Wohlfahrtspflege

Was beim Kinder- und Jugendstärkungsgesetz noch zu verbessern ist

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege hat sich zum Regierungsentwurf eines Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes positioniert. Viele Regelungen seien sinnvoll und notwendig, heißt es darin. Jetzt gelte es, das Vorhaben zügig voranzutreiben und in der laufenden Legislaturperiode abzuschließen.

10.02.2021

Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz geht in das parlamentarische Verfahren. Grundlage ist der Regierungsentwurf vom 2. Dezember 2020 (RegE KJSG). Der Entwurf enthält viele Regelungen, die nach Auffassung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) e.V. sinnvoll und notwendig sind. Vieles entspricht Forderungen der BAGFW. Daher unterstützt die BAGFW das Vorhaben und appelliert an die Verantwortlichen in Bundestag und Bundesrat, das Vorhaben zügig voranzutreiben und in der laufenden Legislaturperiode abzuschließen.

Die BAGFW begrüßt insbesondere, dass:

  • eine inklusive Programmatik verfolgt wird,
  • die Jugendarbeit inklusiv ausgestaltet wird,
  • die inklusive Ausgestaltung der Kindertageseinrichtungen verbindlich verankert wird,
  • selbstorganisierte Zusammenschlüsse der Selbstvertretung gefördert werden sollen,
  • flächendeckend Ombudsstellen eingerichtet werden,
  • die Vorschriften zum Schutz von jungen Menschen vor Gewalt verbessert werden,
  • die Beteiligung von jungen Menschen und ihren Familien ausgebaut wird, und dass
  • die Vorschrift über die Vergütungsvereinbarung für ambulante Leistungen endlich klarstellt, dass auch die der Vergütung korrespondierende Leistung schriftlich zu vereinbaren ist.

Gleichwohl habe der Entwurf noch Mängel, die im parlamentarischen Verfahren behoben werden sollten. Diese werden im Positionspapier „Kinder- und Jugendstärkungsgesetz auf der Zielgeraden. Was schon gelungen und was noch zu verbessern ist“ (PDF) angesprochen.

Im Folgenden werden die empfohlenen Nachbesserungen im Wortlaut aufgeführt:

Kinderschutz

Regelhafte Vorlage des Hilfeplans im familiengerichtlichen Verfahren

Der Entwurf sieht vor, dass die Jugendämter verpflichtet werden sollen, in bestimmten familiengerichtlichen Verfahren den Hilfeplan vorzulegen (§ 50 SGB VIII RegE KJSG). Diese Regelung wurde von der Fachwelt einmütig scharf kritisiert. Das Hilfeplanverfahren würde beschädigt, wenn bei der Abfassung des Hilfeplans mitbedacht werden müsste, welche Folgen dessen Inhalte in einem familiengerichtlichen Verfahren zeitigen können. § 50 SGB VIII sollte daher nicht geändert werden.

Rolle der Berufsgeheimnisträger

Bislang sieht das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) in § 4 vor, dass Berufsgeheimnisträger, die mit der Möglichkeit einer Kindeswohlgefährdung konfrontiert sind, zunächst versuchen, die Beteiligten dabei zu unterstützen, aus eigenem Antrieb Hilfe zu suchen und ggf. auf das Jugendamt zuzugehen. Der Entwurf sieht unverändert vor, dass § 4 KKG umgestellt wird. Damit tritt die Information des Jugendamtes an die erste Stelle. Der Auftrag der Berufsgeheimnisträger, die Situation zunächst selbst mit den Beteiligten zu erörtern und auf Inanspruchnahme von Unterstützung durch das Jugendamt hinzuwirken, rutscht an die zweite Stelle. Diese Umkehrung erschwert die Zielerreichung der Maßnahmen und sollte zurückgenommen werden.

Örtliche Prüfung von Einrichtungen

Der Entwurf sieht vor, die Prüfung von Einrichtungen im schriftlichen Verfahren zuzulassen, ohne klarzustellen, dass stets auch örtliche Prüfungen erforderlich sind. Die zusätzliche Möglichkeit schriftlicher Prüfungen ist eine sinnvolle Ergänzung, kann aber nur unterstützt werden, wenn ausgeschlossen ist, dass sie zu Lasten der Prüfungen vor Ort geht. Eine entsprechende Klarstellung in § 46 SGB VIII RegE KJSG erscheint dringend erforderlich.

Schwelle für die Rücknahme der Betriebserlaubnis von Einrichtungen

Das Recht der Betriebserlaubnis für Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe wird weiterentwickelt, doch soll es dabei bleiben, dass die Betriebserlaubnis einer stationären Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe erst dann widerrufen werden darf, wenn eine Kindeswohlgefährdung vorliegt (§ 45 Abs. 7 SGB VIII RegE KJSG). Der Begriff der Kindeswohlgefährdung ist eng mit der Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII) und dem Entzug des Sorgerechts (§ 1666 BGB) verbunden. Er steht daher für eine sehr hohe Schwelle. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben deutlich gezeigt, dass diese Schwelle zu hoch ist. Eine Betriebserlaubnis muss bereits dann widerrufen werden können, wenn eine Beeinträchtigung des Kindeswohls vorliegt und der Träger nicht bereit oder nicht in der Lage ist, diese Beeinträchtigung zu beheben.

Einrichtungsbegriff

Der Entwurf sieht vor, dass der Begriff der Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe erstmals gesetzlich definiert wird (§ 45a SGB VIII RegE). Die Regelung stellt aber nicht sicher, dass alle Betreuungsformen einer Erlaubnispflicht unterliegen. Sie überlässt es den Ländern, inwieweit sie die Lücke zwischen der Pflegeerlaubnis (§ 44 SGB VIII) und der Betriebserlaubnis (§ 45 SGB VIII) schließen. So kann die Regelung dazu führen, dass Kleinsteinrichtungen einer Kontrolle weitgehend entzogen werden. Dazu darf es nicht kommen. Die Länderöffnungsklausel ist daher verfehlt und durch eine Regelung zu ersetzen, die sicherstellt, dass alle familienähnlichen Betreuungsformen, die weder eine Pflegeerlaubnis nach § 44 SGB VIII, noch eine Erlaubnis zur Kindertagespflege nach § 43 SGB VIII benötigen, einer Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII bedürfen.

Inklusion

Inklusive Lösung und Status quo-Klausel

Bislang sind die Jugendämter für Leistungen an Kinder und Jugendliche mit einer seelischen Behinderung verantwortlich. Liegt dagegen eine geistige oder eine körperliche Behinderung vor, sind die Träger der Eingliederungshilfe zuständig. Diese Aufteilung hat sich nicht bewährt. Kindern mit Behinderungen bleiben oftmals Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe verwehrt. Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen Behörden erzeugen Leistungslücken und -verzögerungen. Die Aufteilung der Zuständigkeiten ist außerdem mit einer Ungleichbehandlung der beiden Gruppen hinsichtlich der Eigenbeteiligung an den Kosten verbunden, die nicht zu rechtfertigen ist. Der Entwurf enthält erste Schritte, die zu einer Gesamtzuständigkeit des Jugendamts für Leistungen der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen führen sollen, ohne diese selbst bereits zu enthalten. Die Regelung der Gesamtzuständigkeit soll einem künftigen Gesetz vorbehalten sein, das bis zum 31.12.2027 verabschiedet werden soll. Zuvor soll eine Untersuchung durchgeführt werden, die die (kommende) Reform vorbereitet (§ 107 SGB VIII RegE KJSG). In Abs. 2 dieser Vorschrift wird diese Untersuchung dem Ziel unterstellt, „den leistungsberechtigten Personenkreis, Art und Umfang der Leistungen sowie den Umfang der Kostenbeteiligung für die hierzu Verpflichteten nach dem am 1. Januar 2023 für die Eingliederungshilfe geltenden Recht beizubehalten“. Dies bedeutet nicht weniger als eine gesetzliche Festlegung, dass die künftige Reform zwar die Zuständigkeit für bestimmte Eingliederungshilfeleistungen verlagern, aber ansonsten nichts ändern soll (Status-quo-Klausel). Eine solche Festlegung ist entschieden abzulehnen. Die Inklusive Lösung wird sowohl von einer großen Mehrheit der Fachwelt, als auch von betroffenen Eltern und Angehörigen gefordert, um damit die Situation betroffener Kinder und Jugendlicher und ihrer Familien nachhaltig zu verbessern. Dieses Ziel wird nicht erreicht, wenn alles – außer der Zuständigkeit – bleibt, wie es ist. § 107 SGB VIII RegE – mindestens Abs. 2 der Vorschrift – muss daher gestrichen werden.

Sonderstellung der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII

Der Entwurf sieht vor, die Definition des Begriffs der Behinderung aus dem Teilhabeleistungsrecht (§ 2 SGB IX) inhaltsgleich in das Recht der Kinder- und Jugendhilfe zu übertragen (§ 7 Abs. 2 SGB VIII RegE). Das ist sicher sinnvoll, doch zugleich soll in § 35a SGB VIII - der Vorschrift, die die Eingliederungshilfe für junge Menschen mit einer seelischen Behinderung regelt - eine Änderung vorgenommen werden. Danach soll die Definition der Behinderung für § 35a SGB VIII nicht gelten. Dies ist mit der UN-Behindertenrechtskonvention, an der § 2 SGB IX ausgerichtet ist, nicht zu vereinbaren und auch nicht sinnvoll. Die vorgesehene Änderung in § 35a Abs. 1 SGB VIII sollte unterbleiben.

Hilfen zur Erziehung

Betreuung von Kindern in Notsituationen und „mitschwingende Hilfen“

Der Entwurf sieht vor, die Vorschrift über die Betreuung von Kindern in Notsituationen (§ 20 SGB VIII) zu streichen und durch eine neue Regelung im Rahmen der Hilfen zur Erziehung zu ersetzen (§ 28a SGB VIII RegE). Die BAGFW unterstützt die Intention, die mit diesem Vorschlag verfolgt werden soll, hält die vorgesehene Regelung aber für ungeeignet. Sie schafft nicht den erwünschten Anspruch auf „mitschwingende Hilfen“, der insbesondere für Kinder, die mit einem psychisch kranken Elternteil zusammenleben (ca. 3,8 Millionen Kinder in Deutschland) so wichtig sind. Stattdessen werden zusätzliche Hürden errichtet, die die Inanspruchnahme von Betreuungsleistungen in Notsituationen erschweren. Die BAGFW appelliert an die Politik, die Vorschrift noch einmal gründlich zu überdenken und eine Regelung zu finden, die die gute Intention tatsächlich umsetzt. In ihrer Stellungnahme vom 26.10.2020 hat die BAGFW dazu einen Vorschlag formuliert.

Erweiterung der Hilfen zur Erziehung um Angebote der Jugendsozialarbeit

Bislang verweist § 27 SGB VIII (Hilfen zur Erziehung) auf die Jugendberufshilfen nach § 13 Abs. 2 SGB VIII. Das soll mit dem Entwurf geändert werden. Die Hilfen zur Erziehung sollen nun die ganze Jugendsozialarbeit einbeziehen. BAGFW spricht sich gegen diese Erweiterung aus. Sie befürchtet, dass die Erweiterung die Hilfen zur Erziehung aufweicht und die Jugendsozialarbeit als eigenständiges Angebot schwächt. Die BAGFW plädiert dafür, es bei dem bisherigen Verweis auf die Jugendberufshilfe zu belassen.

Kostenbeitrag

Der Entwurf sieht vor, den Kostenbeitrag, den junge Menschen für die Hilfen, die sie erhalten, selbst aufbringen müssen, von 75% ihres Einkommens auf 25% zu reduzieren. Das ist fraglos ein großer Schritt in die richtige Richtung. Doch zugleich soll künftig nicht mehr das Einkommen des Vorjahres zugrunde gelegt werden, sondern das Einkommen des laufenden Jahres (Änderung von § 93 SGB VIII). Das bewirkt, dass der Kostenbeitrag in der ersten Zeit der Erzielung von Einkommen steigen wird, typischer Weise im ersten und oft auch im zweiten Jahr einer beruflichen Ausbildung. Da viele Hilfen (z.B. die Aufnahme in eine Pflegefamilie) bereits während der Dauer der Berufsausbildung enden, müssten viele junge Menschen im Ergebnis mehr Kostenbeitrag bezahlen als heute (siehe Stellungnahme der BAGFW vom 13.1.2021 zum Regierungsentwurf KJSG). Das ist entschieden abzulehnen. Die Änderung von § 93 SGB VIII muss unterbleiben.

Mutter-Kind-Einrichtungen

Der Entwurf sieht keine Änderungen bei den Mutter/Vater-Kind-Einrichtungen (von § 19 SGB VIII) vor. Die Vorschrift adressiert bis heute ausschließlich Alleinerziehende und geht davon das, dass die jungen Mütter, gelegentlich auch Väter, nicht in einer Partnerschaft leben. Die Aufnahme von Elternpaaren oder Partnern von Eltern ist nicht vorgesehen. Das ist nicht sachgerecht und kann zu einer schweren Belastung für den Hilfeprozess werden. Daher sollte § 19 SGB VIII um die Möglichkeit der Aufnahme zweier Elternteile und von Partnerinnen und Partnern erweitert werden.

Leistungsvereinbarungsrecht und Finanzierung

Tarifliche Entlohnung in der Kinder- und Jugendhilfe

Das Recht der Kinder- und Jugendhilfe enthält bis heute keine Regelung, die vorschreibt, dass die Entlohnung der Beschäftigten freier Träger nach einem Tarif stets als angemessen anzuerkennen ist. Mittlerweile nimmt das SGB VIII damit eine Sonderstellung ein. In der Pflege, der Eingliederungshilfe und der Sozialhilfe ist die tarifliche Entlohnung längst anerkannt. Die BAGFW fordert daher, im SGB VIII gesetzlich klarzustellen, dass die tarifliche Entlohnung der Beschäftigten stets als angemessen anerkannt werden muss.

Leistungsvereinbarungsrecht ambulante Leistungen

Die mit dem KJSG vorgesehene Erweiterung der Vorschrift über Vergütungsvereinbarungen für ambulante Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (§ 77 SGB VIII) geht in die richtige Richtung, reicht aber nicht aus. Für die einzelfallbezogen finanzierten ambulanten Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe wird dringend ein differenziertes Leistungsvereinbarungsrecht gebraucht, wie es nicht nur für teil- und vollstationäre Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, sondern auch in der Hilfe zur Pflege und der Eingliederungshilfe längst existiert. Zentrale Elemente sind gesetzlich vorgegebene Mindestbestandteile der Leistungsvereinbarung und eine Schiedsstellenfähigkeit der Vereinbarungen.

Gleichberechtigung junger Menschen aller Geschlechter

Die Kinder- und Jugendhilfe soll die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen berücksichtigen (§ 9 Nr. 3 SGB VIII). Um deutlich zu machen, dass auch junge Menschen mit diversem Geschlecht gemeint sind, werden die Worte „Mädchen und Jungen“ im RegE KJSG durch die Worte „junge Menschen“ ersetzt. Doch mit dieser Änderung wird das Anliegen der Vorschrift unkenntlich. Die BAGFW appelliert, die Formulierung zu ersetzen und ausdrücklich zu regeln, dass die unterschiedlichen Lebenslagen junger Menschen jeden Geschlechts zu berücksichtigen sind.

Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) e. V. vom 05.02.2021

Redaktion: Kerstin Boller

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