Jugendforschung

Erster Kinder- und Jugendbericht für Rheinland-Pfalz liegt vor

Nach knapp 15-monatiger Arbeit hat eine Arbeitsgruppe der drei Universitäten Koblenz-Landau, Mainz und Trier jetzt den ersten Kinder- und Jugendbericht Rheinland-Pfalz vorgelegt, der den Titel trägt: „Zwischen Infrastruktur und Intervention – zur Verantwortung von Staat und Gesellschaft für das Heranwachsen von Kindern und Jugendlichen in Rheinland-Pfalz“.

17.05.2010

Am 1. März 2007 hatte der Landtag beschlossen, dass die Landesregierung einmal pro Legislaturperiode – beginnend mit dem Jahr 2010 – einen nach Landkreisen und Städten differenzierten Kinder- und Jugendbericht für Rheinland-Pfalz vorlegen solle, der von externen Fachleuten erstellt werde. 

Gemeinsam mit den Autoren, Prof. Dr. Christian Schrapper (Universität Koblenz-Landau) und Prof. Dr. Franz Hamburger (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) sowie mit Dr. Magdalena Joos (Universität Trier), die den dritten Co-Autor Prof. Dr. Michael-Sebastian Honig vertrat, stellten Bildungs- und Jugendministerin Doris Ahnen sowie der Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen, Christoph Habermann, am 17. Mai 2010 die wesentlichen Ergebnisse des rund 600 Seiten starken Berichts vor. Die Wissenschaftler hielten dabei fest, dass auf Grund der aktuellen Datenlage „lediglich eine erste Annäherung“ an verbindliche Empfehlungen möglich sei. Doris Ahnen und Christoph Habermann unterstrichen, aus demselben Grund sei vor allem bei einer regionalisierten Auswertung der ausgewählten Parameter und der daraus abgeleiteten Indikatoren noch große Vorsicht angezeigt.

„Interessant für kinder- und jugendpolitische Entscheidungen ist bei dem jetzt vorliegenden ,Pilotbericht’ vor allem, dass er die unterschiedlichsten Einflüsse für ein gelingendes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt und sie zu einander in Beziehung zu setzen versucht. Diese Gesamtkonzeption ist für Deutschland ein neuer Ansatz“, hielt die Bildungs- und Jugendministerin fest. Insgesamt könne sich die Landesregierung durch die Ergebnisse des Berichts in ihrem kinder-, jugend- und familienpolitischen Handeln bestätigt sehen. Der Bericht lege nahe, dass vor allem Vorhaben wie der Ausbau der frühkindlichen Bildungsangebote durch das Landesprogramm „Zukunftschance Kinder – Bildung von Anfang an“, die flächendeckende landesweite Sprachförderung vor der Einschulung, der stetige Ausbau von Ganztagsschulen und Schulsozialarbeit oder die verstärkte Öffnung von Schulen für Kooperationen mit außerschulischen Partnern intensiviert und engagiert weiter vorangetrieben werden sollten.

Auch Christoph Habermann, Staatssekretär im Familienministerium, begrüßte den ersten Kinder- und Jugendbericht als wichtigen Beitrag für die Kinder-, Jugend- und Familienpolitik in Rheinland-Pfalz. „Der Bericht gibt einen guten Überblick über die vielen Initiativen zur Förderung von Kindergesundheit, zum Schutz von Kindeswohl und zur Verbesserung der beruflichen Ausbildung von Jugendlichen, um nur drei Aspekte zu benennen.“ Habermann verwies darauf, dass mit dem Landesgesetz zum Schutz von Kindeswohl und Kindergesundheit kein Kontrollinstrument für Eltern geschaffen wurde, sondern der Ausbau von frühen Hilfen gestärkt und die Zusammenarbeit zwischen Gesundheitswesen und Jugendhilfe gefördert wird. Abschließend verwies der Staatssekretär auf den für Juni 2010 geplanten Bericht zu den „Hilfen zur Erziehung“, der detailliert die Aufgaben und Aktivitäten von Jugendämtern und Land beschreibt, wie das Kindeswohl am besten gefördert werden kann.

Der Bericht wird nun dem Landtag und dem Landesjugendhilfeausschuss zur weiteren Diskussion vorgelegt. Um für kommende Kinder- und Jugendberichte noch präzisere und aussagekräftigere Datengrundlagen zu bekommen, schlug Ministerin Ahnen den am ersten Bericht beteiligten Hochschulen vor, einen „Wissenschafts-Praxis-Dialog“ mit den öffentlichen und mit den freien Trägern der Kinder- und Jugendarbeit aufzunehmen.

Zusammenfassung des ersten Kinder- und Jugendberichtes Rheinland-Pfalz

Der erste Teil des Berichts zeigt, welche prägenden Lebenssituationen und Lebensbedingungen junger Menschen sich aus der Vielzahl verfügbarer Zahlen, Daten und Fakten herausarbeiten lassen. Hier findet sich das aktuell verfügbare Datenmaterial zu einschlägigen Themen – von der Bevölkerungsentwicklung über Familienformen, familiäre Wohnsituationen und Erwerbstätigkeit bis zu den sozialen Verhältnissen. Armut und Armutsgefährdung werden dabei als besonders bedeutsame Beeinträchtigungen für ein gutes Aufwachsen aller Kinder herausgestellt: Die Armutsgefährdungsquote sei – wie im Bundestrend – auch für Kinder und Jugendliche in Rheinland-Pfalz angestiegen. Im internationalen Vergleich zeigt sich zudem, dass Einkommensungleichheit in Deutschland mehr als in jedem anderen OECD-Land zugenommen hat und dass diese Zunahme wie schon in den Vorjahren Kinder unter 15 Jahren besonders trifft.

Zum anderen wird im ersten Teil des Berichts ausführlich über Angebote, Leistungen und Aufgaben für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen berichtet, die in öffentlicher Verantwortung liegen. Gegliedert ist dieses Kapitel in die vier Schwerpunkte: Gesundheit, Kinder- und Jugendhilfe, Schule und Partizipation. Hier, so halten die Autoren fest, sei viel Positives zu berichten. So spiele Rheinland-Pfalz in wichtigen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe bundesweit eine Vorreiterrolle, besonders in der Kindertagesbetreuung, bei den frühen präventiven Hilfestellungen und bei den Jugendberufshilfen. Es zeigten sich aber auch Felder mit weiterem Entwicklungsbedarf wie bei den präventiven Angeboten in der Jugendarbeit oder den Jugendhilfeaufgaben in Zusammenarbeit mit der Jugendstrafrechtspflege.

Im zweiten Teil des Berichts wird ein auf der Grundlage auch international anerkannter Erkenntnisse ein Konzept der Sozialberichterstattung entwickelt, um das vielfältige Datenmaterial für eine regional differenzierende Betrachtung der Lebensverhältnisse junger Menschen in Rheinland-Pfalz ordnend und zusammenfassend zu erschließen. Mit Hilfe von 101 Kennzahlen, 14 unterschiedlichen Indikatoren und vier Indices hat die Arbeitsgruppe dazu den international gebräuchlichen Gesamtindex „Child Well-being“ gebildet, in dem objektive Voraussetzungen für ein gutes Aufwachsen junger Menschen mit subjektiven Bewertungen individueller Lebensentwürfe und Lebenschancen verknüpft werden. Das Konzept umfasst drei Dimensionen und versucht, Antworten auf die Fragen zu geben: „Welche Faktoren prägen die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen, die in Rheinland-Pfalz groß werden?“; „Welche Effekte und Wirkungen haben sozialstaatliche Leistungen und Strukturen für die Verwirklichungschancen junger Menschen?“ und: „Welche Handlungsperspektiven und Verwirklichungschancen sehen junge Menschen in ihren Lebensräumen?“.

Die Arbeitsgruppe kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die heute verfügbaren Daten und Informationen über Situationen und Entwicklungen in den Kreisen und Städten (noch) unvollständig sind und lediglich eine erste Annäherung an Antworten ermöglichen. Daraus leitet das Autorenteam des ersten Kinder- und Jugendberichts Empfehlungen für die Weiterentwicklung der öffentlichen Statistik und eine zukünftige Berichterstattung auf dieser Grundlage ab. Die vorliegenden Daten zeigten aber bereits deutlich ein ausgesprochen vielgestaltiges Bild der Lebensbedingungen und Lebenschancen junger Menschen im Land, hält der Bericht fest. Ein regionales Ranking könne daraus aber nicht abgleitet werden. Zusammenfassen lassen sich die Erkenntnisse in drei zentralen Aussagen:

  • Die Landkreise und kreisfreien Städte in Rheinland-Pfalz weisen jeweils eigene Profile der Lebensbedingungen junger Menschen und Familien auf.
  • Es gibt viele Hinweise darauf, dass die Lebensbedingungen und die darauf bezogenen sozialstaatlichen Aktivitäten in den Städten besonders prägnant sind: Armut und Reichtum oder niedriger und hoher Bildungserfolg liegen hier nahe beieinander. Ausgeprägter als in den Landkreisen müssen Städte diese Risiken und Möglichkeiten gestalten. Ihre Potenziale, Unterschiede auszubalancieren, haben wesentlich zur Stabilität moderner Gesellschaften beigetragen.
  • Ungleichheit abzubauen und Differenz demokratisch zu kultivieren ist insbesondere bei der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund eine große Herausforderung für die Ausgestaltung und Entwicklung positiver Lebensbedingungen für alle jungen Menschen in Rheinland-Pfalz.

Der dritte Teil des Berichts greift exemplarisch drei Aspekte der Lebensverhältnisse junger Menschen in Rheinland-Pfalz auf, um sie vertiefend zu untersuchen. Zwei davon betreffen eine Schlüsselstellung im Lebenslauf, nämlich erstens den „Start ins Leben“ und die ersten sechs Lebensjahre und zweitens die Übergänge Jugendlicher in Ausbildung und Beruf nach der Schulzeit. Als dritter Aspekt wird die Bedeutung der Lage des Landes Rheinland-Pfalz im Verhältnis zu den Nachbarn in Belgien, Luxemburg und Frankreich für das Aufwachsen von Kinder und Jugendlichen beleuchtet.

Dabei konstatiert der Bericht: Die Versorgung mit Angeboten der Kindertagesbetreuung im Land ist gut, ebenso fällt im Bundesvergleich der Betreuer-Kind-Schlüssel überdurchschnittlich gut aus. Auch die Anstrengungen im Bereich der Fortbildung von Fachkräften sind hervorzuheben. Die Hilfsangebote für Familien sind in der Regel dort besonders vielfältig, wo relativ viele Kinder geboren werden und wo besonders viele Familien mit Kleinkindern leben. Die Unterstützungsstrukturen entsprechen also im Allgemeinen der erwartbaren Bedarfslage junger Familien. Andererseits sollten aber Unterstützungssysteme für junge Familien im Land Rheinland-Pfalz noch besser auf die sehr unterschiedlichen Bedarfs- und Problemlagen in den Städten und Kreisen des Landes zugeschnitten werden.

Neben vielen Hinweisen auf gelungene Übergänge und erfolgreiche Abschlüsse in den Schulen des Landes, die die Arbeitsgruppe gesammelt hat, konstatiert sie gerade auf diesem Feld allerdings auch noch Handlungsbedarf. So haben aktuell fast drei Viertel aller Schulabgängerinnen und Schulabgänger die Mittlere Reife oder eine Hochschulzugangsberechtigung erworben. Zugleich ist der Anteil von jungen Menschen, die die Schule ohne den Abschluss der Berufsreife verlassen, in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. Rheinland-Pfalz schneidet dabei zwar besser ab als der Durchschnitt aller Bundesländer, jedoch liegt diese Quote (inklusive der Abgängerinnen und Abgänger von Förderschulen) immer noch knapp unter sieben Prozent. Ein überproportional hoher Anteil dieser Gruppe kommt aus Familien mit Migrationshintergrund. Dabei wird der Start Jugendlicher mit Migrationshintergrund ins Erwachsenenleben wesentlich auch von der sozialen Herkunft bestimmt, teilweise allerdings auch von Diskriminierung und von den Belastungen, die mit Migration verbunden sein können. Die Ungleichheit des Bildungserfolgs variiert im Land außerdem regional.

Abgeschlossen wird der Kinder- und Jugendbericht Rheinland-Pfalz im vierten Teil mit Empfehlungen für die Landespolitik für die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendpolitik einerseits und für die zukünftige Kinder- und Jugendberichterstattung des Landes andererseits. Dabei halten die Berichterstatter unter anderem fest:

  1. Die regionalen Besonderheiten und Bedingungen der Lebensverhältnisse und Lebenschancen für junge Menschen im Land sollten zukünftig in stärkerem Maße in landespolitischen Initiativen und Programmen berücksichtigt werden.
  2. Die regionale Verantwortung für eine bedarfsgerechte Gestaltung von Leistungen und Angeboten für junge Menschen und ihre Familien sollte durch landespolitische Initiativen und Programme ebenso unterstützt wie herausgefordert werden.
  3. Einen guten „Start ins Kinderleben“ in allen Regionen zu ermöglichen, ist eine zentrale Aufgabe öffentlicher Verantwortung. In den vergangenen Jahren sind hierfür sowohl im Bereich des Kinderschutzes als auch beim Ausbau des Bildungs- und Betreuungsangebots bemerkenswerte Initiativen ergriffen worden. Dennoch sollten in Zukunft die regionalen Besonderheiten und Problemlagen in der Etablierung von Infrastrukturen und bei der Realisierung von Programmen stärker berücksichtigt werden.
  4. Für die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in Rheinland-Pfalz wird unter anderem vorgeschlagen: Die Jugendhilfeplanung sollte ausgebaut werden. Neue Organisations- und Finanzierungsmodelle für die Kooperation von Kinder- und Jugendhilfe einerseits sowie Schulen andererseits sollten entwickelt und erprobt werden. Die freie Kinder- und Jugendarbeit sollte als eigenständiges Angebot abgesichert und ebenso weiterentwickelt werden wie die Kinder- und Jugendhilfe als zentraler Beitrag für gerechtes Aufwachsen und soziale Teilhabechancen.
  5. Um junge Menschen auf dem Weg ins Erwachsenenleben zu stärken, wird empfohlen, das Recht der Jugend auf eine selbstgestaltete Jugendphase auch in öffentlich-politischen Debatten deutlicher herauszustellen und neben umfassenden Leistungserwartungen, die an junge Menschen gestellt werden, auch Freiräume zu beschreiben, die sie selbst ausgestalten können. Wo Jugendliche unterhalb eines allgemein akzeptierten Lebensniveaus die Jugendphase zu verlassen drohten, solle die öffentliche Verantwortung deutlicher wahrgenommen werden. Und die nachweisbare Benachteiligung junger Menschen mit Migrationshintergrund solle dadurch weiter abgebaut werden, dass vor allem in der Gestaltung schulischer Angebote und in der Berufsausbildung stärker an die großen Potentiale von Jugendlichen mit Migrationserfahrungen angeknüpft werde. Dafür gebe es positive Beispiele.
  6. In einem Europa offener Grenzen gilt es, perspektivisch eine systematische Bestandsaufnahme der Institutionen und Lernfelder sowie der internationalen Zusammenarbeit im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe aufzubauen. Das gilt besonders für Rheinland-Pfalz, in dem die großregionale Vernetzung mit den Nachbarregionen aus Belgien, Frankreich und Luxemburg einen besonderen Stellenwert hat.
  7. Eine kontinuierliche Berichterstattung über die Lebensverhältnisse und Lebenschancen junger Menschen in Rheinland-Pfalz sollte als Basis einer kinder-, jugend- und familienfreundlichen Politik entwickelt und ausgebaut werden.

Quelle: Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz

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