
Studien (die im Übrigen ebenfalls ein großes Presseecho fanden) zeigen deutlich, dass die jungen Menschen keineswegs verantwortungslos(er) handeln als Erwachsene. Laut Robert-Koch-Institut und der Jugendstudie der TUI-Stiftung ist das Verhalten der jungen Menschen nur minimal abweichend von dem der Erwachsenen. 83% gaben an sich an alle oder überwiegend alle Vorschriften zu halten (Spittler 2020, S. 2).
Eine Reporterin fasst treffend zusammen: „Die Jungen verstehen die Welt nicht mehr. Monatelang keine Freundinnen und Freunde treffen, keine Privatsphäre, keine Selbstbestimmung und heute gelten die Jungen, trotz Lockdown, Home Schooling und Deprivation bald als das Feindbild der Nation. Dabei sind Sozialkontakte für junge Menschen nicht nur einfach ein Zeitvertreib, sondern beeinflussen aus entwicklungspsychologischer Sicht die eigene Identitätsfindung maßgeblich“ (Edhofer 07.09.2020).
Kritik an der Jugend ist keineswegs ein neues Phänomen, ebenso wenig wie Generationenkonflikte: „Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen“ (Aristoteles, 384-322 v. Chr.); „Sie (die Jugend) hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte“(Sokrates, um 469 v. Chr.). Spittler spricht davon, dass Generationenkonflikte oft ein Frame sind, der eine inhaltliche Rahmung von sozialen Konflikten hin zu eher symbolischen Fragen verschiebt. Einen Generationenkonflikt zu konstruieren, der in In- und Out-Group aufteilt, Gruppenidentität vermittelt und sowohl von Gegner*innen als auch Befürworter*innen einer Position zur Mobilisierung genutzt wird, habe die Funktion, Unterschiede zwischen den Generationen größer aussehen zu lassen als sie wirklich sind (Spittler 2020, S. 6). Auch die Familienministerin Giffey forderte, Alt und Jung nicht gegeneinander auszuspielen. Zugleich warb sie um Verständnis für jungen Menschen und warnte vor einer Pauschalkritik (dpa, 12.10.2020, ARD-Nachrichten, 11.11.2020).
Im Dialog Erziehungshilfe erschien in der Ausgabe 3/2017 ein Beitrag mit dem Titel „(Fast) Alles wird besser. Die Jugend in ein positives Licht gerückt“. Darin wurde aufgezeigt, dass junge Menschen in den letzten Jahren/Jahrzehnten einen großen (vielleicht sogar schon zu großen?) Wandel vollzogen haben, der mit der ‚wilden‘ Jugendphase des gesellschaftlichen wie individuellen Überschreitens von Grenzen und dem schlechten Ruf der Jugend bei einem Teil der älteren Generation, wenig zu tun hat. Es gibt massive Rückgänge bei der Jugendkriminalität und den Verurteilungen, die Gewalttaten unter Jugendlichen und durch junge Menschen nehmen deutlich ab, es gibt seit Jahren einen starken Rückgang beim Alkoholkonsum, das Rauchen von Zigaretten spielt mittlerweile eine fast marginale Rolle und sinkt auf einen historischen Tiefstand, es werden weniger harte Drogen konsumiert, es gibt eine hohe Erwerbsbeteiligung und ein großes Bildungsinteresse. Auch die Zufriedenheit in Bezug auf die Eltern/die familiäre Situation ist sehr hoch (vgl. Gravelmann 2017). Viele Klischees über ‚die‘ Jugend sind somit unzutreffend. So bestätigen auch die vorliegenden Studien zu Jugendlichen in der Coronapandemie, dass sie sich solidarisch zeigen, etwa indem sie sich an Lieferdiensten für ältere Menschen beteiligen oder diese ins Leben rufen, vor allem aber halten sich junge Menschen sich sehr weitgehend an die Vorgaben. Und das, obwohl die Einschränkungen durch die Coronamaßnahmen jüngere Menschen (abgefragt war hier die Altersspanne von 18-39 Jahren) deutlich mehr Probleme bereiten als älteren Menschen (vgl. Ehni 2020).
Da die Corona-Krise junge Menschen in einer sensiblen Entwicklungsphase trifft, die -wie der 14. Kinder- und Jugendbericht treffend zusammenfasst- durch die Kernherausforderungen Qualifizierung, Verselbstständigung und Selbstpositionierung geprägt ist (vgl. Dt. Bundestag 2013), sind ihre Auswirkungen besonders gravierend. Die für sich genommen schon großen Herausforderungen der Jugendphase, werden durch die Coronapandemie mit den damit verbundenen massiven Einschränkungen noch mal deutlich verschärft. Entsprechend sind Kommentierungen von Erwachsenen unsensibel und unangemessen, die mangelndes Verständnis für die Bedürfnisse und Sorgen der jungen Menschen zeigen.
Zudem sind junge Menschen von der Pandemie auch deshalb besonders betroffen, weil der Faktor Zeit in jungen Lebensphasen hoch bedeutsam ist. Corsten spricht von der „Rush Hour des Lebens“ (Monecke 2020). Ein (Corona)Jahr im jugendlichen Alter hat eine „andere soziale, qualifikatorische, körperliche und persönliche Entwicklungsdynamik als im Erwachsenenalter“ (Andresen et al. 2020a, S. 1). Und auch in der Studie der TUI-Stiftung wird daher zu Recht darauf hingewiesen, dass die Einschränkungen auf jüngere bzw. ältere Altersgruppen keineswegs gleich wirken. Als Beispiel wird benannt, dass eine ausfallende Reise für junge Menschen eben oft nicht nur ein Urlaub ist, der ausfällt, sondern dass eine Lebens- und Bildungserfahrung ausbleibt, wenn etwa ein Auslandssemester oder ein Sprachkurs nicht stattfinden können und ausfallende Veranstaltungen mit Gleichaltrigen wie z.B. Zeltlager die Entwicklung einer eigenen Identität erschweren (Spittler 2020).
Den Wissenschaftler*innen gelingt es in ihren Studien nur unzureichend Jugend in ihrer Vielfalt zu erreichen und zu befragen. Der Blick in die wenigen Jugendstudien in der Coronazeit macht deutliche Schwächen sichtbar.
Wo ist von den Hauptschüler*innen, deren berufliche Perspektiven bei reduziertem Ausbildungs- und Arbeitsplatzangebot deutlich eingeschränkt werden? Wo bleiben Studien über die Betroffenheit junger Geflüchteter? Wer untersucht die besonderen Lebenslagen etwa von Straßenkindern in Coronazeiten? Welche Studiendesigns sind geeignet, die veränderten Bedingungen in der stationären Erziehungshilfe wissenschaftlich in den Blick zu nehmen?
Warum tut sich Wissenschaft so schwer beim Zugang zu den Kindern und Jugendlichen im Feld der Kinder- und Jugendhilfe bzw. Erziehungshilfe? Warum gelingt es -nicht nur bei Corona-Studien- kaum „Randgruppen“ oder benachteiligte junge Menschen zu erreichen? Sind die Zugänge ungeeignet? Mangelt es an (auch sprachlicher) Barrierefreiheit? Fehlt der (schnelle) Zugang zum Feld? Sind finanzielle Aspekte ausschlaggebend? Eignet sich der (eingeengte) Forschungsfokus nicht für Schlagzeilen? Jedenfalls bestehen Forschungslücken, die es dringend zu schließen gilt. Ein spannender Ansatz wäre gerade in der Anfangszeit der Pandemie gewesen z.B. zu analysieren, wie verbreitet und wie lange anhaltend auch positive Effekte bei jungen Menschen in der Erziehungshilfe festzustellen waren, etwa weil der „Außendruck“ durch die Schule weggefallen ist (s. dazu z.B. Dialog Erziehungshilfe sowie CorSJH-Studie, 2020) und was ließe sich daraus für „normale“ Zeiten ableiten? Wie wirkt sich Corona auf den Alltag in den Einrichtungen aus und insbesondere auf das Beziehungsverhältnis von jungen Menschen zu den Fachkräften, Eltern oder Freund*innen aus? Oder es könnte erforscht werden, welche Auswirkungen bei jungen Menschen in der Jugendhilfe in Bezug auf psychische Beeinträchtigungen oder den Kernherausforderungen der Qualifizierung, der Verselbstständigung und der Selbstpositionierung feststellbar sind? Es sind viele interessante Forschungsperspektiven denkbar und wünschenswert.
Zumindest die Forscher*innen der JuCo-Erhebung kündigten nach der Auswertung der 1. Studie an, sie wollten daran weiterarbeiten, die Hemmschwellen zu senken und Barrierefreiheit bei Erhebungen zu erreichen (vgl. Andresen et al. 2020, S. 8). Bei der zweiten Erhebung zu Jugend und Corona, die Mitte November 2020 begann, gab es dann auch eine Umfrageversion in Leichter Sprache (vgl. Forum-Transfer, 13.11.2020).
Es bleibt abzuwarten, ob Studien folgen, die den Fokus gezielt auf benachteiligte junge Menschen richten.
Abschließend soll eine Studie benannt werden, die den Versuch unternommen hat, mit einer Befragung eine größere Anzahl junger Menschen aus der stationären Jugendhilfe zu erreichen. Diese Online-Studie mit dem Titel „Die Corona-Krise aus der Perspektive von jungen Menschen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe (CorSJH)“ wurde im September 2020 veröffentlicht (Jenkel et al. 2020). Sie stammt aus der Schweiz, umfasste aber auch junge Menschen ab 14 Jahren in stationärer Unterbringung in Deutschland, Luxemburg und Österreich. Insgesamt haben sich 238 junge Menschen beteiligt. Das Durchschnittsalter der Teilnehmenden betrug 16 Jahre; jeweils fast genau zur Hälfte gaben männliche (51,3%) und weibliche (43,3%) junge Menschen eine Rückmeldung. Auch wenn es gelungen ist, diese recht große Anzahl an jungen Menschen aus geschätzt 60-80 Einrichtungen zur Teilnahme zu gewinnen (ebd., S. 5-6), so schränken auch hier die Autor*innen ein, dass Effekte der Selbstselektion berücksichtigt werden müssen, denn man könne davon ausgehen, dass „vor allem die Motiviertesten und solche, die gerade nicht allzu stark belastet waren, ausreichend Zeit und Online-Zugang hatten, an der Studie teilgenommen haben“ (ebd., S.7). Zudem stellte der differenzierte Fragebogen mit über 100 Fragen ein Problem dar (ebd., S. 7).
Die Ergebnisse der Studie sind nichtsdestotrotz sehr interessant.
Die Autor*innen fordern abschließend dazu auf, zu analysieren und zu reflektieren, was in der Coronakrise in den stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe gut gelungen ist und welche Herausforderungen nicht gut bewältigt wurden.
Insgesamt scheint die öffentliche Debatte in Deutschland (noch) besonnen und auch die Sicht der jungen Menschen wird mittlerweile zunehmend in den Berichterstattungen aufgegriffen (vgl. z.B. Krafczyk 2020, Hagemann 2020) bzw. eingefordert (vgl. AGJ 2020, BAG Landesjugendämter 2020). Die Familienministerin Giffey forderte, Alt und Jung nicht gegeneinander auszuspielen. Zugleich warnte sie vor einer Pauschalkritik an jungen Menschen (dpa, 12.11.2020).
Die Notwendigkeit von mehr und zudem spezifisch akzentuierten Studien in stationären Settings und anderen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe im Kontext der Coronapandemie ist evident, insbesondere wenn es um das Erleben der Krise aus Sicht der jungen Menschen und um die Auswirkungen auf ihre Lebenssituation geht.
Letztlich ist es auch Aufgabe von Forschung und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe sich an öffentlichen Debatten zu beteiligen und zu (mehr) Verständnis für die jungen Menschen allgemein beizutragen und insbesondere Jugendliche in prekären Lebenslagen sichtbarer zu machen, damit sie bedarfsgerechtere Unterstützung erfahren können (vgl. Andresen et al. 2020a, S. 3; vgl. Holz & Richter-Kornweitz 2020). Es gilt, die Erwachsenenperspektive zu verlassen, die Interessen und Bedarfe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ernst zu nehmen, sie bei anstehenden Entscheidungen bei Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung einzubeziehen und die Auswirkungen für Kinder und Jugendliche zu reflektieren (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter 2020; vgl. AGJ 2020).
(*) Alle Zitate sind in der Originalschreibweise mit Rechtschreibfehlern wiedergegeben.